II.II Von dunklen Künsten
4
Killian
Auf dem Weg zum Gebäude für Verwünschungen verabschiedete sich Rhydian in die Bibliothek, wo er sich auf seine erste Unterrichtsstunde nach dem Mittag vorbereiten wollte.
Killian mochte die Bibliothek. Die deckenhohen, engen Regalreihen und die alten Stoffsessel inmitten vom Duft nach Staub und altem Pergament luden dazu ein, sich in den Seiten der hunderten von Büchern zu verlieren. Das Murchadha beherbergte direkt nach der Bibliothek am Piazza de Magus eine der größten Büchereien Europas.
Die dunkle Flügeltür fiel hinter Rhydian mit einem Klicken ins Schloss. Killian sah ihm mit einem Anflug von Neid hinterher. So manche Abende hatte er auf der Empore verbracht, gelegentlich sogar ganze Wochenenden, in denen er nur zu den Mahlzeiten die Abteilung für Geschichte und Runenlehre verlassen hatte. Manchmal hatte er sich an die Balustrade gestellt, neben die kleinen Arbeitsplätze, und auf die dutzenden Tischreihen hinabgesehen, an denen die Schüler ihre Ausarbeitungen schrieben oder für die Prüfungen lernten und die von weiteren langen Gängen an Büchern eingerahmt wurden. Ein warmes Gefühl breitete sich in seinem Inneren aus, erfasste ihn wie eine kleine Welle Glücks.
In der Bibliothek war es ruhig. Anders als bei ihm Zuhause.
»Wir haben heute Vertretungsunterricht bei Meister Amuigh«, durchbrach Mervyn ihr Schweigen.
Sie liefen durch das Tor der kleinen Burg hinaus auf die Wiese. Neben ihnen ragten die Bäume eines Waldes empor. Ihre tiefgrünen Wipfel wogen sich im Wind. Durch die Baumstämme hinweg waren die Hütten für Naturlehre zu erkennen, an denen einige jüngere Hexen auf den Unterrichtsbeginn warteten. Ihr Lachen und Kreischen drang zu ihnen hinüber.
»Wo nimmst du nur immer deine Informationen her?«, warf Killian sarkastisch ein. Auf seinen Lippen zeichnete sich ein Grinsen ab.
Sein bester Freund schnaubte nur. Er strich sich seine im Licht rötlich schimmernden Haare glatt nach hinten, richtete die schwarze Krawatte an seinem Hals und wie er da den Sandweg entlang schritt, erinnerte er Killian an einen Aristokraten aus vergangenen Zeiten. »Ich freue mich schon auf den Unterricht. Amuigh ist zwar streng, aber sein magisches Wissen ist beeindruckend.« Mervyn hielt ihn plötzlich am Arm fest. »Sag mal, eine ganz andere Frage. Hättest du Lust, Disablót bei meiner Familie zu verbringen? Mein Vater hat angeboten, dass ich gerne einen Gast mitbringen darf.«
Killian musterte Mervyn aus den Augenwinkeln. Disablót war ein altkeltisches Fest, das vom Syndikat abgeschafft worden war, wie vieles der keltischen Kultur. Es wurde in der Nacht auf den dreiundzwanzigsten September gefeiert, um der Wiedergeburt ihrer Magie zu gedenken, den verstorbenen Seelen. Es war das einzig abgeschaffte Fest, das auch der Orden noch feierte, da es nicht mit dunkler Magie in Verbindung stand. Ein Schatten senkte sich über Killians Gesicht. Sein Vater würde nicht begeistert sein, wenn er ihn bat, das Wochenende bei den Owains verbringen zu können. Er hasste die Familie, da er sie schon seit Jahren als Mitglieder der Morrígna verdächtigte, ohne es ihnen jedoch stichfest nachweisen zu können. Wenn er nur wüsste, wie richtig er damit liegt, dachte Killian verschlagen.
»Sehr gerne«, erwiderte er schließlich, als sie dem Sandweg weiter folgten. Ihm würde schon etwas einfallen, um seinen Vater zu überzeugen. »Es wäre mir eine Ehre, die Familie meines besten Freundes kennenzulernen.«
Die Tür des kleinen Backsteinhauses, in dem sie Unterricht hatten, stand bereits offen. Gelbe und violette Schmetterlinge flatterten am Giebel vorbei der Morgensonne entgegen. »Nach dir«, sagte Mervyn und deutete eine Verbeugung an.
