II.III Von dunklen Künsten
5
Killian
»Mein neuer Assistent...« Killian vermutete, dass der Lehrer seinen Namen genannt hatte, doch da er die Sprache der Mondscheinwesen nicht verstand, hatte er nur ein glockenhelles Klingeln von Amuigh vernommen. »Keine Sorge, meine Damen und Herren. Auch wenn manche von ihnen die Mondfee für ein niedliches, kleines Geschöpf halten mögen«, dabei warf er dem Mädchen, das vor Schreck aufgeschrien hatte, einen intensiven Blick zu, »das ist sie nicht. Ihr Speichel ist ätzend, was selbstredend für diejenigen unter euch problematisch wird, die es schaffen, selbst dieses eigentlich friedfertige Wesen zu provozieren.«
»Irgendwie finde ich es niedlich«, wisperte Jowna. Ihr eigenes Vorhaben, während der Stunde vorbildlich und aufmerksam zu sein, schien sich beim Anblick des Mondscheinwesens in Luft aufgelöst zu haben. »Guck mal wie seine Antennenohren beim Laufen wackeln.«
Mervyn stöhnte demonstrativ auf. »Nur du kannst solche Monster süß finden.«
»Wer einen Blick auf die Kursziele geworfen hat«, fuhr Meister Amuigh mit schneidender Stimme fort, »wird feststellen, dass Sie sich die nächsten Stunden vermehrt mit den Flüchen auseinandersetzen. Wer von ihnen kann mir das Kapitel des Lehrbuches dazu zusammenfassen?«
Zwar hatten sie alle sich im Rahmen des Aufsatzes mit den Sonderklassen Flüche, Rituale und Litaneien beschäftigen müssen, doch kaum jemand schien das vertiefende Kapitel im Lehrbuch des Syndikats dazu gelesen zu haben. Aus den Augenwinkeln erkannte Killian, dass Mafalda ansetzte, sich zu melden, weshalb er seine Hand ruckartig nach oben hob, um ihr zuvor zu kommen.
»Ja?«, rief Amuigh ihn auf.
»Killian Conello«, stellte er sich vor, obwohl er wusste, dass der Lehrer ihn durch seine Funktion als Heimvorstand der Herberge kannte. »Flüche werden vom Autor als Zauber dunkler Künste definiert, unabhängig davon welcher Klasse der Magie sie zugeordnet werden. Also ob sie wie Verwünschungen auf andere Objekte oder wie Verzauberungen auf den Anwender selbst wirken. Dies ist ein Merkmal der gesonderten Klassifizierungen«, nahm er Bezug zu ihrer Ausarbeitung. »Sie sind klassenübergreifend und werden stattdessen anhand anderer Merkmale kategorisiert. Er geht dabei näher auf die Hintergründe zu schwarzer Magie, also Flüchen ein und fasst diese als bösartige Schadenszauber zusammen. Meiner Meinung nach ist das eine irreführende Verallgemeinerung. So gibt es auch schwarzmagische Heilzauber«, schnell setzte er ein »Habe ich zumindest gelesen!« hinterher. »Diese zählen auch als Fluch, obwohl sie keine bösartigen Schadenszauber darstellen. Die Definition des Autors scheint demnach lückenhaft, was sich so auch mit anderen Quellen deckt.«
Bei seinen nächsten Worten achtete Killian darauf, nicht zu euphorisch, gar leidenschaftlich zu klingen. »In einem anderen Lehrbuch, Die Grausamkeiten der verbotenen Magie, wird erläutert, dass jede Hexe eine Energie in sich trägt, die sie willentlich formen und einsetzen kann. Oder zumindest lernt sie es mit der Zeit. Dunkle Magie jedoch braucht mehr, sie zehrt von uns. Blut, Knochen, Gewebe. Wenn wir sie anwenden, treten unsere Energiequelle und Seele in Kontakt, was ein überwältigendes Rauschgefühl auslöst.«
Bevor er weitersprach, nur für einen Wimpernschlag lang, versuchte er seinen stark klopfenden Herzschlag zu beruhigen. Wann immer er über die verbotenen Künste nachdachte, erfasste ein seltsames Hochgefühl seinen Körper. Er atmete bedächtig ein und aus. »Es verleitet den Anwender dazu, immer mehr dunkle Magie wirken zu wollen, bis nichts mehr von ihm übrig bleibt. Aus diesem Grund«, Killian widerstand dem Impuls, bei seinen nächsten Worten die Augen zu verdrehen, »ist es nicht selten, dass Schwarzmagier dem Wahnsinn verfallen.« Ein scheinheiliges Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab. »Ähnliche Definitionen lassen sich auch in Daxters Atlas der Magie und dem Manduglawa von 1756 nachlesen. Flüche«, kehrte er zum Ausgangspunkt zurück, »werden vom Autor abschließend als eine vielgestaltige, im stetigen Wandel befindliche Kunst beschrieben, deren Anwendung einem Dschinn in seiner Flasche gleicht. Sie verleiht uns immense Macht, aber sobald wir den Deckel heben, ist es kaum mehr möglich, sie wieder einzusperren.«
Amuigh bedachte ihn mit einem langen Blick. Sein Gesichtsausdruck schien eine Spur finsterer zu werden, doch als er schließlich »Ein sehr treffender Vergleich, Herr Conello« sagte, was für seine Verhältnisse ein ungewohntes, ja, beinahe schon überschwängliches Lob war, verwarf Killian sein ungutes Bauchgefühl wieder. »Die Verlockung der dunklen Künste sind in der Tat wie ein Flaschengeist. Sie fragen sich vielleicht, warum wir in Verwünschungen über Flüche sprechen, wo es doch einen eigenen Kurs dafür gibt, nämlich Fluchbrechen. Lasst euch nicht verwirren.« Der Lehrer schritt gemächlich den mittleren Gang entlang, während die knapp vierzig Schüler ihre Hälse reckten, um ihn nicht aus den Augen zu lassen. »Ich möchte behaupten, dass nur knapp ein Drittel der umgangssprachlichen Flüche, die ihr in Fluchbrechen kennenlernt, auch tatsächlich Flüche per Definition sind. Wie ich bereits erwähnte, die Quintessenz ist Hinterfragen und Kontrastieren.«
Schweigen senkte sich wie ein schwerer Vorhang über den Kurs. Alle sahen den Mann an, einige wissbegierig, andere verunsichert oder verständnislos, als würde sich die Bedeutung seiner zuletzt gefallenen Aussagen vollständig ihrem Geist verschließen.
