VI.I Fänge der Vergangenheit

10
Killian

Die Sonne war bereits hinter dem Horizont verschwunden, färbte den Himmel in ein feuriges Rot, bunt getupfte Wolkenschleier dazwischen. Nach dem Unterricht hatten sie sich im nahegelegenen Dorf Verazzano zusammengefunden, um an einem stillen Ort bei Wein und heißen Speisen ihr weiteres Vorgehen zu besprechen. Von den Wänden der dunklen Kneipe blätterte der Putz ab, darunter zeichnete sich erdfarbener Backstein ab. Es roch nach verbranntem Holz und Brot. Die Tische aus Eichenholz waren vom jahrelangen Gebrauch gezeichnet. Verblasste Narben in der Maserung, die vergessene Geschichten erzählten. Die durchgesessenen Stühle und Bänke wirkten unbequem, waren jedoch voll besetzt. Klirrende Gläser, Gelächter und das tiefe Summen vieler Gespräche erfüllten den Raum, begleitet von dem Knistern und Prasseln eines Kaminfeuers, während sich die Gruppe junger Hexen unter Killians Führung unauffällig unter die Gäste mischte.

Die schummrige Ecke, in die sie sich setzten, wurde halb von gestapelten Weinfässern und der Rücklehne einer Bank des Nachbartisches verdeckt. Es gab keinen Ort in der Gegend, der mehr Verschwiegenheit ausstrahlte.

»Sind alle anwesend?«, begann Killian das längst fällige Gespräch mit einer rhetorischen Frage. Er hatte seine Arme vor sich auf dem Tisch verschränkt und lehnte sich seinen Freunden entgegen, um in verschwörerischer Lautstärke sprechen zu können. Neben ihm hatten seine beiden besten Freunde Mervyn und Jowna Platz genommen.

Sein Blick wanderte die Gesichter ihrer kleinen Gruppe entlang. Rhydian strahlte vor Begeisterung, Jownas jüngere Schwester Asteria lächelte gutgelaunt, nur Arian hatte eine unleserliche Miene aufgesetzt. Ob er ähnlich aufgeregt wie der Rest seiner Freunde war? Die meisten hatte Killian über die Jahre im Unterricht kennengelernt, nur Arian bildete die Ausnahme, da sie tatsächlich kein einziges Fach jemals parallel gewählt hatten. Stattdessen teilten sie sich, seit er das Lyzeum besuchte, ein Zimmer in der Herberge zusammen.

»Ich habe unsere Studiengruppe offiziell beantragt, damit wir auch in diesem Jahr gemeinsam lernen können, damit wir auch in diesem Jahr unser Geburtsrecht ergründen können.«

Über Asterias Gesichtszüge sah er Verunsicherung huschen, auch Jowna wirkte nun irritiert. Killian hatte mit ähnlichen Reaktionen gerechnet. Bis auf Mervyn und Rhydian hatte er noch niemandem aus ihrer Gruppe erzählt, dass er gravierende Änderungen in ihrem weiteren Vorgehen geplant hatte.

»Sicherlich fragt ihr euch, eine Arbeitsgemeinschaft der... anderen Künste an einer staatlichen Lehranstalt, unter der Nase unserer syndikatsnahen Lehrer und Mitschüler?« Nun konnte er nicht verhindern, dass sich seine Mundwinkel siegessicher hoben. »Ich möchte euch alle herzlich Willkommen heißen zur neuen Studiengruppe Zauberistik der alten Walachei.« Feierlich breitete er seine Arme aus, während er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte, um seine Worte wirken zu lassen.

»Was?«, konnte Arian seine Verblüffung nicht verbergen. »Heißt das, wir üben keine schwarze Magie mehr?«

Asteria rammte ihm mit großen Augen den Ellenbogen in die Seite. »Nicht hier«, zischte sie.

»Das ist so genial«, stieß Rhydian aus. »Wir kriegen ein Klassenzimmer für unsere Arbeitsgemeinschaft gestellt, ganz offiziell und ausgerechnet das Syndikat, die geschworenen Bekämpfer der dunklen Künste und alten Traditionen, wird uns seine Erlaubnis dafür aussprechen. Wie immer brillant.«

Sofort hob Killian seine Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. »Es ist nicht ungefährlich. Wie ich erfahren habe, kann es vorkommen, dass Lehrer die Arbeitsgemeinschaften gelegentlich inspizieren. Das bedeutet, wir müssen sie davon überzeugen, dass wir alle kleine, harmlose Schüler sind, die sich für Zauberistik in Rumänien interessieren.«

Sie warfen sich alle vielsagende Blicke zu, dann richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf Killian zurück. In ihren Gesichtern starrte ihm Entschlossenheit und Tatendrang entgegen.

