-18-

Mit immer noch keinem Schimmer, wo genau wir hinfahren,
starre ich aus dem Fenster. Wie kann er mich bedrohen, wenn er im Gefängnis sitzt?

Er meinte, er habe Freunde da draußen, erinnert mich die Stimme. Kenne ich diese ›Freunde‹? Von früher? Irgendjemanden, den ich als Kind getroffen habe?

Millionen Fragen schwirren mir durch den Kopf, und ich kann keine davon beantworten, außer einer: Wird er mich wieder
verletzen können?

Klare Antwort: Nein, denn Primes wird mich beschützen.

Von seiner Wut von vorhin überrumpelt, traue ich mich nicht, die Stille erneut zu durchbrechen. Es sind über eineinhalb Stunden vergangen, und wir haben bisher kein einziges Wort gewechselt. Bis jetzt zumindest.

»Wir sind gleich da.« Seine raue und zugleich ruhige Stimme bringt mich aus meinem Gedanken-Wirrwarr.

»Wo genau ist da?«, frage ich leicht verunsichert. Vor ungefähr einer Stunde habe ich das Schild ›Entering Virgina‹ beim Vorbeifahren gesehen.

»Winchester.«

»Winchester?«

»Ja, Winchester.«

»Was machen wir in Winchester?«

»Wir fahren zu meinen Eltern.«

»Was?«

Wie romantisch, er will dich seinen Eltern vorstellen.

Das ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für deinen Unsinn, The Voice.

Primes fährt langsamer und hält vor einem großen Haus.
Tief durchatmend schaltet er den Motor ab, bevor er zu mir
schaut und sich durch die Haare fährt.

»Hör zu Macey. Dieser kranke Kerl, der dich angegriffen
hat, hat anscheinend viele Freunde, die er manipulieren kann, dich zu bedrohen und vielleicht sogar, dir etwas anzutun. Des-wegen konntest du auf keinen Fall in D.C. bleiben. Das –«, er zeigt auf das große Haus vor uns, »ist ein sicherer Ort für dich.«

Er hält kurz inne und sucht mein Gesicht nach irgendetwas ab. Dann dreht er sich wieder nach vorne und hält das Lenkrad so fest zwischen den Händen, dass seine Fingerknöchel weiß hervor-treten.

»Meine Mutter wird sich um dich kümmern, bis ich den Kerl, der diesen Brief vor meinem Apartment abgelegt hat, auch hinter Gitter bringe.«

»Ich –«, fange ich an, werde aber von dem Geräusch einer sich öffnenden Tür unterbrochen. Primes lässt mich nicht ausreden, steigt aus dem Auto und geht auf eine etwas ältere Frau zu, die er dann liebevoll umarmt.

Ich steige ebenfalls aus dem Wagen und gehe zögernd auf die beiden zu. Beim Aussteigen bewundere ich das riesige Haus vor mir. Es ist von Bäumen, vielen schönen Pflanzen und Blumen

umgeben. Kein Wunder, dass sie sich so ein Haus leisten können, wenn Agent Primes' Vater der Besitzer von Primes Technology Enterprises ist.

»Oh. Sie müssen Miss Collins sein.« Die Stimme der Frau holt mich aus meiner Gedankenwelt. Breit lächelnd kommt sie auf mich zu und zieht mich in eine Umarmung.

Ich zwinge mir ein Lächeln auf, als sie mich wieder loslässt. Ich hasse Umarmungen, sie erinnern mich zu sehr an – na ja egal, ich hasse sie einfach.

Immer noch lächelnd korrigiere ich freundlich: »Bitte, Macey.«

»Macey«, wiederholt sie. »Kommt doch rein, ich gehe vor. Tut mir leid, das Essen steht auf dem Herd«, entschuldigt sie sich und verschwindet durch die Eingangstür.

»Niemand weiß, wie deine jetzige Lage ist. Ich habe nur
erwähnt, dass du für eine unbestimmte Zeit hierbleiben musst.«

Jetzige Lage ... Unbestimmte Zeit ... Und ich dachte, dein Leben kann gar nicht schlimmer werden.