Der Blick von Amuigh verdüsterte sich. »Warum schreibt niemand mit?«
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Die restliche Stunde erarbeiteten sie am Beispiel des Umbrăfluchs, welchen Einfluss schwarze Magie auf den Anwender und die damit verwünschten Objekte oder Lebewesen haben konnte. Killian hörte zum ersten Mal von diesem Zauber, der aus der rumänischen Provinz Ardeal stammte – bei den Menschen auch als Transsilvanien bekannt. Er trug eine Mitschuld an den zahlreichen, mit der mythologischen Figur des Vampir verknüpften Legenden, in denen die nebelverhangenen Wälder und düsteren Schlösser von undurchdringbaren Schatten eingehüllt wurden. Der Fluch diente dem damaligen Hexenzirkel aus deutschen Siedlern dazu, sich vor den Menschen, jedoch besonders den Verdammten zu verbergen, und hatte spätestens mit dem Werk Dracula von Bram Stoker die Region unwiderruflich mit den blutrünstigen Kreaturen verbunden.
»Wer von ihnen kann mir noch einmal zusammenfassen, in welcher Verbindung die Verdammten und Vampire durch den Umbrăfluch stehen?«, durchschnitt Meister Amuigh die Stille, die eingekehrt war, als sie in den letzten Minuten begonnen hatten, das heutige Unterrichtsthema von der Tafel in ihre Hefte zu übertragen. Nur das Kratzen der Federhalter und Stifte auf Papier war zu hören gewesen.
Mafaldas Arm schoss in die Höhe, zögerlich zeigte auch Killian auf. Der Blick des Lehrers pendelte zwischen ihnen beiden hin und her, dann, und es schien, als würde er es nur sehr wiederwillig tun, sagte Amuigh: »Fräulein Mafalda, ich höre.«
»Die Opfer, die in Ardeal aufgefunden wurden, waren keine blutleeren Menschen gewesen, sondern Hexen, deren Magie von den Verdammten ausgesaugt... oder eher niedergebrannt wurde, bis nur ein verkohlter Überrest zurückblieb, aus dem binnen Stunden bis Tagen ein weiterer ihrer Art gebären kann.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als sie hinterhersetzte: »Die Elemente der Wiedergeburt zu einer Art untotem Wesen und das unbändige Verlangen, die Lebensenergie zu rauben, nahmen Einzug in die Mystik der Menschen in Form von Vampiren. Mit dem Umbrăfluch, der einen dunklen Nebel aufziehen lässt, versuchten sich die Hexenzirkel vor den Monstern zu schützen.«
Manchmal erstaunte es Killian, dass es historische Ereignisse der Hexen bis in die Kultur der Menschen geschafft hatten und zu kunstvollen Sagen wurden, in deren Kern doch so viel Wahrheit lag. Ein zufriedenes Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus, das er hinter einer unbeeindruckten Maske zu verstecken versuchte. Mafalda hatte einen wichtigen Punkt vergessen. Er hob seine Hand.
Meister Amuigh bedachte ihn erneut mit einem auffällig langen Blick, dann nickte er ihm zu.
»Ein weiterer Zusammenhang, den Mafalda außer Acht ließ, ist das von den deutschen Siedlerhexen eingebrachte Wort Verdammter. Es hat sprachliche Ähnlichkeiten zum rumänischen Adjektiv fermecat, das übersetzt verwunschen heißt, und zum türkischen Begriff kırmızı, das rot bedeutet. Es ist anzunehmen, dass die Einheimischen die Angst der Siedler vor den Verdammten mit eben jenen Wörtern ihrer eigenen Sprache in Verbindung brachten. Der Begriff Vampir könnte sich dabei aus einer verschleppten Überlieferung und dem mündlichen Weitertragen der Termini entwickelt haben.«
»Mit diesen beiden korrekten Antworten werde ich Sie nun entlassen«, beendete der Mann den Unterricht. Da er sich über die Jahre den Ruf der strengsten Lehrkraft am Murchadha erarbeitet hatte, packten alle Hexen ihre Taschen in einer solchen Windeseile zusammen, dass kaum zwei Minuten später bereits alle Tischreihen in Leere gähnten.