»Entschuldige«, warf Arian sichtlich irritiert ein. »Aber was ist Zauberistik?«

»Idiot«, hörte Killian neben sich Mervyn wispern und musste sich ein Schmunzeln verkneifen.

Mit gespielter Ernsthaftigkeit nickte er Arian zu, um nicht den Eindruck zu erwecken, er würde ihn auslachen. »Natürlich können wir kein Interesse an dem Thema vortäuschen, wenn wir gar nicht verstehen, worum es dabei geht. Danke dir also für deine Nachfrage! Als eines der trockensten und kompliziertesten wissenschaftlichen Fachgebiete, beschäftigt sich die Zauberistik mit der Magietheorie hinter Zaubern, um es einfach zu erklären. Das heißt, mit linguistischen und symbolischen Elementen, der Bedeutung von Lauten, Gesten und Artefakten, aber auch der Historie.« Ein schiefes Lächeln zeichnete sich auf Killians Lippen ab, als er bemerkte, wie Asteria und Jowna ihre Augenbrauen synchron in die Höhe zogen und dabei so auffällig hilflos aussahen, dass sie als Spiegelbild voneinander hätten durchgehen können.

»Keine Sorge«, fuhr Killian fort. »Wir beschäftigen uns im Rahmen unserer Studiengruppe nur mit der geschichtlichen Entstehung und Entwicklung verschiedener Zauber. Niemand wird davon überfordert sein, das verspreche ich.«

Rhydian verschränkte die Arme vor der Brust. »Es ist am Ende des Tages auch nur ein Vorwand.«

»Ganz richtig. Dazu interessiert mich einmal, wer von euch Geschichte denn mindestens im Rang eines Adepts besucht?« Da alle Fächer nach Erfahrungsstufen unterrichtet wurden, hatte Killian beschlossen, dass er bei der Gründung ihrer Arbeitsgemeinschaft nur jene Freunde offiziell dabei haben wollte, die den Lehrern auch ein glaubwürdiges Niveau vorweisen konnten. Bis auf Arian hoben alle unauffällig ihre Hände. »Meines Wissens nach werden wir alle in Verwünschungen unterrichtet, das passt. Wer hat Runenlehre angewählt?« Jowna ließ ihren Arm sinken. Killian nickte. »Nichts für ungut, ihr Beiden, aber ich denke, direkt beim ersten Treffen solltet ihr noch nicht dabei sein. Es würde euch wohl niemand abnehmen, dass ihr plötzlich Interesse an diesem Thema habt.«

Ein Schmunzeln schlich sich auf Jownas Lippen. »Ich muss die Wochen ohnehin noch einiges für meinen Zirkel erledigen. Deine Entscheidung kommt mir da gelegen.«

»Ich habe etwas für euch vorbereitet«, fuhr Killian fort. Er zog einen Stapel Papier und zwei Lehrbücher aus seiner Ledertasche, die er vor ihnen auf dem Tisch ausbreitete. »Lest euch zu dem Thema ein. Ihr benötigt Vorwissen, sollte doch einmal ein Lehrer beschließen, unserer Stunde beizuwohnen. Ich habe eine Art Diskussionsrunde ausgearbeitet, auf die wir im Zweifelsfall immer umschwenken können müssen.«

Asteria stöhnte auf. »Das klingt na–«

Plötzlich wurden sie von einem Kellner unterbrochen. »Was darf ich den Damen und Herren zu trinken bringen?«, fragte er sichtlich schlecht gelaunt. Auf seiner Schulter saß ein etwa Daumen-großes, unförmiges Männchen mit gräulich langem Bart, das eine Goldmünze umklammert hielt.

Jowna, die genau neben der Bedienung saß, lehnte sich dem Männchen entgegen. Ihre Augen glänzten im Lichtschein. Als sie ihre Hand in seine Richtung bewegte, streckte die eigenartige Kreatur ihr seine blaue Zunge raus, dann sprang es in die schützende Brusttasche des Kellners.

Killian musste sich ein Schmunzeln verkneifen.

Nachdem sie alle ihre Bestellung aufgegeben hatten, trommelte Jowna aufgeregt mit den Fingern auf ihrem Stuhl. »Hast du das Klabauterwesen gesehen?«, flüsterte sie Killian zu.

Er schenkte ihr ein amüsiertes Lächeln, auch wenn er sich wieder einmal fragte, woher die Begeisterung seiner besten Freundin für allerlei mögliche Geschöpfe kam.