Er lächelt mich aufmunternd an und schlendert ins Haus.
Immer noch überfordert von den letzten zwei Stunden gehe ich langsam auf die Tür zu. Als ich sie hinter mir schließen will, halte ich abrupt in der Bewegung inne.

Irgendwoher kenne ich diese Tür, sie kommt mir so bekannt vor.

Woher sollst du sie schon kennen? Du bist das erste Mal hier.

Stimmt. Ich schüttle den Kopf, um wieder klar denken zu
können, und folge den Stimmen, die anscheinend aus der Küche kommen.

Primes' Mutter rührt gerade irgendetwas in einem Topf um, während Primes seinen Zeigefinger in eine braune Masse taucht. Genau in dem Moment, in dem er seinen Finger hineinhält, dreht sich seine Mutter um.

»Darren Wynton Primes, zieh sofort deinen Finger aus meinem Teig!«, mahnt sie ihn.

Darren Wynton Primes.

Dieser Name zergeht auf der Zunge wie ein Eis an einem heißen Sommertag.

Er grinst und schleckt den Finger wie ein kleines Kind ab.

Verdammt, war das süß.

Sie schlägt ihm spielerisch auf seinen Oberarm, und er fängt an, zu lachen. Unwillkürlich muss ich auch lachen.

»Liebes, komm doch rein«, meint sie, als sie mich bemerkt.
Sofort verstummt Primes' Lachen, und er schaut mich mit ernster Miene an.

Warum so grimmig, Großer?

Zögernd gehe ich in die große Küche.

»Darren, reichst du mir den Kochlöffel, bitte.«

Er reicht ihr einen hölzernen Kochlöffel und sie dankt ihm.

»Schatz, willst du Macey nicht zeigen, wo ihr Zimmer ist?«

Nickend geht er an mir vorbei. »Kommen Sie, Miss Collins, ich zeige Ihnen, wo Sie demnächst schlafen werden.«

Wieso auf einmal so förmlich?

Im Flur nimmt er meine Tasche an sich und geht wortlos weiter. Am Ende des Flurs angekommen, öffnet er eine Tür und meint ausdruckslos: »Wenn du irgendetwas benötigst, brauchst du es nur zu sagen.«

Wieder dieser Wechsel.

Er geht ins Zimmer und legt meine Tasche auf das große Bett.

»D-Danke.«

»Eine Tür weiter ist das Badezimmer. Wenn du deine
Zahnbürste nicht eingepackt hast, im Schrank neben der Badewanne sind neue Zahnbürsten. Da sind auch sonst noch Sachen, an denen du dich bedienen kannst.«

»Ich habe meine Zahnbürste dabei. Danke.«

Er nickt nur.

Man bemerke die Seltsamkeit zwischen euch.

Ja, du hast Recht, es ist irgendwie komisch.

Unbehaglich schaue ich auf meine ineinander verschränkten Hände.

»Lass uns die Situation nicht verschlimmern und einfach
vergessen, was in meinem Apartment passiert ist«, meint er
gelassen und geht wieder an mir vorbei, wobei sich unsere
Schultern berühren. Einen kurzen Moment verweilt er an der Stelle und schaut auf mich runter, bevor er das Zimmer verlässt und mich alleine zurücklässt.

Das gerade war der Inbegriff von intensiv.

Wie soll ich bitte den beinahe-Kuss vergessen? Ich kann es nicht vergessen, es hat sich richtig angefühlt.

Nach meiner Vergewaltigung habe ich mich so isoliert, sodass ich niemanden an mich rangelassen habe, niemandem vertraut, geschweige denn überhaupt mit Männern Kontakt hatte. Bis uns meine Schwester Claire Matthew vorgestellt hat.

Irgendwann habe ich dann seinen besten Freund Jasper
kennengelernt, und wir waren oft zu viert aus. Jasper kommt, wie ich, ursprünglich aus England und das hat uns auf eine
unergründliche Weise verbunden, aber sonst habe ich mich nie zu einem Mann hingezogen gefühlt.

Bis jetzt. Bis ich Primes kennengelernt habe.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top