~Kapitel 3~

Am nächsten Tag stürmte ich fast schon zu meinem Schließfach und riss förmlich die Tür auf, um zu sehen, ob ich eine neue Botschaft erhalten hatte. Doch so sehr ich auch suchte, ich konnte keinen kleinen Zettel entdecken. Enttäuscht sackten meine Schultern zusammen - aber was hatte ich erwartet? Etwa, dass ich von nun an jeden Tag einen Liebesbrief erhalten würde?

Genervt darüber, dass meine Erwartungen immer so schnell nach oben schossen, schüttelte ich meinen Kopf. Ich müsste Geduld haben, ob sich mein geheimer Briefschreiber noch einmal meldete, vielleicht war es auch nur eine einmalige Aktion gewesen. Also griff ich nur nach meinem Geschichtsbuch und lief zu meinem nächsten Kurs, der in dem ranzigen Container mitten auf dem Schulhof stattfinden sollte.

Unsere Schule hatte dem rasanten Anstieg der Schülerzahl nicht so schnell folgen können, deshalb hatten sie uns als Notlösung mehrere von diesen hässlichen Notunterkünften auf den Schulhof geklatscht, in denen es immer Sommer viel zu warm und im Winter viel zu kalt war und zu meinem Unglück wurden meistens die Oberstufenschüler dorthin verbannt.

Lustlos schlenderte ich zu dem Raum und setzte mich auf meinen Platz neben Lena, die sich mit ihren buntgefärbten Haaren und den unzähligen Piercings und Tattoos deutlich von der langweiligen grauen Masse abhob. Wahrscheinlich war das auch einer der Gründe, warum ich sie echt gut leiden konnte - sie schwamm nicht mit dem Strom, sondern machte ihr eigenes Ding, egal was andere Leute sagten.

„Hey, Flo. Was geht?", begrüßte sie mich, während ich mich neben ihr niederließ.

„Nicht viel und bei dir?", fragte ich zurück und holte mein Buch, meinen Block und meine Stifte aus meiner Tasche heraus. „Du Lena, könnte ich vielleicht die Hausaufgabe von dir abschreiben?", fügte ich dann zaghaft hinzu und blickte sie bettelnd an.

Doch Lena lachte nur leicht auf und schob mir bereitwillig ihren Block herüber, schließlich kannte sie dieses Spiel schon. „Und? Welches Buch hat dich dieses Mal so gefesselt, dass du es einfach nicht aus der Hand legen konntest?"

Ich zögerte einen Moment, gestern hatte mich gar kein Buch oder Film so sehr abgelenkt, dass ich die Hausaufgaben vergessen hatte, sondern meine Gedanken waren so sehr mit dem Gedicht beschäftigt gewesen, dass ich alles andere völlig verdrängt hatte. Endlich passierte mal etwas Spannendes und Romantisches in meinem eigenen Leben, da konnte ich vor Aufregung und Freude kaum an etwas anderes denken, auch wenn diese Reaktion auf einen so kleinen Brief völlig übertrieben klang.

„Nicht ganz", antwortete ich ausweichend. Irgendwie wollte ich dieses Geheimnis noch mit niemandem teilen. Mein geheimer Verehrer sollte auch erstmal geheim bleiben, denn dieser Brief war etwas ganz Besonderes und Persönliches für mich.

Lena schien sich jedoch mit dieser kargen Antwort zufrieden zugeben, denn sie wandte sich ihren giftgrün lackierten Fingernägeln zu, während ich begann, ihre Stichpunkt zu der Aufgabe zu übernehmen. Gerade als ich den letzten Punkt beendet hatte, betrat unser Lehrer Herr Ritter den Raum. Ein schrulliger Typ, der so alt aussah sah, als hätte er all das, was er uns im Geschichtsunterricht erzählte, miterlebt. Wirklich, der Typ müsste seinem Aussehen nach zu Urteilen schon seit zwanzig Jahren in Rente zu sein, aber stattdessen machte er sich immer noch einen Spaß daraus, Schüler mit dem Ausweniglernen unnützer Daten zu quälen. Wenn ich nicht irgendwann bei einer Quizshow nach dem Entstehungsdatum von Rom gefragt werden würde, dann wäre der ganze Unterricht für die Katz gewesen.

