~Kapitel 4~


Ich rannte förmlich zu Kerim, als ich ihn in der hintersten Ecke des Schulhofs erblickte, wo er mit seinen Kumpels am Rauchen war. Ich hatte meine Meinung über das Geheimhalten der Briefe doch geändert und mich dafür entschieden, ihm von den Briefen zu erzählen. Vielleicht konnte er mir ja dabei helfen, den Autor zu finden.

Ich begrüßte Kerim und seine Freunde und wartete geduldig darauf, dass er seine Kippe aufgeraucht hatte, bis ich ihn fragte: „Hast du vielleicht mal kurz einen Moment Zeit?"

Die drei anderen Jungs warfen ihm dafür vielsagende Blicke zu, doch Kerim ließ sich davon nicht beeindrucken. „Klar, lass uns doch sonst schonmal zum Raum gehen."

Ich nickte und folgte meinem besten Freund, der nun langsam über den Schulhof stiefelte. „Also was wolltest du mir sagen?", fragte er mich dabei und sah mich aus seinen großen braunen Augen an. Ich mochte seine Augen, sie strahlten so viel Wärme aus, dass ich mich in seiner Gegenwart immer geborgen fühlte.

„Okay, aber du musst versprechen, dass du das für dich behältst", forderte ich Kerim auf.

Ein verwirrter Gesichtsausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit, aber trotzdem nickte er. „Versprochen."

Ich atmete noch einmal tief durch, um mich etwas zu sammeln, dann begann ich zu sprechen. „Am Anfang habe ich überlegt, ob ich das überhaupt irgendjemanden erzähle, aber ich platze glaube ich, wenn ich mit niemandem darüber spreche. Ich habe gestern und heute jeweils ein Liebesgedicht gefunden, einmal in meinem Schließfach und einmal in meinem Block und ich wollte dich fragen, ob du mir vielleicht bei der Suche nach dem Schreiber helfen kannst? Bitte Kem, ich muss einfach unbedingt wissen, von wem diese wunderbaren Worte stammen."

Ich setzte meinen besten Bettelblick auf, mit dem bekam ich Kerim immer rum. Er sah mich überrascht an, aber nicht ganz so überrascht, wie ich es erwartet hatte. Man konnte förmlich sehen, wie es in seinem Gehirn ratterte, dann sagte er: „Na klar, zeig mal her."

Erleichtert atmete ich auf und kramte die Zettel aus meinem Rucksack, um sie Kerim entgegenzustrecken. Er nahm sie in die Hand und las sie aufmerksam durch.

„Eines muss man der Person lassen, mit Worten umgehen kann sie! Aber ob sie da wirklich dich beschreibt? Ich weiß ja nicht", neckte mein bester Freund mich, wofür ich ihm nur die Zunge herausstreckte.

„Heißt das, du hilfst mir?", fragte ich nochmal und trat aufgeregt von einem Bein auf das andere. Ich fühlte mich wirklich wie in einem Film, wo die Protagonistin sich auf die Suche nach ihrem geheimen Verehrer machen musste.

„Ich kann mich mal vorsichtig umhören, wer von den Jungs dich mehr mögen könnte und noch dazu in der Lage ist, solche Texte zu verfassen", meinte er dann.

Freudig umarmte ich ihn. Im ersten Moment wirkte Kerim etwas überrumpelt, aber da er meine plötzlichen Gefühlsausbrüche gewohnt war, schloss er schnell ebenfalls seine Arme um mich.

„Du bist der Beste, Kem", murmelte ich gegen seine Brust und atmete dabei seinen vertrauten Geruch ein.

Die nächsten beiden Tage verstrichen, ohne dass sich etwas Besonderes ereignete. Ich kontrollierte in jeder großen Pause akribisch mein Schließfach, aber ich konnte keinen neuen Zettel entdecken. Auch in meinen anderen Schulsachen war nichts mehr versteckt gewesen. Vielleicht hatte der geheime Liebesbrief-Autor mitgekriegt, dass ich nach ihm suchte und ging nun vorsichtiger vor, um nicht entdeckt zu werden. Das hoffte ich zumindest, denn ich wollte mir nicht vorstellen, dass es nach diesen beiden wunderschönen Gedichten bereits zu Ende sein sollte.

Mittlerweile kannte ich die beiden Texte bereits auswendig, so oft hatte ich sie gelesen. Das Gefühl geliebt und bewundert zu werden, das ich dabei bekam, löste noch so viel mehr in mir aus und obwohl ich noch nicht mal genau wusste, wer der Schreiber war, fühlte ich mich ihm so unglaublich verbunden.

Ich war echt froh darüber, dass Kerim mir versprochen hatte, mir bei der Suche nach dem Autor zu helfen, denn ich hatte das Gefühl, dass ich alleine nicht vorankam. Als ich mir gestern vorgenommen hatte, Alexej unauffällig auf das Thema Gedichte anzusprechen, hatte ich ihn doch tatsächlich einem nicht abgeschlossenen Klassenraum mit einer Zehntklässlerin rumknutschen gesehen. Anscheinend hatte er mich tatsächlich überwunden und versuchte nun sein Glück bei Mädchen, die mindestens zwei Jahre jünger waren als er. Das hieß aber für mich, dass Casper als einziger Hauptverdächtiger noch im Rennen war, es sei denn, ich war auf der völlig falschen Fährte.

