I.I Alte Erbstücke
1
Raban
Am Ende des langen Ganges, der aus unzähligen dicken und dünnen, abgegriffenen wie neuen Büchern bestand, lag auf einem hölzernen, beleuchteten Podest hinter bruchsicherem Glas das aufgeschlagene Werk La Collezione. Eine Sammlung aller bekannten Zauber vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, handgeschrieben von Milian N'Branáin. Einem Vorfahren seiner Familie. Die nachfolgenden Ausgaben, die alle fünf Jahre aktualisiert und vom Syndikat herausgegeben wurden, standen in einem deckenhohen Regal daneben fein säuberlich aufgereiht.
Raban beobachtete eine junge Hexe, die ihre Hand ausstreckte und eines der dicken Bücher anvisierte. Ihre roten Locken wirbelten auf, als das neuste Exemplar aus mehreren Metern Höhe auf sie zu flog. Staub tanzte funkelnd durch den Lichtschein.
Sein Blick glitt wieder auf die Zeilen und Abbildungen des aufgeschlagenen Heftes vor ihm auf dem Tisch. Er suchte nach Zaubern für die Beerdigung seiner Großmutter, mit deren Hilfe er ihre Urne beisetzen und einen magischen Schutzkreis um ihr Grab erschaffen wollte. Es sollte ihr den Übergang in die Anderswelt erleichtern. Niemand wusste, was nach dem Tod einer Hexe tatsächlich geschah, doch die Vorstellung, dass ihre Magie wiedergeboren würde, sobald ihre Seele die andere Seite erreicht hatte, gefiel ihm.
Bei dem Gedanken an die kommenden Stunden presste er seine Lippen fest zusammen, da er innerlich das Gefühl hatte, in Sturm und Eisregen zu stehen. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Er konnte kaum schlucken, so sehr schnürte dieses merkwürdige Gefühl des Abschieds ihm die Kehle zu... dabei waren schon einige Wochen ins Land gezogen.
Vom Marktplatz aus war das tiefe Läuten der Glocken zu hören. In einer halben Stunde würde er sich mit seinem Cousin am Brunnen auf dem Piazza de Magus treffen, um zum verwaisten Anwesen seiner Familie zu reisen. Dort wollte er sie begraben. In ihrer Heimat.
»Noch zwei Bücher, dann habe ich alles«, sagte das Mädchen, das er beobachtet hatte. Ihre Stimme klang nach leiser Brandung, wie Wellenrauschen, sanft, doch unaufhaltsam. Sie wandte sich in seine Richtung und starrte zu einer anderen Hexe, die halb hinter einem Regal im Dunkeln verborgen stand. »Diesmal wirklich.«
»Warum kaufst du sie dir eigentlich nicht? Du weißt, dass wir das Collezione bis an unser Lebensende brauchen werden, Gwynedd.«
»Fast alle leihen es sich hier aus«, erwiderte sie.
Gwynedd hatte die andere Hexe sie genannt. Ein schöner Name, dachte Raban. Der hätte seiner Großmutter gefallen. Gälische Namen waren nur selten anzutreffen, seit die keltischen Traditionen über die Jahrhunderte hinweg kaum noch an Stellenwert in der Gesellschaft hatten – sehr zum Missfallen seiner Familie.
»Außerdem«, fuhr sie fort, »hat nicht jeder eine reiche und berühmte Großmutter, die einem alle Bücher finanziert.«
Die andere Hexe lachte auf. Sie legte sich die Hand in den Nacken und zuckte ihre Schultern. »Uroma hat mir die neueste Auflage tatsächlich schon zu den Beltaine-Festtagen geschenkt, damit ich mir im Unterricht zu allem Notizen machen kann. Als wäre der Kräuterkoffer nicht teuer genug gewesen.«
Gwynedd legte das Buch in einen Korb, den sie ums Handgelenk trug und in dem sich bereits einiges befand, das Raban aus der Entfernung und im schwachen Lichtschein der Laternen nicht näher erkennen konnte.
