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Am nächsten Tag verabschieden wir uns von Claire und Matthew, die auf eine Flitterwochen-Weltreise für zwei Monate gehen.
»Und vergiss nicht, ganz viele Fotos zu machen von Frankreich, Italien, Schottland –«, zähle ich auf, nachdem ich sie kurz umarmt habe, doch sie unterbricht mich.
»Ich weiß, ich weiß. Keine Sorge, ich schicke euch ganz viele Bilder.«
Hauptsache, es kommen keine Flitterwochen-Bettbilder an.
Meine ältere Schwester umarmt Mandy und Helena ganz fest, bevor sie aus dem Haus geht. Man kann sehen, wie sie sich freut und zugleich ein wenig traurig ist.
Matthew scheint es auch kaum zu erwarten. »Bis in zwei
Monaten«, ruft er mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Da hat es jemand aber ganz schön eilig, in die Flitterwochen zu kommen.
»Da waren es nur noch drei«, sagt unsere Mutter und Trauer blitzt in ihren Augen auf. Sie vermisst ihre älteste Tochter jetzt schon, das kann man ihr ansehen.
»Nicht mehr lange«, freut sich Mandy über beide Ohren, »dann sind wir auch schon weg, und die kleine Spießerin hier bleibt alleine.« Dabei deutet sie auf mich.
Ich ziehe nur eine Grimasse und lächle sie an. Mir ist klar, dass sie es absolut nicht ernst meint und mich am liebsten mitnehmen würde, aber irgendetwas zieht sich in meiner Brust zusammen. Ich würde auch gerne für drei Wochen in den Urlaub fahren, doch ich habe gerade erst angefangen, zu arbeiten, da kann ich nicht alles stehen und liegen lassen, um mich am Strand von Miami zu sonnen.
»Ich finde es sehr schade, dass du nicht mitkommst«, versichert meine Mutter voller Mitleid.
»Das ist schon in Ordnung, ich werde mich hier auch prächtig amüsieren«, gebe ich als Antwort zurück.
Du kleine Lügnerin.
Ich will ihnen kein schlechtes Gewissen machen.
Es ist Montag, der erste Ferientag für Mandy. Sie ist in der High School und hat noch zwei Jahre vor sich, bevor sie aufs College geht.
»Mom«, ruft sie von oben runter. »Ich bin fertig.«
»Wird auch Zeit«, antwortet Helena und wir lachen über diese Aussage.
Mandy kommt mit ihrem Koffer die Treppe runter und stellt ihn im Flur neben den Koffer unserer Mutter.
»So«, keucht sie mit schwerem Atem. Ihr Koffer ist doppelt so groß wie der von Helena.
Muss schwer sein, seinen ganzen Kleiderschrank für nur drei
Wochen da rein zu stopfen.
Ich muss über den Gedanken kichern, dass sie wirklich alle
ihre Klamotten in den Koffer gesteckt hat. Ein kurzer Blick auf die Uhr. Halb acht. Langsam muss ich mich für die Arbeit fertig
machen, aber ich warte, bis die beiden gehen, um sie zu verabschieden.
»Wir machen uns dann mal auf den Weg zum Flughafen«, sagt meine Mutter wie aufs Stichwort.
»Passt auf euch auf. Ich wünsche euch viel Spaß. Und du, Fräulein«, ich zeige auf Mandy, »verbrenn dich nicht.« Ich
zwinkere ihr zu, wobei sie ganz genau weiß, was ich meine.
Helena schaut mit einem fragenden Blick zwischen uns hin und her.
»Nur so«, beantworte ich ihre unausgesprochene Frage.
Sie fragt zum Glück nicht weiter nach und gibt mir einen Kuss auf die Wange. »Pass du auch auf dich auf«, ermahnt sie mich schon fast.
Ich lächele und drücke sie, zu ihrer Überraschung, kurz an mich. Zum Abschied wuschele ich Mandys Haare durch und
kassiere einen bösen Blick ihrerseits.
Dann sind die beiden auch schon zur Tür hinaus.
Da war es nur noch einer.
Mach dich ruhig lustig über mich, stört mich nicht.
Doch, tut es.