Dementsprechend beobachtete ich den großen, blonden Jungen ganz besonders. Er jetzt fiel mir auf, dass wir erstaunlich viele Kurse zusammen hatten, was unter anderem daran liegen konnte, dass wir beide das gesellschaftswissenschaftliche Profil gewählt hatten. So hatten wir zum Beispiel neben dem Geschichts- und dem Französischgrundkurs auch den Erdkunde- und den Politikleistungskurs zusammen.

In Politik war Casper mir schon öfter durch seine teilweise etwas kontroversen Ansichten aufgefallen, aber in den anderen Fächern war mir der glatte Einserschüler egal gewesen, ich gab nichts auf Streber. Aber jetzt lag meine ganze Aufmerksamkeit auf ihm. War er wirklich der geheime Briefe-Schreiber?

Als ich Kerim in der Mittagspause meinen Verdacht mitteilte, schüttelte er jedoch nur den Kopf.

„Der ist zwar gut in der Schule, aber im echten Leben eine hole Nuss. Eine perfekte Fassade mit einer ranzigen Bruchbude dahinter. Der kann keine solchen Texte schreiben", meinte er trocken, wobei deutlich herausklang, dass er kein großer Fan von Casper war. Dann schob er seinen leeren Teller eine Spur zu energisch von sich weg.

„Vielleicht unterschätzt du ihn auch einfach und er ist gar nicht so doof, wie du sagst", erwiderte ich, denn mich überkam irgendwie das Gefühl, Casper in Schutz nehmen zu müssen. Wenn er wirklich der Autor war, hatte er es nicht verdient, dass Kerim so über ihn herzog.

„Oder du überschätzt du ihn auch einfach." Kerims Stimme klang hart und endgültig, was mich etwas überraschte. Meines Wissens nach, hatten er und Casper nie wirklich Kontakt miteinander gehabt, weshalb ich nun auch keine Ahnung hatte, warum Kerims Abneigung gegenüber Casper so groß war.

Doch dann wurden seine Gesichtszüge wieder etwas weicher. „Ich habe mich übrigens mal ein bisschen umgehört, wer dich vielleicht gut findet und ich glaube, ich habe da eine Person erwischt. Wer weiß, vielleicht gibt er dir ja bald ein Zeichen oder so", sagte er dann.

Überrascht sah meinen besten Freund an und all die Gedanken von eben waren innerhalb einer Sekunde verpufft. „Ach echt? Wer denn?", fragte ich und konnte meine Neugier kaum im Zaum halten.

Kerim lachte. „Das werde ich dir nicht sagen, er sollte selber entscheiden, wann der richtige Augenblick ist, sich dir zu zeigen. Weißt du, du kannst manchmal sehr beängstigend wirken, vor allem wenn du einen so ansiehst."

Ich verdrehte die Augen, doch konnte mein Lachen ebenfalls nicht verkneifen. Auch wenn ich das Gefühl hatte, vor Neugier gleich umzukommen, verstand ich doch, dass Kerim Recht hatte. „Okay", antwortete ich deshalb einfach, anstatt Kerim weiterhin anzubetteln, mir das Geheimnis zu verraten.

Kerim schien erleichtert darüber zu sein und wechselte das Thema, während wir aufstanden, um unser dreckiges Geschirr wegzubringen. Dann trennten sich unsere Wege, das Kerim jetzt Physik und ich Kunst hatte. Ich ging nochmal kurz auf Toilette und machte anschließend einen Schlenker an meinem Schließfach vorbei, in dem ich die Bücher, die ich für die Hausaufgaben nicht brauchte, verstaute.

Als ich die Tür öffnete, segelte sofort ein kleiner weißer Zettel zu Boden, der durch den Windzug herausgefallen fahr. Augenblicklich machte mein Herz einen Satz und ich griff aufgeregt nach dem Papier. Ich faltete es auf und las:

Wenn du wissen möchtest, wer ich bin, dann komme zehn Minuten nach Schulschluss zu der Raucherecke auf dem Schulhof. Dort werde ich dich erwarten.

Wir sehen uns (hoffentlich)!

Dein X

Ich konnte nur mit Mühe einen Freundenschrei unterdrücken, als ich diese Nachricht las. Mein unbekannter Liebesbrief-Schreiber wollte sich tatsächlich mit mir treffen! Ich würde endlich erfahren, wer hinter diesen wundervollen Worten stand!

Voller Vorfreude und Erwartung hüpfte ich förmlich zu meinem Kunstraum und saß den ganzen Unterricht über wie auf glühenden Kohlen. Ich konnte einfach nicht stillsitzen, so aufgeregt war ich.