Ob dieser spöttischen Geste konnte Killian nur die Augen rollen, auch wenn sich zum ersten Mal seit langem ein ehrliches Lächeln, das weder herablassend noch provozierend gemeint war, auf seine Lippen schlich. Nach einem nicht enden wollenden Sommer voll lauter Idealisten, die ihr Herz auf der Zunge trugen und überzeugt davon waren, dass alle so wie sie sein mussten: vorwitzig, stürmisch und zum Himmelschreien moralisch überlegen, waren ihm Mervyns Spitzfindigkeiten mehr als lieb.
Lautes Stimmengewirr und schrilles Gekicher begrüßte sie, als sie sich in der zweiten Tischreihe neben ihren Freunden niederließen. Killian warf Mervyn einen vielsagenden Blick zu.
»Ihr Beiden!«, begrüßte Jowna sie lächelnd. »Wie war euer Sommer? Ihr habt nicht viel von euch hören lassen.«
Als Killian sie musterte, fiel ihm auf, dass sie sich ihr Haar geschnitten hatte. Es reicht ihr nur noch bis zu den Schultern, auch hatte sich ihr Gesicht verändert. Die Lippen sahen voller aus, ihre hellbraunen Augen funkelten frech. Die ganze Erscheinung seiner besten Freundin wirkte weiblicher als noch vor dem Sommer. »Tut mir leid, ich wurde... in Beschlag genommen.«
Ihre Blicke zuckten nach hinten, als ein Poltern erklang. Im eichenfarbenen Türrahmen stand ein hochgewachsener Mann, mit tieferen Falten als sein Alter erwarten ließ, der aus wachsamen, stahlgrauen Augen über ihre Bankreihen hinweg sah. In seinem Gesicht, meinte Killian, Missbilligung zu erkennen. Die vorderen Strähnen seines aschbraunen Haares hatte er nach hinten zu einem geflochtenen Zopf weggebunden, wodurch er an einen altkeltischen Krieger erinnerte.
»Guten Morgen«, donnerte seine Stimme durch das kleine Backsteinhaus. Sofort verebbten die Gespräche. Alle wandten ihre Köpfe zu dem gefürchteten Lehrer. Es waren noch zwei Minuten bis Unterrichtsbeginn, doch da jeder wusste, wie er es mit Disziplin hielt, saßen alle aufrecht und waren leise – oder zumindest das, was sie dafür hielten.
Er schritt durch den mittleren Gang auf die Tafel zu, dabei zauberte er mit einer kurzen Handbewegung die beiden bodentiefen Fenster der Giebelseite auf. Die Holzläden klapperten im Wind. Vögel zwitscherten und es roch nach Sommerregen. Als er sich zu ihnen umdrehte, wirkte sein Gesicht ausdruckslos und hart wie das einer Statue, der Tonfall trocken. »Sollte es ihnen entgangen sein, was mich bei ihrem Kurs nicht überraschen würde, ich bin nicht Gelehrte Amarez. Ah, ich sehe es ihnen an. Enttäuschung. Ich habe heute das unsagbare Vergnügen, sie vertretend unterrichten zu dürfen. Wie... bedauerlich.«
Die Tür öffnete sich abermals unter einem Quietschen und der Zwillingsbruder von Killians Cousine Gwynedd schob sich durch den Spalt. Bevor er gänzlich eingetreten war, schlug ihm ein lautes »Raus!« entgegen, das einige der Schüler zusammenzucken ließ. Er hatte die Tür so schnell vor seiner Nase wieder zugezogen, dass ein ohrenbetäubend lauter Knall nachhallte.
»Ich weiß natürlich nicht, wie meine hochgeschätzte Kollegin«, jedes Wort klang wie eine Beleidigung aus dem Mund des Lehrers, »es mit Pünktlichkeit bei ihnen hält. Sie alle wissen jedoch, dass ich solches Verhalten nicht dulde. Verstanden?«
Obwohl es vermutlich eine rhetorische Frage war, erklang unisono ein »Ja, Meister Amuigh«.
»Nun denn. Wer von ihnen hat sich das diesjährige Lehrbuch bereits angesehen?«, fragte er, während sein Blick über die Köpfe der Schüler fuhr, als suchte er nach jemandem, der sich daneben benahm. Die Hand von Mariette Mafalda schoss in die Höhe, einige weitere folgten zögerlich. Amuigh gab ein verächtliches Schnauben von sich. »Und wer von denen, die sich melden, kann mir das Einführungskapitel zusammenfassen?«
Bis auf Mafalda hatten alle ihre Arme wieder sinken lassen. Nachdem der Mann ihr widerwillig zunickte, erklärte sie in viel zu schnell gesprochenen Sätzen: »Unsere Magie wird klassischerweise in drei Klassen eingeteilt. Verwünschungen, Erlösungen und Verzauberungen. Verwünschungen richten sich auf ein anderes Lebewesen oder Objekt, im Unterschied dazu wirken Verzauberungen auf den Anwender selbst. Das ist eine der ersten Grundlagen, die wir am Lyzeum lernen.« Ihre Stimme wurde plötzlich unsicherer. »Der Autor erklärt, dass faktisch jedoch nicht zwischen Verwünschungen und Erlösungen differenziert werden kann. Beide wirken gleich, auch wenn letztere dazu dienen, eine Verwünschung aufzuheben oder abzublocken.«
Killian runzelte die Stirn. Er suchte in seiner Umhängetasche nach dem Lehrbuch und schlug das entsprechende Kapitel auf. Es reichte, den Text zu überfliegen, denn tatsächlich stand dort wortwörtlich, was Mafalda erzählt hatte.