»Müssen wir das wirklich alles lernen?« Asteria hielt eines der Bücher in der Hand, das er mitgebracht hatte und blätterte durch die vergilbten Seiten. »Wir haben doch schon so genug mit unseren Kursen und im Zirkel zutun.«

»Bitte«, mischte sich Rhydian ein. »Natürlich können wir unsere Arbeitsgemeinschaft auch ohne jegliche Vorbereitung abhalten, damit wir wie diese Volltrottel vor dem Sommer enden. Nur zu.«

Einige Augenblicke traute sich niemand, das Wort zu erheben.

»Er hat recht«, sagte Killian. »Was wir jetzt an Vorarbeit reinstecken, wird uns später doppelte Ernte bringen.«

»Du kannst dich auf uns verlassen.« Rhydian lächelte grimmig. »Wir sind Silurer. Als würden wir vor ein wenig Aufwand den Schwanz einziehen.«

Jowna nickte. »Außerdem ist es nur für die Anfangszeit, Leute.«

Auch wenn Killian wusste, dass niemand besonders glücklich darüber sein würde, musste er diesbezüglich bei ihrem ersten, richtigen Treffen eine Ansage machen. Doch vorerst ließ er sie in ihrem Glauben. Er hatte sich einen Plan überlegt, wie sie den eigentlichen Hintergrund ihrer Gruppe verschleiern konnten, sodass auch in Zukunft niemand erfahren würde, was sie in ihrer Arbeitsgemeinschaft trieben. Nach außen hin mussten sie wie ungefährliche Schüler aussehen, die übereifrig ihren Studien nachgingen.

»Was habt ihr morgen in der ersten Stunde?«, fragte Mervyn in die Runde.

»Kunst der Morphologie«, erwiderte Rhydian gutgelaunt.

Asteria schnitt eine Grimasse, ehe sie »Zauberchemie« antwortete.

In Mervyns sturmgraue Augen trat ein überlegenes Funkeln, das seinem Gesicht einen herablassenden Ausdruck verlieh. Er spitzte seine Lippen, doch das Zucken seiner Mundwinkel konnte er kaum verbergen. Mit der Hand fuhr er sich durch sein akkurat frisiertes, rotblondes Haar. »Ein kompliziertes Fach.« Er lächelte schief. »Nur die Wenigsten verstehen die theoretischen Grundlagen hinter dem Brauen von Elixieren.« Das er einer dieser Gesegneten war, schwang ungesagt mit.

Eine Frau, die kaum älter als Rhydian sein konnte, ließ ein Tablet auf ihren Tisch schweben. Ihr Lächeln war einnehmend. Sie stellte zwei Gläser, in der exotisch bunte Flüssigkeiten ähnlich wie in einer Lavalampe umeinander flossen, vor Asteria und Jowna ab. Die beiden Geschwister bedankten sich, ehe sie miteinander anstießen. Rhydian, Mervyn und Arian bekamen rustikale Krüge vorgesetzt, um deren Henkel und bis in das Getränk hinein sich eine Pflanze mit rötlich spitzen Blättern rankte.

»Für die tapferen Männer, die sich unserem feurig scharfen Schwarzbier stellen wollen«, scherzte die Bedienung und warf den Jungen ein verschmitztes Grinsen zu. Ihr Blick blieb einen Wimpernschlag lang an Rhydian hängen. Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr, zwinkerte ihrer Runde noch zu, dann verabschiedete sie sich mit einem »Zum Wohle!«.

Rhydian verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sein Gesicht zierte ein breites Grinsen, während er der jungen Frau hinterher sah, bis sie hinter einer Schwingtür in die Küche verschwand.

Killian senkte seinen Blick auf die dunkelblaue Tasse vor ihm auf dem Tisch. Daneben lag ein schokoladenfarbener Kaffeetaucher in Form eines Karpfens, der hilflos mit dem Schwanz zuckte, um aus dem Trockenen zu kommen. Einige Sekunden starrte er den Fisch nur an, beobachtete seinen Kampf auf dem glatt polierten Holz. Es war nur verzaubertes Kaffeepulver, doch seine Bewegungen waren so lebensecht, dass Killian fasziniert den Kopf schräglegte. Schließlich erbarmte er sich und ließ den Kaffeetaucher in seine Tasse gleiten, wo er vergnügt durch die weiße Flüssigkeit seine Kreise zog. Nach dem der Karpfen sich aufgelöst hatte und vor Killian nun ein betörend duftender schwarzer Kaffee stand, nahm er einen ersten Schluck. 

»Wisst ihr was?«, warf Rhydian viel zu gut gelaunt ein. »Ich freue mich schon richtig auf dieses Jahr.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top