Er senkte seinen Blick auf das Heft, versuchte, sich wieder auf den Text und die Runen zu konzentrieren, die ihm den Zauber für die magischen Schutzkreise erklären sollten. Doch die Worte schienen ineinander zu verschwimmen, ihre Bedeutung entglitt ihm. Die leisen Stimmen der beiden Mädchen näherten sich. Wie mechanisch beschloss er, das Taschenheft über die Begräbnistraditionen auszuleihen, da es alles enthielt, was sie für die Zeremonie brauchen würden. Hoffentlich wäre sein Cousin in der Lage, die komplizierten Verwünschungen zu zaubern, denn er selbst fühlte sich benommen, als würde das Gewicht der Welt auf seinen Schultern lasten. Nächte ohne Schlaf, ohne Ruhe, immer wieder quälten ihn dieselben Albträume. Bilder von ihr. Wie sie starb, der Schwarzen Seuche erlag. Ihr eingefallenes, aschgraues Gesicht verfolgte ihn. Ihr Husten. Eines Tages hatte sie einfach dagelegen und ausdruckslos an die Decke gestarrt, da war ihm bewusst geworden, dass es vorbei war. Noch immer spürte er eine merkwürdige Erleichterung, wenn er an die letzten Monate zurückdachte. Er hatte sich nur noch gewünscht, dass es endlich aufhörte, dass er nicht mehr mitansehen musste, wie die Krankheit sie innerlich aushöhlte. Ihr Tod war ihm wie eine Erlösung vorgekommen.
»Wolltest du nicht noch zu Gustavos Süßwarenhütte?«, riss Gwynedds warme, sorglose Stimme ihn aus seinen düsteren Erinnerungen.
Ihre so beiläufige, unschuldige Frage stand im scharfen Kontrast zu der Einsamkeit und den Vorwürfen, die ihn wochenlang gequält hatten. Er starrte sie an, während sie in Richtung der großen Sanduhr neben dem Bibliothekstresen deutete. Es war absurd. Sie bereitete sich mit ihrer Freundin auf den Unterricht nach der Sommerpause vor, während er hier über einer Taschenausgabe für Begräbnisse saß, in Erinnerungen an sein altes Leben gefangen. Ihre Realitäten konnten kaum weiter voneinander entfernt liegen.
Die beiden Mädchen waren wenige Schritte vor seinem Tisch stehen geblieben. »Du weißt, wie lang die Schlange immer ist«, setzte Gwynedd hinterher.
Ihre Freundin wiegte den Kopf, dabei pendelten bunte Strähnen und Perlenketten in ihren weißblonden Haaren hin und her. »Musst du denn noch viel besorgen?«
Gwynedd nickte, nachdem sie ihren Blick über einen zerknitterten Zettel schweifen ließ. »Ein paar Kräuter und irgendwelche komischen Samen, die wir in Fluchbrechen brauchen. Außerdem meinten die Ältesten, ich soll das Erste mitnehmen, das mir heute auf den linken Fuß fällt.« Sie lächelte schief. »Was auch immer das bedeuten soll.«
»Stimmt, diese blöde Aufgabe!«, stöhnte die blondhaarige Hexe auf. Sie warf ihren Kopf in den Nacken und ließ die Schultern hängen. »Die hätte ich glatt vergessen.«
»Das ist ja nichts neues, Pheline«, neckte Gwynedd mit einem schelmischen Funkeln in den Augen. »Sag mal... du magst mir nicht zufällig kandierte Mandelmäuse mitbringen?«
»Hab ich denn schon jemals keine gekauft?« Mit diesen Worten verabschiedete sich ihre Freundin aus der Bibliothek. Als ihr auffällig weißblonder Haarschopf hinter der schweren Flügeltür verschwunden war, ließ sich Gwynedd mit geschlossenen Augen gegen das Regal in ihrem Rücken sinken.
