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Primes schließt die Tür zu seinem Apartment auf und geht hinein, ich folge ihm. Seinen Schlüssel legt er auf einen kleinen Tisch neben der Tür ab, dann tippt er irgendetwas in den Touchscreen an der Wand ein, und eine Stimme ertönt: »Alarm deaktiviert«, wobei ich mich leicht erschrecke.
Ich sehe mich um. Es ist schön hier. Das Wohnzimmer ist groß und elegant eingerichtet, getrennt mit einer Halbwand, hinter der sich die Küche befindet, die ebenfalls modern aussieht.
»Setz dich«, Primes lässt mich alleine stehen und verschwindet durch den Flur in ein Zimmer.
Es wirkt alles rein und ist ordentlich. Ich frage mich, wer es eingerichtet hat.
Dein Ernst? Das ist, was du wissen willst?
Ja. Seine Frau, Freundin, Lebensgefährtin?
Oh, so denkst du also. Ist da jemand auf eine, vielleicht imaginäre, Frau eifersüchtig?
Was? Nein!
Vergiss bei deinen Lügen nicht, dass du ich bist und ich du bin. Wir sind eins.
Ich setze mich auf die Couch und gehe dabei nicht weiter auf The Voice ein. Im Blickwinkel sehe ich, wie Primes mit etwas in der Hand ins Wohnzimmer kommt. Er öffnet eine kleine Kiste, die sich als einen Erste-Hilfe-Kasten entpuppt und holt eine Flasche raus. Vorsichtig nimmt er meine Hand in seine und kippt die braune Flüssigkeit aus der Flasche auf meine Hand, wobei ich das Gesicht verziehe. Es brennt.
»Auu ... «, hauche ich.
Er tupft die Stelle ab und verbindet behutsam meine verletzte Hand mit einem weißen Verband.
»Dankeschön«, flüstere ich.
Ohne mich anzuschauen, sagt er leicht grinsend: »Du sollst uns hier ja nicht verbluten.«
Er packt alles wieder in den Kasten und steht auf. »Komm«, sagt er fordernd.
Was soll das? Kennt er das Wort ›Bitte‹ nicht? Dieser Befehlston geht zu weit.
»Bitte«, sprudelt es aus mir heraus, ohne dass ich es verhindern kann.
Mit hochgezogenen Augenbrauen dreht er sich um. »Wie
bitte?«
»I-Ich meine nur, Sie haben nicht ›Bitte‹ gesagt.« Jetzt komme ich mir dumm vor.
Das hört sich ein wie ein weinerliches Kind ›Du hast nicht Bitte gesagt‹.
Danke, The Voice.
Kein Problem, immer wieder gerne.
Ohne jegliche Antwort geht er los. Ich fühle, wie meine
Wangen rot werden. Beschämt hänge ich mich an seine Fersen. Im Flur sind vier Türen. Links zwei und rechts auch zwei, aber mit größerem Abstand. Er öffnet die zweite Tür rechts, ohne
reinzugehen.
»Hier kannst du schlafen. Wenn du etwas brauchst, ich bin
nebenan«, sagt er und geht.
Ich lege die Arme um meinen Körper und betrachte den Raum.
Wow, das Zimmer ist wunderschön.
Ich lege mich auf das Bett und frage mich, wem das
Schlafzimmer wohl gehört. Und mit diesem Gedanken vergesse ich für ein paar Sekunden alles und schließe die Augen.
Claire weckt mich auf. »Macey Macey, wach auf«, rüttelt sie mich.
»Was ist denn los?«
Sie zieht an meinem Arm. »Beeil dich, wir kommen zu spät.«
Warum zu spät, was meint sie?
»Wohin gehen wir?«
»Komm einfach schnell.«
Wir laufen die Treppen hoch, dann öffnet sich eine Tür, und ich befinde mich in meinem alten Zimmer. Ich sehe an mir hinunter. Plötzlich bin ich wieder 10 Jahre alt.
»May«, grinst er.
Jemand schubst mich von hinten. »Los geh schon.« Es ist Primes.
Ich drehe mich zu ihm. »Nein, nein, ich will nicht«, flehe ich ihn an.
Dann höre ich wieder seine Stimme. »Es wird schon nicht so schlimm.«
Ich wende mich wieder zu ihm. Er kommt langsam auf mich zu und sofort steigt mir der Geruch vom billigen Fusel, den er immer trinkt, in die Nase.
Nein. Nein, das ist nicht echt. Das passiert nicht wirklich ...
»Nein!« Ich schreie aus voller Kehle. Meine Stirn ist schweißnass
und meine Hände zittern.
»Es war nur ein Alptraum.« Primes schüttelt mich.
Ein Alptraum. Ja, es war nur ein Alptraum.
Ich sehe, wie er mich mitleidig anstarrt. »Alles in Ordnung?«
Ich nicke bloß.
Was soll ich schon sagen? ›Nein, es ist nicht alles in Ordnung, er hat mich vergewaltigt und jetzt, nach 12 Jahren, erscheint er urplötzlich wieder in meinem Leben, will mich erschießen, und ich kann nichts machen. Denn ich bin nutzlos, nutzlos und dumm.‹
Primes weiß nichts von der Vergewaltigung, denn ich habe der Dame, die mich befragt hatte, gebeten, dass es niemand außer dem Director erfahren soll.
»Tut mir leid, dass ich Sie geweckt habe.«
»Alles gut, ich war schon wach«, antwortet er sanft und schlendert aus dem Zimmer, wobei er die Tür offenlässt.
Ich schaue ihm hinterher, während ich mich auf die Bettkante setze und seufze. Nachdem ich mich einigermaßen beruhigt habe, stehe ich auf und folge ihm in die Küche.
Er reicht mir eine Tasse Kaffee, die ich dankend annehme.
»Was wird jetzt passieren?«, frage ich unwissend.
»Die Ermittlungen laufen. Da er hinter Gittern ist, kann er nicht viel anstellen.« Ich nicke leicht.
»Du solltest dich ausruhen, morgen wird ein anstrengender Tag.«
»Was ist morgen? Muss ich wieder aussagen?«
»Nein, du musst ihn identifizieren.«
»Was? Ich muss ihn sehen?«, stoße ich voller Entsetzen aus. Die Kaffeetasse in meiner zitternden Hand fällt fast auf die
Küchentheke.
»Ich habe dem Director gesagt, dass ich es machen könnte, aber er hat gemeint, dass –« Er schaut in seine Tasse, damit er mich nicht anschauen muss. »Das Opfer den Täter identifizieren müsse.« ›Opfer‹ ... deswegen wollte er dich nicht ansehen.
»Ich-Ich kann das nicht. Ich kann ihn nicht wiedersehen!«
»Er wird dich nicht sehen können. Das muss sein. Du musst ihn identifizieren. So verlangt es das Gesetz.«
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