Der Unterricht begann und durch Lenas Nettigkeit kam ich um einen erneuten Eintrag im Klassenbuch herum - ich musste mich zukünftig echt mehr anstrengen. In der Fünfminutenpause gingen Lena und ich dann zusammen raus, da sie eine Zigarette rauchen wollte. Ich unterdrückte dabei mit Mühe den Drang, sie ebenfalls nach einer Zigarette zu fragen, denn ich wusste, dass Kerim sehr enttäuscht darüber sein würde. Standhaftigkeit zählte seiner Meinung nach zu den wichtigsten Tugenden.

Als Lena und ich wieder in den Container zurückgingen, in dem die Luft so abgestanden war, dass man beim Atmen das Gefühl hatte, kaum noch Sauerstoff in die Luft zu kriegen, hatte der Unterricht schon wieder begonnen. Herr Ritter strafte uns mit einem bösen Blick, sagte jedoch nichts dazu. Deshalb setzten wir uns schnell auf unsere Plätze und ich schlug die nächste Seite meines Blocks auf, um das Geschriebene von der Tafel zu kopieren, als mir ein kleiner, gefalteter Zettel ins Auge stach, der auf der Seite lag.

Mein Herz setzte einen Schlag aus, nur um daraufhin noch stärker zu klopfen - anscheinend hatte ich eine neue Botschaft von meinem unbekannten Briefeschreiber erhalten! In freudiger Erwartung und mit vor Aufregung zittrigen Fingern öffnete ich den Zettel und las:

Wirbelwind
so stürmisch und so sanft zugleich
caramellbraune Augen erscheinen so weich
ein Blick genügt,
ich bin dir hoffnungslos verfallen
du hast mein Herz gestohlen
und ich kann es nicht wiederholen.

Völlig gerührt von den wunderschönen Worten ließ ich das Papier sinken, mein Herz pochte immer noch als wäre es komplett außer Kontrolle. Konnte es wirklich wahr sein, dass es eine Person gab, die so für mich empfand? Der ich so viel bedeutete? Wenn ja, wer konnte das nur sein?

Suchend blickte ich mich im Klassenraum um, denn ich war mir ziemlich sicher, dass mir der Zettel von jemandem in der Fünf-Minuten-Pause in meinen Block geschoben worden war, denn sonst wäre er schließlich schon beim Herausholen des Blocks zu Boden gefallen. Ich ließ meinen Blick über die Reihen schweifen und überlegte, wer in der Lage wäre, solche Briefe zu verfassen.

Ich ging zwar stark davon aus, dass es sich bei dem Autor um einen Jungen handeltet, aber ganz sicher konnte ich mir natürlich nicht sein. Trotzdem beschloss ich, mich der Einfachheit halber erstmal nur auf meine männlichen Mitschüler zu beschränken.

Einige der Jungs fielen direkt raus, da ich von ihnen wusste, dass sie in einer Beziehung waren. Und dann gab es noch so welche, wie den sich selbst als angehenden Fortnite-Weltmeister bezeichnenden Markus, bei denen ich mir noch nicht mal sicher war, ob sie überhaupt wussten, was ein Mädchen war. Das reduzierte die Auswahl doch deutlich und so verkleinterte sich der Kreis nach und nach auf drei Hauptverdächtige: Lukas, Alexej und Casper.

Lukas war ein stiller, nachdenklicher Kerl, mit dem ich aber ziemlich gut klarkam. Ihm traute ich es am ehesten zu, solche tiefgründigen Texte zu schreiben. Anderseits hatte ich aber auch manchmal das Gefühl, dass er gar nicht so sehr an Mädchen interessiert war, aber offen geoutet hatte er sich noch nicht.

Dann gab es noch Alexej, von dem ich wusste, dass er seit der siebten Klasse auf mich stand. Er hatte bereits mehrfach versucht, mein Herz für sich zu gewinnen, aber leider hatten mich weder seine Pfiffe auf dem Schulhof noch seine unangekündigten Besuche bei mir zu Hause von ihm überzeugen können. In den letzten Monaten war es jedoch deutlich ruhiger um ihn herum geworden und ich hatte inständig gehofft, dass er sich endlich entliebt hatte. Sollte ich mich doch geirrt haben? Aber war dieser stumpfe Typ überhaupt dazu in der Lage, seine Gefühle so bewegend zu Papier zu bringen?

