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Also erzähle ich ihm alles, was er eigentlich schon aus meiner Akte weiß. Dass ich mit zehn Jahren in die erste Pflegefamilie gesteckt wurde, die dann nach einem halben Jahr ein drittes Kind bekommen hat. Dass das Jugendamt mich daraufhin in eine an-dere Familie gesteckt hat, ein Ehepaar ohne Kinder. Die Frau hat hart gearbeitet und war gefühlt nie da, und der Mann hat sich fast jede Nacht in den Schlaf gesoffen.

Eines Tages hat er so viel getrunken, dass er angefangen hat, wirre Sachen zu sagen und zu machen.

An diesem Tag hat er mich vergewaltigt.

Mit einem Trauma wurde ich in eine psychiatrische Einrichtung gebracht. Drei Jahre lang brachte ich kein Wort heraus, bis ich dann mit meinen 14 Jahren als stabil eingestuft und entlassen wurde.

Die Sozialhelferin hat sich für mich eingesetzt und eine Familie gefunden, die mich adoptieren wollte. Sie hat extra darauf ge-achtet, dass es kein männliches Familienmitglied gibt, damit ich besser mit der ganzen Situation klarkomme.

Helena, Claire und Mandy sind wirklich das Beste, was mir passieren konnte. Ich habe mich wirklich zuhause gefühlt und wurde trotz meiner Vergangenheit akzeptiert.

Am Ende kommen mir die Tränen. »Und als ich ihn vor dem Primes Technology Enterprises Gebäude gesehen habe, sind mir direkt die ganzen Bilder von ihm –«, ich unterbreche mich, um wegzusehen. »Deswegen bin ich damals umgekippt.«

Darren hört mir aufmerksam zu, bis ich nichts mehr sage. »Du hattest Angst, dass er dir wieder etwas antut«, spekuliert er.

Ein zustimmendes Nicken.

Plötzlich steht er auf, fordert mich auf, auch aufzustehen und verrückt die Couch, um Platz zu schaffen.

»Was tust du?«

»Ich bringe dir bei, wie du dich verteidigst«, antwortet er und kommt auf mich zu.

Dich verteidigen?

»Mich verteidigen?«

»Ja, du bist eine starke Frau und solltest dich im Notfall verteidigen können.«

Gar keine schlechte Idee.

Meinst du echt?

Klar.

Na dann.

Zuerst zeigt er mir ein paar Grundgriffe, Schritte, Tritte und Schläge, bevor wir eine halbe Stunde später diese in einem gespielten Kampf einsetzen. Er greift meinen linken Unterarm, wirbelt mich umher und flüstert mir etwas von hinten in mein Ohr.

»Du musst deine linke Seite besser schützen«, meint er, während er meinen Arm fest im Griff hat und ihn an meinen Rücken drückt. Wir verweilen so einen Moment.

Du verzehrst dich nach ihm, meldet sich The Voice zu Wort.

Und wie, gebe ich zu.

Ich drehe meinen Kopf zu Darren, der gefährlich dicht hinter mir steht.

»Kannst du bitte –«, ich will meinen Arm aus seinem Griff losbekommen, doch er drückt nur fester zu.

»Mach dich los, verteidige dich.«

»Das versuche ich doch«, sage ich verzweifelt und ziehe wieder meinen Arm.

»Verwende die Tritte und Schläge, die ich dir gezeigt habe.«

Wieso flüstert er seine Worte so betörend? Das macht mich fertig ...

Gesagt getan, ich kicke meinen Ellenbogen in Richtung seiner Rippen, trete ihm auf den Fuß, sodass er mich loslassen muss. Als er dies tut, drehe ich mich zu ihm, lege meine Hände auf seine Brust und schubse ihn zu Boden.

Schnappartig atme ich ein und aus, als ich es geschafft habe und freue mich.

»Hast du super gemacht«, krächzt er und hält sich sein Schulterblatt. Neben ihm sehe ich, wie die Ecke des Glastisches mit etwas Blut verschmiert ist.

Wow, du hast ihn verletzt, das hätte ich nicht von dir erwartet. »Oh mein Gott, Darren.«

Schnell laufe ich auf ihn zu. Sein weißes Hemd fängt an seiner rechten Schulter an zu bluten.

»Das tut mir so leid«, ich helfe ihm, aufzustehen und sich auf die Couch zu setzen.

»Es braucht dir nicht leidzutun. Ich bin stolz auf dich, du hast dich verteidigt.« Er sieht mich eindringlich an, bevor er blinzelt und wegschaut.

Ich räuspere mich und frage, wo das Verbandszeug ist. Als ich wieder mit dem schwarzen Erste-Hilfe-Kasten ins Wohnzimmer

komme, knöpft er gerade den letzten Knopf seines Hemdes auf.

Vorsichtig lege ich meine Hände auf seine beiden Schultern und schiebe das Hemd gleichmäßig runter.

Nun sitzt er oberkörperfrei auf der Couchlehne.

Oh Gott ...

Ganz ruhig.

Ich kann nicht ruhig bleiben.

Doch du kannst und du wirst!

Ich schnappe mir Desinfektionsmittel aus dem Kasten und sprühe es auf seine Wunde.

Von ihm kommt kein Ton heraus, doch er folgt jeder meiner Bewegungen mit Argusaugen.

»Fertig«, flüstere ich, als ich seine Verletzung zu Ende verbinde.

Immer noch stehe ich vor ihm, während er mich dankend an-lächelt. Laut schlucke ich mein zusammengelaufenes Mundwasser runter.

Das Blau seiner Augen tobt nur so vor sich hin, als er mir
intensiv in meine braunen sieht.

Der Moment ist gekommen. Küsst euch! Noch so eine Chance kriegst du nicht.

Als hätte er The Voice gehört, steht er auf und stellt sich direkt vor mich. Die Begierde in seinen Augen ist deutlich zu erkennen, als sich diese von einem ruhigen Sommertag am Strand zu einem tobenden Ozean in der Nacht verwandeln.

Gerade als er seine Finger hebt und auf meine Wange legen will, klingelt ein Smartphone.

Was für ein verdammtes Klischee!

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