»Ich bin zwiegespalten, ob ich den Text richtig verstanden habe, denn meiner Meinung nach sind beide Klassen zwei Seiten derselben Medaille. Genau darin liegt auch ihr greifbarer Unterschied. Eine Erlösung hat keinen Effekt, wenn sie nicht auf eine Verwünschung folgt, während es andersherum sehr wohl funktioniert.«
Stille breitete sich aus. Einige im Kurs sahen gespannt zwischen dem Mann und Mafalda hin und her. Dann passierte es. Der Hauch eines Lächelns zeichnetet sich auf den dünnen Lippen des Lehrers ab, was eiskalte Schauder über Killians Rücken hinabprickeln ließ. Der Gesichtsausdruck wirkte wölfisch. Doch so schnell, wie seine Mundwinkel nach oben gezuckt waren, hatte er seinen Mund wieder zu einer Linie zusammengepresst.
Er nickte. »Sehr gut, Fräulein...« – »Mariette Mafalda.« – »Ich verlange von ihnen nicht weniger, als dass Sie sich kritisch mit den Texten befassen, die Sie von dieser Schule vorgesetzt bekommen. Hinterfragt die persönlichen Standpunkte der Autoren, achtet darauf, euer Wissen aus verschiedenen Quellen zu beziehen. Nutzt Querverweise.«
Killian staunte.
»Dass ausgerechnet der Lehrer, der am wenigsten Diskussionen duldet, sagt, wir sollen alles hinterfragen...«, flüsterte Jowna ihm zu.
»Wenn ihr dies im Hinterkopf behaltet, anstatt euch wie beeinflussbare Dummköpfe zu verhalten, sollte es manchen von ihnen möglich sein, eine ausgezeichnete Hexe zu werden. Sie alle sitzen hier vor mir, weil Sie vor dem Sommer oder bereits einige Jahre zuvor den Rang eines Adept verliehen bekommen haben. Ihr könnt wahrlich stolz auf euch sein. Ihr habt geschafft, was selbst talentlosere Hexen vor euch erreicht haben. Trotz alledem sollte niemand von ihnen zu geringe Ansprüche an sich selbst stellen, vielleicht überraschen Sie mich auch.«
Meister Amuigh setzte eine Kunstpause, nur das leise Rieseln der Sanduhr auf dem Lehrpult war zu hören, dann fuhr er fort: »Schlagen Sie ihre Bücher auf Seite dreiundzwanzig auf. Gelehrte Amarez informierte mich darüber, dass Sie über den Sommer einen Aufsatz schreiben sollten. Ich werde diesen während des Lesens einsammeln lassen.«
»Habt ihr schon mitbekommen?« Jowna lehnte sich Killian und Mervyn verschwörerisch entgegen und fuhr leise fort: »Am schwarzen Brett wurden die Anmeldeformulare für einige interessante, neue Arbeitsgemeinschaften ausgehangen. Auch eine, die sich mit dem Bau eines Denkmals beschäftigt – ihr wisst schon, für die damaligen Opfer. Alexander Sturmwald wird das Projekt angeblich leiten.«
Mervyn zog scharf die Luft ein. »Tatsächlich? Er soll damals den Dienst als Wächter quittiert haben... nach der Brandnacht von Saint-Malo.«
Bei seinen Worten erinnerte sich Killian an die Bilder aus alten Zeitungen. Vor sechszehn Jahren, während des später niedergerungenen Putschversuchs der gefürchteten Sekte, war es überall in Europa zu gewaltsamen Ausschreitungen unter den Hexen gekommen, die schließlich zu einem der tragischsten Augenblicke des Syndikats geführt hatten und als Brandnacht von Saint-Malo in die Geschichtsbücher eingegangen waren.
