~Kapitel 1~
„Flo, kommst du mal bitte zur Tür? Kerim ist da", hörte ich meine Mutter trotz meiner Kopfhörer aus dem Flur rufen - sie besaß eine sehr laute und durchdringende Stimme und wenn sie mal richtig wütend war, konnte man das noch drei Stockwerken über unserer Wohnung hören. Das konnte aber auch daran liegen, dass der Plattenbau, in dem wir wohnten, extrem hellhörig war.
„Ich komme", schrie ich zurück und klappte meinen Laptop zu, auf dem ich bis eben einen kitschigen amerikanischen Liebesfilm geguckt hatte.
Ich stand total auf solche High School Liebeskomödien, auch wenn Kerim mich dafür immer auslachte. Jedes Mal nachdem ich einen solchen Film geguckt hatte, konnte ich den ganzen Tag davon träumen, wie es wäre, von dem Captain des Footballteams auf ein Date eingeladen zu werden. Aber leider war das echte Leben nicht so rosarot, wie es in Romanzen dargestellt wurde - zumindest meinem Liebesleben mangelte es an jeglicher Romantik. Meine letzte Beziehung war dabei nicht nur komplett unromantisch, sondern eine reine Katastrophe gewesen. Drei Monate war ich mit Keanu zusammengewesen, bis ich es nicht mehr ausgehalten hatte.
Am Anfang war ich echt ziemlich in ihn verknallt gewesen, sodass ich sogar über den Umstand hinwegsehen hatte können, dass Keanu täglich kiffte. Meine Nase hatte sich irgendwann an den Geruch gewöhnt und schließlich rauchte bestimmt ein Drittel der Jugendlichen in Berlin Kreuzberg Gras, aber dann hatte Keanu auf der sechsten Geburtstagsfeier meiner kleinen Schwester den Kindern angeboten, an seinem Joint zu ziehen. Damit war die Sache für mich gegessen gewesen und Keanu war so schnell aus meinem Leben verschwunden, wie er gekommen war.
Allgemein gab es nur wenig beständige Personen in meinem Leben. Nachdem meine Mutter sich von meinem Vater getrennt hatte, hatte sie ständig wechselnde Liebhaber, bei denen ich mir mittlerweile noch nichtmal mehr die Mühe machte, mir ihre Namen zu merken. Ansonsten gab es noch meine kleine Schwester Ophelia und meinen besten Freund Kerim, die zu den einzigen Konstanten in meinem Leben gehörten.
„Hey, Kem", begrüßte ich den braunhaarigen Jungen mit den brauen Augen und zog ihn in eine kurze Umarmung. „Was gibt es? Willst du reinkommen?"
„Eigentlich wollte ich fragen, ob ihr bei uns mitessen wollt. Meine Mutter hat groß gekocht und selbst für sieben Personen ist das immer noch viel zu viel", eröffnete mir Kerim den Grund für seinen Besuch. Er wohnte im selben Plattenbau wie meine Familie und ich, sodass wir eigentlich täglich zusammen rumhingen und auch spontane Einladungen zum Essen nichts außergewöhnliches waren.
„Mama muss gleich zum Putzen, aber Lia und ich würden gerne rüberkommen", antwortete ich. Ich zog das leckere, türkische Essen von Kerims Mutter definitiv der dritten Tiefkühlpizza diese Woche vor und Ophelia würde das sicherlich auch tun. „Warte, ich hole sie kurz."
Mit diesen Worten ließ ich Kerim im Türrahmen stehen und lief durch den schmalen Flur zu Ophelias Zimmer und öffnete vorsichtig die Tür. Meine kleine Schwester lag auf dem Boden und war gerade dabei ein Mandala anzumalen. „Lia, hast du Lust bei Kerim mitzuessen? Seine Mutter hat gekocht", fragte ich den kleinen braunhaarigen Lockenschopf.
„Oh ja", kam es sofort zurück und Ophelias blaue Augen begannen zu leuchten. Sie war ein riesiger Fan von Kerim, er war so wie ein großer Bruder für sie.
„Dann komm mit." Ich streckte ihr meine Hand entgegen und zog sie hoch. Dann liefen wir zusammen zur Wohnungstür, wo Kerim immer noch auf uns wartete.
„Mama, wir essen heute bei den Arslans mit", rief ich noch in den Flur, bevor ich die Tür zuzog.
Wir mussten zwei Stockwerke hochgehen, um zu der Wohnung von Kerims Familie zu kommen und bereits im Treppenhaus duftete es schon so herrlich nach dem Essen von seiner Mutter, dass mir bereits das mir Wasser im Mund zusammenlief. Kerim führte uns ins Wohnzimmer, wo der große Tisch, der beinahe den ganzen Raum ausfüllte, schon mit drei Extragedecken versehen war.
„Oh Lia, Flo, wie schön, dass ihr da seid", begrüßte uns Kerims Mutter Zehra freudig und umarmte uns herzlich. „Ist Jasmin denn gar nicht da?"
„Ne, die muss gleich arbeiten", antwortete Ophelia.
„Ach schade, aber da kann man nichts machen", meinte Zehra schulterzuckend. „Setzt euch doch bitte."
Während Kerim, Ophelia und ich an der großen Tafel Platz nahmen, rief seine Mutter etwas auf Türkisch in den Flur und wenig später erschienen die vier Geschwister von Kerim und sein Vater Timur, der uns ebenfalls herzlich begrüßte.
Ich liebte es, Zeit mit Kerims Familie zu verbringen, denn auch wenn es oft etwas laut war, bewies es mir, dass es auch intakte, liebevolle Familien gab und nicht nur solche, bei denen der Vater nie vom Kippen holen zurückgekehrt war.