Zum Schluss blieb also nur Casper, der King der Schule. Wären wir in einem amerikanischen High School Film, dann wäre er der Quaterback des Footballteams, aber so war er immerhin Schülersprecher, Captain des Volleyballteams und heimlicher Schwarm eines fast jeden Mädchens. Auch ich konnte nicht abstreiten, dass ich den großen, blonden Jungen mit den funkelnden blauen Augen attraktiv fand. Tatsächlich fand ich ihn sogar überaus attraktiv, aber auf der anderen Seite besaß er manchmal eine so arrogante und herablassende Ausstrahlung, dass ich mich lieber von ihm fernhielt. Sollte er es gewesen sein, der mir diese Briefe geschrieben hatte?

Ich hatte zwar bemerkt, dass Casper mich hin und wieder im Unterricht angestarrt hatte, aber das hatte ich als nichtig abgetan, da sich unsere Blicke durch seinen Sitzplatz an der gegenüberliegenden Seite des Raumes zwangsläufig ab und zu kreuzten. Konnte es wirklich sein, dass er der geheime Autor war oder war das nur Wunschdenken meinerseits? Denn wer so tolle Gedichte schrieb, konnte gar nicht durchweg arrogant sein.

Die ganze Stunde grübelte ich darüber nach, wer von diesen drei Personen mir am ehesten die Briefe geschrieben haben könnte. Am liebsten hätte ich sie am liebsten alle einzeln darauf angesprochen, aber das wäre mir dann doch zu peinlich gewesen wenn ich mit meinen Vermutungen vollkommen daneben liegen sollte. Ich musste, das Ganze geschickter anstellen.

Da ich so sehr in meinen Gedanken versunken war, bemerkte ich gar nicht, wie mein Geschichtslehrer mich mehrfach aufrief. Erst als der ganze Kurs in Lachen ausbrach, schreckte ich aus meinen Träumereien hoch.

„Flora, können Sie mir bitte sagen, wann der zweite Weltkrieg geendet hat?", wiederholte sich der grauhaarige Mann mit den unzähligen Falten noch ein weiteres Mal genervt.

Völlig überrumpelt sah ich ihn an, die Frage kam wie aus dem Nichts für mich und mein Gehirn fühlte sich mit einem Mal wie leergefegt an. „Ähhm ich glaube ähh das war 1962", stotterte ich drauflos, während das Gelächter der Klasse nur noch größer wurde. Offensichtlich hatte ich mich mit meiner Antwort nun vollkommen blamiert.

Röte schoss mir ins Gesicht und ich hätte mich am liebsten unter meinem Tisch verkrochen, vor allem als ich in das schadenfreudig grinsende Gesicht meines Lehrers blickte. Offensichtlich genoss er es, mich vor dem versammelten Kurs bloßzustellen. Er hatte mich zwar noch nie gerne gemocht, aber so eine Gemeinheit hatte ich ihm doch nicht zugetraut, schließlich hatte ich den Kurs nicht gestört, sondern war einfach nur mit meinen Gedanken abwesend gewesen.

„Können Sie uns eigentlich von ihren persönlichen Eindrücken des Krieges erzählen?", fragte Lena in diesem Moment und lenkte somit die Aufmerksamkeit der Klasse von mir auf sich, wofür ich sie dankbar anlächelte.

„Wie meinen Sie das?", gab der Lehrer zurück und sah das Mädchen mit den bunten Haaren skeptisch an.

„Naja, Sie haben damals doch schon gelebt oder etwa nicht?" Lena lehnte sich auf ihrem Stuhk zurück und blickte unserem Lehrer fest in die Augen, als wäre es ihr völlig egal, wie respektlos sich sich gerade verhielt. Ich bewunderte sie für ihren Mut und ihre Aufmüpfigkeit - wenn Sachen ihr nicht passten, dann zeigte sie das.

Der Lehrer schnappte hörbar nach Luft und im ersten Moment befürchtete ich, dass jetzt eine Schimpftirade folgen würde, doch dann wendetet er sich wieder der Tafel zu (das White Board benutzten wir nie, denn Herr Ritter kam wie er selber sagte nicht mit diesem neumodischen Quatsch klar) und schrieb weiter etwas an.