Ich ignoriere die nervige Stimme und gehe hoch, um zu
duschen und mich umzuziehen. Für die Arbeit ziehe ich mir eine Jeans und ein einfaches schwarzes Shirt an.
Das passt ja perfekt zu deiner Seele.
Noch ein paar Sachen muss ich in meine Handtasche packen und schon kann die zweite Woche in der neuen Arbeit starten. Ich nehme mein Handy, das auf dem Nachttisch liegt, und stecke es ein, doch noch bevor ich mich umdrehe, springt mir die Karte ins Auge. Seine Visitenkarte.
Soll ich sie mitnehmen?
Ja, ja sollst du.
Nein, lieber nicht.
Warum fragst du dann?
Der Vormittag ist ohne großes Spektakel verlaufen. Hier und da ein paar Codes eingetippt und Firewalls aufgestellt, dann habe ich einen Denkzettel von einem Mitarbeiter bekommen, da ich in sein Büro gestürmt bin, während er mit einer mir Unbekannten
geknutscht und gefummelt hat. Das war's, vollkommen ›normal‹, für das, was heutzutage passiert.
»Nun geh schon in deine wohlverdiente Mittagspause«,
muntert mich eine Mitarbeiterin lächelnd auf. »Oder willst du etwa unbezahlt weiterarbeiten?«
Ich mühe mir ein Lächeln ab und spaziere hinaus. Wie auch die ganze letzte Woche hole ich mir einen Antipasti-Wrap von dem kleinen Imbisswagen, der vor dem Gebäude steht. Wirklich sehr lecker, auch wenn es ungesund ist. Aber na ja, wer achtet schon auf sowas?
Pfft ... niemand außer vielleicht die Hälfte der Bevölkerung, aus Angst, nicht von der heutigen Gesellschaft akzeptiert zu werden.
Was soll's, ich sage nicht, dass ich es mir leisten kann, aber – du kannst es dir leisten.
Gerade als ich in meinen Wrap beißen will, fällt mein Blick auf eine Person, die mit dem Rücken zu mir steht. Sie dreht sich um, und ich spüre, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildet.
»May?«
Scheiße ... Das Blut in meinen Adern scheint eingefroren zu sein, denn ich kann mich nicht bewegen. Kann nicht davonlaufen
oder sonst etwas tun. Nichts. Nada. Niente.
Ich blicke in die seelenlosen dunklen Augen des Mannes und schlucke den Schmerz, der mit der Erinnerung in mir aufsteigt, hinunter.
Immer noch starr wie ein Stein stehe ich da. Meine Augen auf ihn geheftet, höre ich nur noch, wie er fragt: »Bist du es, May?«
Und dann nichts. Alles schwarz.
»Jemand soll den Notruf wählen, sofort!«
»Das habe ich schon getan, Sir«, antwortet eine Frauenstimme.
»Warum sind die noch nicht hier, verdammt?«
Benebelt höre ich das Gespräch mit. Obwohl, dies kann man kein Gespräch nennen. Es ist eher ein Anschreien, und die
Stimme, die brüllt, kommt mir sehr bekannt vor. Ich spüre, wie sich eine warme Hand um meinen Nacken windet, während mein Körper auf dem kalten harten Boden liegt.
Langsam komme ich zu mir und öffne meine Augen, doch ich sehe im ersten Moment nicht viel, da alles verschwommen ist.
Dann erblicke ich unscharf die vielen Menschen, die sich um mich gestellt haben. Nach wenigen Sekunden klärt sich mein Blickfeld auf und mich starren wunderschöne meerblaue Augen an.
»Agent Primes?«, flüstere ich leise, denn mehr als das kommt nicht aus meinem Mund.
Er hat sich über mich gebeugt und grinst leicht, während er mir antwortet: »Special Agent, wenn ich bitten darf.«
Nun muss auch ich lächeln. Er hilft mir dabei, mich
aufzusetzen, und ich erinnere mich, weshalb ich in Ohnmacht gefallen bin.
Panisch suche ich nach der Person. Völlig orientierungslos
schaue ich in alle Richtungen.
Links. Rechts. Vorne. Hinten.
Nichts.
Der Mann ist nirgends zu sehen.
Er ist weg ...
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