Killian störte sich nicht daran. Im Gegenteil, er hatte absichtlich noch die letzten Zeilen des Merktextes aus seinem Lehrbuch in sein Notizheft übertragen und sich beim Einpacken besonders viel Zeit gelassen. Jowna wippte unruhig auf ihren Fußballen auf und ab, Mervyn hatte sich bereits in der Flut der anderen aus dem Klassenzimmer gestohlen.
»Du kannst schon vorgehen, meine Liebe«, sagte Killian nachdrücklich. Es hatte nicht nach einem Vorschlag geklungen.
Jowna verstand sofort, warf ihm noch einen fragenden Blick zu, verschwand dann jedoch mit wehend hellbraunem Haar hinaus auf die große Wiese.
»Herr Conello«, sagte Meister Amuigh, als er von dem Stapel Aufsätze hochblickte, dessen obersten er wohl zu lesen begonnen hatte. Killian entdeckte seinen Namen am oberen Rand. Zu seinem Missfallen konnte er an den ausdruckslosen Gesichtszügen seines Lehrers nicht ablesen, wie er über seinen Text dachte. »Was machen Sie noch hier?«
Gelassen griff Killian nach seiner Umhängetasche und schulterte diese. Er hatte sich schon vor Unterrichtsbeginn Gedanken gemacht, wie er sein Vorhaben bezüglich ihrer kleinen Runde der dunklen Künste am erfolgversprechendsten umsetzen konnte. Natürlich war er davon ausgegangen, dass Gelehrte Amarez den Unterricht abhalten würde, doch er hatte beschlossen, dass es kaum einen Unterschied machte – die Lehrerin war ihm schon so wohlgesonnen genug, wodurch er im Zweifelsfall nichts zu befürchten hätte. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem eifrigen Lächeln.
»Ich strebe eine Karriere als Zauberist an«, begann er das Gespräch mit einer Lüge. Amuigh schien trotz seines eigentlichen Fachgebietes Okkultik eine Schwäche für Verwünschungen zu haben, immerhin übernahm er stets die Vertretungen für diesen Kurs. Er hoffte, ihn damit für sich gewinnen zu können.
»Tun Sie das?«, fragte sein Lehrer, während sein Blick im offensichtlichen Desinteresse zu den Ausarbeitungen zurückglitt.
»Besonders die historischen Herleitungen von Zaubern haben es mir angetan, da auch Geschichte zu einem meiner besten Fächer gehört. Ich fand die heutige Stunde daher sehr interessant, Meister Amuigh.«
»Fanden Sie das?« Er neigte sein Gesicht etwas nach vorn, doch noch immer lag seine Aufmerksamkeit demonstrativ auf der eingesammelten Hausaufgabe.
»Bezüglich meines Karrierewunsches würde ich mich gerne außerhalb des Unterrichts tiefgehender mit der Historie der alten Walachei beschäftigen. Viele interessante Verwünschungen haben dort ihren Ursprung.«
Der Mann atmete tief ein, ehe er antwortete: »Davon möchte ich Sie gewiss nicht abhalten, Herr Conello.«
Killians Lächeln vertiefte sich. Er fasste sich ans Herz, um seinen nächsten Worten mehr Bedeutung zu verleihen. »Ich fände es bedauerlich, wenn nur ich an diesem Wissen teilhaben würde. Ihr Leitsatz Hinterfragen und Kontrastieren hat mir sehr imponiert. Wie ließe er sich besser umsetzen, wenn nicht in einer Studiengruppe?«
»Worauf zielen sie ab?«, fragte Amuigh nun direkt. Der Mann richtete sich zu seiner vollen Größe auf, ehe er mit ausdruckslosem Blick auf ihn nieder sah, als würde sich ihm der Sinn des Gespräches nicht erschließen.
»Ich möchte Sie bitten, meinen Antrag zur Gründung einer Arbeitsgemeinschaft an Gelehrte Amarez weiterzugeben. Wie ich erfahren habe, ist Sie die dafür zuständige Lehrkraft«, spielte er seine Karten offen aus. »Gerne würde ich mich mit meinen Mitschülern zusammen näher mit den Zaubern und Sagen in der Walachei auseinandersetzen, da diese im Geschichtskurs und in unseren Zirkeln nicht näher behandelt werden. Viele der Texte sind jedoch in alten Runen überliefert, deren Bedeutungen nicht immer deutlich hervorgehen, weshalb hier Diskussionen im Rahmen einer Studiengruppe nützlich wären.«
»Nun, wenn Sie tatsächlich darauf bestehen, werde ich ihren Antrag wohl ganz der Vorschrift nach an die zuständige Kollegin weiterleiten. Das wäre alles, Herr Conello?«
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