Ich blickte zu Kerim, der bereits dabei war, sich eine riesige Portion auf seinen Teller zu schaufeln und konnte mir ein Lachen kaum verkneifen. Ich kannte keine Person, die auch nur ansatzweise so gefräßig war wie er.
„Ist was?", fragte er irritiert, als er bemerkte, dass ich ihn anstarrte.
„Ne ne, passt schon", antwortete ich nur und füllte mir dann selber etwas auf.
Eine Stunde und drei Teller später waren wir alle pappsatt und trotzdem waren die Töpfe nicht komplett leer geworden. Wir halfen alle gemeinsam beim Aufräumen, doch dann scheuchte uns Zehra aus der Küche. Ophelia hatte sich bereits mit Elif zusammen irgendwo in der Wohnung verkrochen, während Kerims andere Geschwister es sich vor dem Fernseher gemütlich machten.
„Hast du Lust hochzugehen?", fragte mich Kerim.
Unter hochgehen verstanden wir, über die schmale Feuertreppe, die außen an dem Balkon von Kerims Zimmer vorbeiführte aufs Dach zu klettern. Kerim besaß als einziges Kind der Arslans ein Einzelzimmer, seine jüngeren Geschwister mussten sich alle jeweils zu zweit ein Zimmer teilen, sodass wir immer unbemerkt aufs Dach verschwinden konnten.
„Klar", antwortete ich. Ich liebte den Ausblick, den man von dem Dach des Plattenbaus hatte, er reichte beinahe über ganz Kreuzberg.
Kerim öffnete sein Fenster, dann schnappte er sich noch die Packung Zigaretten, die er in seiner Nachttischschublade versteckte, während ich bereits nach oben kletterte.
Auf dem Dach angekommen, streckte ich mich einmal herzhaft und ließ die nächtliche Sommerluft in meine Lunge strömen. Kerim war mittlerweile auch angekommen und so setzten wir uns an unseren Lieblingsplatz, direkt am Rand des Daches, wo man seine Beine herrlich baumeln lassen konnte. Am Anfang war das Gefühl so nah am Abgrund zu sein, noch beängstigend für mich gewesen, doch ich hatte gelernt, die Freiheit und Unbeschwertheit, die es versprach, zu genießen. Ein kleines bisschen Freiheit, zwischen diesen gefängnisartigen grauen Mauern. Ein kleines bisschen Unbeschwertheit in diesem tristen, ausweglosen Alltag.
Hier oben war ich nicht Flora, bei der es noch nicht mal sicher war, ob sie diese Schuljahr überhaupt zum Abi zugelassen werden würde oder Flora, die sich von einer unglücklichen Beziehung zur nächsten hangelte, auf der Suche, die große Liebe zu finden – hier war ich alles, was ich sein wollte. Hier hatte ich Platz zum Träumen. Hier war ich frei. Und ich war mir sicher, dass Kerim ebenso fühlte.
„Möchtest du auch eine?", fragte mich der braunhaarige Junge neben mir, der sich gerade eine Zigarette anzündete.
Ich schüttelte den Kopf. „Ich versuche doch aufzuhören. Drei Wochen habe ich schon durchgehalten."
Kerim nickte anerkennend, dann blies er den Rauch seiner Zigarette extra in meine entgegengesetzte Richtung aus. „Ist auch besser so. Rauchen ist nicht gesund."
Ich musste kurz schmunzeln, dann lehnte ich meinen Kopf an seiner Schulter an und atmete den vertrauten Geruch aus Kerims Parfüm und Zigarettenqualm ein. Dabei drifteten meine Gedanken immer weiter ab.
„Woran denkst du?", holte mich Kerims Stimme schließlich zurück in die Realität.
„Daran, wie es wäre, endlich aus dieser grauen Betonwüste herauszukommen."
„Aber so schlimm ist es doch gar nicht", meinte Kerim verwundert.
Vielleicht war es für ihn nicht so schlimm, aber ich zählte die Tage, bis ich nach meinem Abi endlich von hier wegziehen könnte – wenn ich es denn bestehen würde. Darüber musste sich Kerim zum Beispiel gar keine Sorgen machen, denn er war im Gegensatz zu mir richtig gut in der Schule.
„Doch. Jeder Tag hier ist gleich, alles ist so grau und monoton, nichts verändert sich. Die gleichen Probleme, die gleichen Sorgen und das schon seit Jahren. Hier gibt es keine Liebe, zumindest nicht für mich", beklagte ich mich.
„Warum bist du dir da so sicher?" Kerim gab noch nicht auf. Ich bewunderte ihn für seinen Optimismus, doch für mich waren er und Ophelia die einzigen Lichtblicke in diesem tristen Alltag – wahrscheinlich flüchtete ich mich deshalb so gerne in fiktionale Welten.
„Ich bin es einfach, Kem. Darf ich vielleicht doch eine Kippe haben?", fragte ich ihn dann. Ich hatte gerade einfach das Bedürfnis, meine ganzen Gedanken zusammen mit dem Rauch auszublasen, egal, ob ich eigentlich mit dem Rauchen aufhören wollte.
„Nö", kam es jedoch von meinem besten Freund zurück. „Du hast gesagt, du willst nicht mehr rauchen, dann stehe dazu."
„Du bist blöd", sagte ich gespielt beleidigt.
„Du bist blöder."
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Hallo ihr Lieben,
ich freue mich riesig, dass ihr bei meiner ersten Kurzgeschichte hier auf Wattpad vorbeischaut!💗
Wie gefallen euch die Charaktere bisher?
Ich bin mega gespannt auf eure Meinung zu dem ersten Kapitel🙈
Ansonsten wünsche ich euch eine schönen ersten Advent und bis nächste Woche!🎄
Eure Amy
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