Ihre Haut war von unzähligen Sommersprossen übersät. Zwischen ihren Augenbrauen, quer über der Nase verlief eine breite Narbe, die Raban von weitem zunächst nicht erkannt hatte und sein Interesse auf sich zog. Was ihr wohl passiert war? Das Licht einer Laterne, die über ihr an der Regalreihe hing, tauchte ihr Gesicht in scharfe Schatten, die ihren Zügen die Sanftheit nahmen und stattdessen Strenge verliehen. Ihre Augenlider flatterten. Sekunden vergingen, dann straffte sie ihre Schultern, als hätte sie neue Kraft und Mut gewonnen, und lief auf den Bibliothekstresen zu. Raban folgte ihr.
Der Bibliothekar an der Ausleihe versuchte mit seiner gesamten Kraft, einen dicken Wälzer über den Tisch zu schieben. Er hatte seine kleinen Hände gegen den Einband gedrückt, während sein Körper fast waagerecht zum Boden war, doch das schwere Buch bewegte sich nur wenige Millimeter.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Gwynedd. Sie wartete keine Antwort ab, sondern zeichnete mit ihrer Hand einen Kreis in die Luft. Sommerlich gelbe und orangene Funken tanzten um ihre Finger. Das dicke Buch schlitterte quer über den Tisch und landete laut knallend in einem Metallwagen, während das Mondscheinwesen bäuchlings hinfiel. Ein verlegener Ausdruck huschte über das Gesicht des Mädchens. »Tut mir leid.«
Ein weiteres Mondscheinwesen mit faltigem Gesicht kletterte über den Rand des Tresens. Es hatte seine vier Arme in die Hüften gestemmt und ein aufgeregtes, glockenhelles Klingeln erklang, als es auf den jungen Bibliothekar einredete. Raban verstand nicht, was es sagte, doch die schwarzen Adern, die in sein blassblaues Gesicht getreten waren und seine Wangen tintenschwarz färbten, sowie der erhobene Zeigefinger sprachen für sich. Das jüngere Mondscheinwesen war wohl noch ein Bibliothekar in Ausbildung. Sein Körper sackte in sich zusammen und mit hängenden Schultern trottete es auf einen Hocker in der hinteren Ecke des Tisches zu.
Raban trat einen Schritt näher.
Das ältere Mondscheinwesen drehte sich zu Gwynedd um, seine winzige Hand erwartungsvoll in die Höhe gestreckt. Es bleckte seine rasiermesserscharfen Zähne zu einem gefährlichen Lächeln. Sie legte das Collezione, den Klassiker Die Grausamkeiten der verbotenen Magie, einige Ausgaben von Elixiere für Lehrlinge und ihren Bibliotheksausweis auf dem Tresen ab.
Der Bibliothekar notierte sich die Buchtitel und tippte schließlich mit dem Finger auf ihren Ausweis, eine hübsch verzierte Silbermünze, bis sich die Aufprägung der Magusbibliothek grün färbte.
Nachdem Gwynedd sich höflich bedankt hatte, griff sie nach dem Bücherstapel und drehte sich schwungvoll um. Raban spürte den Korb in ihrer linken Hand gegen seine Brust schlagen und sah in ihre schreckgeweiteten Augen. Für einen Wimpernschlag lang schien die Zeit still zu stehen. Kein Wort kam über ihre Lippen. Bunte Glasfiguren aus einem Hexenzimpern-Spiel rollten klirrend über die steinernen Fliesen bis vor seine Füße, als ihr der Korb aus der Hand glitt. Herb duftende Kräuterbündel und zwei Federhalter lagen auf dem Boden verteilt. Eine Flüssigkeit färbte den blassrosa Umhang des Mädchens schwarz.
»Entschuldige«, stammelte Gwynedd. Die glockenhellen Stimmen der Mondscheinwesen hallten aufgeregt durcheinander. Sie sammelte ihre Einkäufe eilig zusammen und warf ihm ein schüchternes Lächeln zu. Bevor er reagieren konnte, stürmte sie mit tiefroten Wangen aus der Bibliothek.