Als es schließlich zum Schulschluss klingelte, stürmte ich als Erste aus dem Raum. Auch wenn ich noch viel zu früh dran war, lief ich quer über den grau betonierten Schulhof zu der Raucherecke, vielleicht war mein Verehrer ja ebenfalls schon da. Bereits von Weitem erkannte ich, dass nur eine Person da stand und am Rauchen war. Eine große, athletisch gebaute, blondhaarige Person. Casper.

War Casper wirklich der geheime Autor? Hatte Kerim sich doch geirrt und Casper unterschätzt? Genau das würde ich jetzt in Erfahrung bringen.

Zielstrebig lief ich auf Casper zu, der bei meinem Anblick schnell die Zigarette austrat. Sein Gesichtsausdruck wirkte etwas ertappt, schließlich gehörte es sich nicht für den Schul-Star und Profi-Sportler zu rauchen. Aber ich war die Letzte, die ihm daraus einen Vorwurf machen würde. Ich wusste, wie schwer es war, in einer Rolle festzustecken, aus der man einfach nur ausbrechen wollte.

„Hey, Casper", begrüßte ich ihn und stellte mich zu ihm. Mein Herz pochte dabei vor Aufregung mindestens doppelt so schnell wie sonst und meine Hände fühlten sich schwitzig an, sodass ich sie in die Hosentaschen meiner Jeans steckte.

„Hey Flora, alles klar bei dir? Wartetest du auf Kerim?", fragte Casper und schenkte mir eines seiner strahlenden Lächeln, bei dem seine perfekten Zähne wunderbar zur Geltung kamen. Mir fiel auf, dass er kleine Grübchen besaß, wenn er lachte und irgendwie fand ich das unglaublich süß.

„Ja, bei mir ist alles gut. Und nein, ich wollte tatsächlich zu dir", antwortete ich zögerlich. Plötzlich war ich doch ziemlich nervös und etwas unsicher. War Casper wirklich der Richtige? Aber jetzt gab es eh kein Zurück mehr für mich, ich würde das nun durchziehen.

„Casper, kann es sein, dass diese Briefe von dir stammen?", fragte ich deshalb und zog die zerknitterten Zettel aus meiner Hosentasche, um sie Casper vor die Nase zu halten.

Er trat einen Schritt nach vorne, um die Zettelchen genauer zu betrachten, während ich ganz genau das Spiel seiner Mine beobachtete. Im ersten Moment wirkte er ein kleines bisschen überrascht, was wahrscheinlich an meinem etwas überrumpelnden Auftritt lag, doch dann legte sich ein sanftes Lächeln über sein Lippen.

„Du bist gut, Flora. Es freut mich, dass du gekommen bist", sagte er anerkennend und klang wirklich freudig, was mir nun endlich meine letzten Zweifel nahm. Der geheime Autor war Casper, Kerim hatte sich getäuscht!

Ich betrachtete Casper für einen Moment eingehend. Mit einem Mal fand ich ihn nicht mehr nur äußerlich attraktiv, sondern begann entgegen meiner Vorurteile daran zu glauben, dass Casper auch im Inneren ein toller Mensch war. Während ich ihn immer für stumpf und oberflächlich gehalten hatte, war er in echt zu wahnsinnig intensiven Gefühlen in der Lage. Ich hatte mich anscheinend echt ganz schön in ihm getäuscht.

„Das ist einfach so krass!", stieß ich aus, zu komplizierteren Sätzen war ich in diesem Moment nicht in der Lage, denn sowohl meine Gefühle als auch Gedanken schienen verrückt zu spielen.

Doch Casper sah mich verständnisvoll an. „Wie wäre es, wenn wir uns morgen Abend zu einem Date bei Peter Pane treffen? Da können wir dann ausführlich über alles reden und du hast noch etwas Zeit, diese Neuigkeiten zu verarbeiten", schlug er dann vor.

Ich nickte erleichtert, das klang nach einem wunderbaren Vorschlag. „Perfekt, dann bis morgen", stimmte ich ihm deshalb zu und drehte mich dann wieder um, um zurückzulaufen. Dabei versuchte ich zu realisieren, was gerade passiert war. Ich hatte endlich meinen Liebesbrief-Autor gefunden, bei dem es sich nicht um irgendjemanden handelte, sondern um Casper Baumann höchstpersönlich. Und nun hatten wir morgen ein Date miteinander – das konnte ja etwas werden! Kerim würde bestimmt nur die Augen verdrehen, wenn ich ihm gleich davon berichtete.


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Mit diesem Kapitel wünsche ich euch einen wunderschönen vierten Advent!🎄💗

Nur noch zwei Tage und dann ist einfach schon Weihnachten ahhhhhh😅 aber zumindest habe ich mittlerweile eigentlich alle Geschenke und ihr?

Das nächste Kapitel kommt dann am Heiligabend bzw. eher Heilignachtmittag mit dem Date von Casper und Flora. Was glaubt ihr, könnte da passieren?🌚

Wir lesen uns,

Amy


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