„Danke", flüsterte ich in Lenas Richtung und sie nickte mir zu.

„Das habe ich nur zu gerne getan, dem doofen Steinzeit-Ritter mal einen Denkzettel zu verpassen:"

Der Rest der Stunde verlief ohne weitere Zwischenfälle und so glitt ich, nachdem es zur Pause klingelte unauffällig neben Lukas aus dem Raum. Ich hatte mir vorgenommen, den Jungs so bald wie möglich auf den Zahn zu fühlen. „Hey Lukas, wie geht's?", versuchte ich möglichst unverfänglich ein Gespräch anzufangen.

Lukas lächelte mich schüchtern an und schob seine dicke Nickelbrille etwas weiter auf die Nase rauf. „Gut und dir?", antwortete er.

„Mir geht es auch gut, danke. Du, was ich dich fragen wollte: Bist du zufällig gut in Gedichtsananlysen, ich hätte da ein paar Fragen?"

Ich hatte beschlossen, die Jungs ganz dezent auf das Thema Gedichte anzusprechen und ihre Reaktionen abzuwarten. Deshalb beobachtete ich den blassen, braunhaarigen Jungen mit den Sommersprossen nun auch ganz genau, doch er runzelte nur irritiert die Stirn. „Nein tut mir leid, Gedichte sind so gar nicht meins. Bei Kurzgeschichten oder Sachtexten hätte ich dir weiterhelfen können, aber bei Gedichten bin ich raus", erklärte er.

Ich nickte langsam, mein erster Verdächtiger war somit aus dem Rennen. Irgendwie verwunderte mich das aber nicht, vor allem weil in diesem Moment Casper an uns vorbei lief und Lukas ihm einen schmachtenden Blick hinterherwarf. Offensichtlich hatte der blonde Superstar nicht nur weibliche Verehrer.

Doch anstatt mit großen Schritten an uns vorbeizueilen, passte sich Casper unserem Tempo an. „Na da hast du ja mal wieder einen Stunt geliefert, Flora. Ich glaube, Herr Ritter hasst dich und Lena spätestens seit heute", sagte er und bei dem unerwarteten Klang seiner rauen Stimme stellten sich die kleinen Härchen an meinen Armen auf. Überrascht sah ich ihn an - bis auf in Gruppenarbeiten hatten Casper und ich bisher nur wenige Worte miteinander gewechselt.

„Es kann ja schließlich nicht jeder so ein Arschkriecher wie du sein", erwiderte ich, ohne groß nachzudenken und schlug mir im nächsten Moment schon die Hand vor den Mund. Warum musste ich mein Herz auch nur auf der Zunge tragen?

Doch Casper sah nicht böse aus - ganz im Gegenteil, er legte sogar seinen Kopf in den Nacken und begann herzhaft zu lachen. Ich nahm wahr, wie Lukas mir von der Seite einen fragenden Blick zuwarf, doch ich zuckte nur die Schultern. Ich wusste selber nicht, was hier vor sich ging. Sollte sich tatsächlich Casper als der geheime Briefeschreiber heraustellen? Anders konnte ich mir seine doch ziemlich plötzliche Kontaktaufnahme kaum erklären.

„Da hast du wahrscheinlich Recht", antwortete Casper lachend und seine tiefe durchdringende Stimme fuhr mir durch alle Glieder. „Man sieht sich."

Und mit diesen Worten schlug er eine andere Richtung ein und lief sowohl mich als auch Lukas völlig verdutzt zurück.

„Was war das gerade?", fragte Lukas auch sogleich.

Ich zuckte nur die Schultern. „Ich habe nicht den leisesten Schimmer."

Ich wusste nur, dass Casper so schnell wieder abgehauen war, dass ich nicht die Gelegenheit gehabt hatte, ihm die selbe Frage wie Lukas zu stellen.

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Einen wunderschönen dritten Advent wünsche ich euch!🎄💗

Bei mir ist gerade meine Oma zu Besuch, deshalb kommt das Kapitel auch ein bisschen später :)

Was haltet ihr von Casper? Denkt ihr, er ist der geheime Briefeschreiber oder doch eher Alexej oder etwa jemand ganz anderes?🙈

Ansonsten wünsche ich euch noch einen schönen Rest-Sonntag und bis nächste Woche😊💗

Eure Amy

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