Raban sah ihr hinterher. Vorsichtig strich er über sein Hemd, dort, wo der Korb seine Brust getroffen hatte. Er schüttelte seinen Kopf. Als er das Heft über Begräbniszauber auf den Tresen legen wollte, fiel sein Blick auf seine Schuhe. Eine kleine Schachtel lag zwischen seinen Beinen. Auf dem schwarzen Karton war in filigranen, hellen Linien ein Wappen eingraviert. Drei Gargoyles, dämonenartige Wesen mit Fledermausschwingen, umrahmt von einem Zweig aus Sternmagnolien, dessen wunderschön weiße Blüten in vielen Heilritualen genutzt wurden. Die Gargoyles hielten einen Banner, auf dem der Familienname Mac Carthaigh in altgälischer Schrift stand.
Sein Herzschlag beschleunigte sich. Seine Großmutter hatte ihm alles über die Tafel der Boudica erzählt – ein mittelalterliches Siegesmal auf dem Berggipfel von Ben More vor der schottischen Küste, in das die letzten keltischen Zirkelfamilien eingraviert standen. Die Mac Carthaighs zählten wie auch seine Familie zu den letzten reinblütigen Hexen der keltischen Hochkultur. Dass er ausgerechnet in Italien, im geschäftigen Verona auf eine Hexe in seinem Alter traf, die eine solch bedeutende Herkunft vorwies, konnte kein Zufall sein.
Der immer aggressivere Klang von Glöckchen riss ihn aus seinen Gedanken. Das ältere Mondscheinwesen hatte seine vier Arme vor der Brust verschränkt. Die nachtschwarzen Augen funkelten vorwurfsvoll, sein Blick wanderte immer wieder zwischen Rabans Gesicht und dem Heft in seinen Händen hin und her.
»Entschuldigen Sie«, versuchte er es zu beschwichtigen, indem er seine Bibliotheksmünze und die Ausgabe zu den Begräbniszaubern auf den Tisch ablegte.
Während der Bibliothekar sich das Heft notierte, hob Raban den Deckel der Schachtel an. Auf einem himmelblauen Samtkissen lag ein silbernes Amulett, das aus fein strukturierten, rankenartigen Ornamenten bestand, die sich um etwas im Innern zu ranken schienen. Er entnahm den Anhänger behutsam der Schachtel und hielt ihn in den Schein einer Laterne neben der Ausleihe, um mehr erkennen zu können. Plötzlich! Schmerz. Er konnte nicht atmen, so allumfassend war das Gefühl, von Innen heraus zu verbrennen. Ein erstickter Laut entwich seinen Lippen. Jede Faser seines Körper schien zu schreien. Bedrohliche Schwärze zog vor seinem Blickfeld auf, als würde er durch einen Tunnel sehen, und drohte ihn zu übermannen.
Das Amulett fiel mit einem Scheppern zu Boden. Einen Wimpernschlag später klangen die Schmerzen ab, als wären sie nur ein böser Traum gewesen. Die beiden Mondscheinwesen hatten sich über den Rand des Tisches gebeugt und musterten ihn aus großen Augen. Helle Glockenklänge drangen in sein Ohr. Raban hatte nicht gemerkt, dass er auf die Knie gegangen war. Der Anhänger lag vor ihm auf den grauen Steinfliesen, die sich angenehm kühl unter seinen Fingern anfühlten.
Ein Klicken ertönte. Ein Geräusch, als würde jemand eine Spieluhr aufziehen, dann fingen die Ornamente an, sich zu bewegen. Sie lösten ihre kompakte Struktur und gaben die Sicht auf das Ziffernblatt einer Uhr frei, doch anstatt von Zahlen befanden sich seltsame Zeichen auf dem tiefblauen Grund, die er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Sie erinnerten ihn an alte Runenreihen, die schon seit Jahrhunderten ausgestorben waren.
Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis er sich traute, seine Hand nach dem Amulett auszustrecken. Vorsichtig, als versuchte er eine Schneeflocke einzufangen, wickelte er ein Taschentuch um das erhitzte Metall. Der Anhänger vibrierte vor Magie. Ein Prickeln rann über seinen Körper, das seine Armhaare aufstellen ließ. Was auch immer er in den Händen hielt, es musste ein mächtiges Artefakt sein.
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