Die Sekte hatte eine Kathedrale in dem kleinen Städtchen mit dem Nigrumignem belegt – dem verheerendsten Brandfluch, der den Hexen bekannt war. Das Feuer hatte binnen weniger Minuten auf Großteile der Altstadt übergegriffen. Selbst die Medien der Menschen hatten darüber berichtet, auch wenn ihnen das ganze Ausmaß des Brands nie hatte bewusst werden können. Die Kathedrale zählte zu einem der bedeutendsten Kulturgüter des Syndikats, da in ihr am elften April 1653 der Syndicus Unione Romana die Verfassung unterzeichnet hatte. Von diesem Tag an hielt der Senat darin seine Tagungen ab. Es waren damals nicht nur der Großmeister und dreiunddreißig Abgeordnete ums Leben gekommen, der gesamte Geschichtskurs eines Lehrers vom Murchadha war in dem zum Museum umgebauten Kellergewölbe durch das Flammenmeer eingeschlossen worden. Die Wächter hatten nicht mehr als ihre verkohlten, rußigen Überreste bergen können.
Außerdem bedeutete dieser Tag für Killian einen ganz persönlichen Verlust. Seine Großmutter war damals als eine der zuständigen Wächter in dem Feuer verbrannt. Er konnte sich nicht an sie erinnern, er war damals kaum älter als ein Jahr gewesen. Doch wann immer er andere Hexen mit ihren Großeltern sah, spürte er, dass er gerne die Chance erhalten hätte, sie kennenzulernen. Besonders, weil seine Mutter ihm früher oft erzählt hatte, dass er ihr recht ähnlich war. Nicht nur vom Aussehen, es war sein ruhiger, rationaler Charakter, der sie wohl an ihre eigene Mutter erinnert hatte.
Für einige Sekunden schloss Killian die Augen, dann setzte er eine kühle Maske auf. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass das Syndikat eine solche Arbeitsgemeinschaft zulässt. Als würden sie jemals diesem Kapitel unserer Geschichte gedenken wollen.«
»Warum so bitter?«, fragte Jowna.
»Fräulein Meagher!«, donnerte die Stimme des Lehrers durch den Raum. Killians beste Freundin riss ruckartig ihren Kopf nach vorn und starrte den hochgewachsenen Mann vor sich aus geweiteten Augen an. Er stützte sich auf ihrem Tisch ab, dann lehnte er sich ihr entgegen, bis nur wenige Zentimeter ihre Nasenspitzen voneinander trennten. Sein Gesicht ausdruckslos. »Haben Sie etwas zu meinem Unterricht beizutragen?«
Jowna blieb stocksteif auf ihrem Stuhl sitzen, kein einziger Muskel ihres Körpers rührte sich.
»Das dachte ich mir.« Meister Amuigh richtete sich wieder auf, dann kehrte er zur Tafel zurück. »Ich wiederhole: Legt eure Ausarbeitungen nun gesammelt an den Tischrand.«
Killian warf seiner Freundin einen fragenden Blick zu, aber offensichtlich hatte sie beschlossen, die restliche Stunde nicht weiter negativ auffallen zu wollen; denn sie ignorierte ihn. Ohne sich daran zu stören, suchte er schließlich in seiner Ledertasche nach dem Aufsatz, den er im Sommer gewissenhaft ausgearbeitet hatte. Es war nicht selten, dass seine Ausarbeitungen Überlänge hatten, doch die Wochen inmitten von Ordenssitzungen und nervtötenden Zirkeltreffen hatten dafür gesorgt, dass er knapp zwei Bögen Papier über das Ziel hinaus geschossen war. In solider Sonntagsschrift, was für seine pragmatischen Verhältnisse immerhin eine grundsätzliche Lesbarkeit bedeutete, hatte er verschiedenste Quellen zu einer rundum gelungenen Hausaufgabe zusammengetragen und gegeneinander gewichtet. Er war mehr als zufrieden. Es hatte ihm die perfekte Ausrede gegeben, sich regelmäßig in sein Zimmer zurückziehen zu können.
Plötzlich hörte er einen überraschten Schrei aus der ersten Reihe. Nora Mazzoni, die Nichte vom obersten Magister des Handelsmagistrat, hatte ihre Hand vor den Mund geschlagen. Erst konnte er nicht erkennen, was sie dermaßen in Aufruhr versetzte, doch dann sah er über die dunklen Holzdielen ein ungewöhnlich winzig aussehendes Mondscheinwesen flitzen, hinter ihm her ein zunehmend dicker werdender Stapel an Ausarbeitungen schwebend. Es erklomm die Tischreihe, in der Mervyn, Jowna und er saßen, um auch ihre Aufsätze einzusammeln. Seine blassblaue Haut war von dunklen Adern durchzogen. Als Jowna ihren Kopf schräg legte, entblößte es rasiermesserscharfe Zähne, mit denen es ihnen problemlos die Finger hätte durchtrennen können, als wären es Buttermöhren.
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