Kapitel 8 ~ Familiendiskussionen
🦋
Jasper
„Du hast was getan?“, rief Rosalie am Nachmittag aufgebracht und schien mich mit dem wütenden Blick aus ihren mandelförmigen Augen beinahe erdolchen zu wollen.
„Sie zu uns eingeladen“, wiederholte ich, nach wie vor die Ruhe selbst, denn ich war ihre Ausbrüche bereits gewohnt. So reagierte sie immer, bei jeder Kleinigkeit, die sie nicht nachvollziehen konnte und die sie für falsch oder nicht klug hielt. Also so ziemlich ständig. Es war nichts Ungewöhnliches.
„Du bist doch komplett irre!“, beschimpfte sie mich und tigerte unruhig durch den Raum. Emmett, der sich wie immer komplett aus unseren Diskussionen raushielt, versuchte, sie zu beruhigen, indem er sie an sich ziehen wollte, aber sie schlug seine Hände einfach weg.
„Wie bescheuert kann man nur sein!“, schimpfte die blondhaarige Schönheit weiter, während sich Carlisle an mich wandte.
„Ich sage es nicht gerne, Jasper, aber ich muss Rosalie in diesem Fall Recht geben. Was hast du dir nur dabei gedacht, einen Mensch zu uns nach Hause einzuladen?“, erkundigte er sich und obwohl er es relativ sachlich ausdrückte, hörte ich doch den Vorwurf heraus, der sich in seinen Worten versteckte. Zudem spürte ich seine Sorge, die dem Schutz unserer Familie galt und ich verstand natürlich, worauf er hinaus wollte.
Es war ein unkalkulierbares Risiko für uns, einen Menschen in unserem Haus zu haben. Nicht nur, weil wir es gewöhnt waren, uns in unseren eigenen vier Wänden normal zu verhalten und es mit der einzige Ort war, an dem wir keine Maske aufrecht erhalten mussten. Es konnte auch für das Menschenmädchen gefährlich werden, wenn sie sich ungeschützt unter einem Haufen kultivierter Wilder aufhielt, deren Hauptnahrungsmittel das war, was sie am Leben hielt. Dennoch bereute ich meine Entscheidung nicht, denn es war die einzige Möglichkeit, dieses Literaturprojekt hoffentlich einigermaßen Komplikationsfrei über die Bühne zu bringen.
„Ich sah es als einzige Möglichkeit, die mir blieb. Oder hätte ich mich lieber mit ihr alleine in ihrem Zuhause treffen sollen?“, stellte ich also eine rhetorische Frage an meine Familienmitglieder.
„Um Himmels Willen, nein!“, rief da auch sogleich Esme aus. „In eine solche Gefahr kannst du das Mädchen doch nicht bringen!“
Ich ignorierte den Stich, den mir ihre Worte versetzten. Es zeigte mir nur wieder auf, dass ich das schwächste Glied in unserer Familie war und dass niemand der anderen mir richtig vertraute. Es war die eine Sache, dass ich mir selber nicht über den Weg traute, aber es war etwas völlig anderes, wenn die eigene Familie nicht an dich glaubte.
„Wieso hast du dich überhaupt dazu entschieden, dieses dämliche Projekt mit ihr zu machen?“, mischte sich jetzt auch Alice ein und beobachtete mich abwartend.
„Ich habe mich nicht dazu entschieden“, korrigierte ich sie sogleich. „Wir wurden dazu eingeteilt. Ich hatte keine andere Wahl.“
Edward schnaubte.
„Er lügt. Er steht auf die Kleine!“, informierte er die anderen und am liebsten wäre ich ihm an die Gurgel gegangen. Es war schon schlimm genug, dass er unsere Gedanken lesen konnte, aber dann konnte er sie doch wenigstens einmal für sich behalten!
Carlisle, dessen Gesichtszüge aufgrund von Edwards Aussage entgleist waren, war offensichtlich alles andere als begeistert darüber.
„Stimmt das, was Edward sagt?“, hakte er nach, obwohl er genau wusste, dass Edward nie lügen würde. Er wollte es nur aus meinem Mund hören, vermutlich, damit ich mir selber bewusst wurde, wie dumm das war. Dabei wusste ich das. Ich verstand mich selber nicht mal richtig. Dieses Mädchen hatte mich vom ersten Moment an fasziniert. Sie war so anders als all die anderen Menschen. Sie war fröhlich, lachte viel und sagte stets das, was ihr gerade durch den Kopf ging. Zudem war sie klug und konnte klassische Gedichte rezitieren, die weit vor ihrer Zeit entstanden waren. Und irgendwie schien sie immun gegen die natürliche Anziehungskraft zu sein, die Wesen wie wir eigentlich innehatten.
„Ich stehe nicht auf sie“, korrigierte ich die Aussage meines sogenannten Adoptivbruders. „Sie fasziniert mich bloß“, stellte ich klar, was Rosalie aufgebracht schnauben ließ.
„Mich fasziniert mein potentielles Mittagessen auch! Aber deswegen bringe ich es doch nicht mit nach Hause und stelle es meinen Eltern vor! Das ist ja wie bei einem Reh, dass man aus seinem natürlichen Habitat direkt auf die Schlachtbank führt!“, murrte sie nach wie vor aufgebracht.
Zumindest war sie mittlerweile stehen geblieben und hatte einen Arm um Emmetts Taille geschlungen, was mir zu Gute kam. Der Dunkelhaarige Hüne hatte schon immer eine beruhigende Wirkung auf Rosalie gehabt, mehr, als ich es je mit meiner Gabe würde hinbekommen können. Was die Kraft der Liebe alles bewirken konnte.
Carlisle, der sich inzwischen wieder gefangen hatte, sah meine angebliche Zwillingsschwester mahnend an.
„Es steht uns nicht zu, über Jaspers Entscheidungen zu urteilen“, verkündete er und innerlich dankte ich ihm dafür, dass er stets so diplomatisch war. Dann wand er sich an mich.
„Das Mädchen darf uns besuchen kommen. Aber ich warne dich, Jasper. Ich werde euch im Auge behalten und sollte ich merken, dass du dich nicht unter Kontrolle hast oder dass sie irgendetwas ahnt, werde ich sie auf direktem Weg nach Hause bringen und du wirst ihr nie wieder zu nahe kommen, verstanden? Ich hoffe, du bist klug genug um zu erkennen, dass so ein schwaches Wesen, wie die Menschen es sind, nicht dafür gemacht ist, um eine Beziehung mit einem Vampir zu führen!“, belehrte er mich und ich nickte zustimmend, denn ich hatte keine Lust mehr, weiter zu diskutieren.
Meine Familie übertrieb mal wieder maßlos, denn ich hatte nicht einmal vor, eine Beziehung zu diesem Mädchen einzugehen. Ich wollte sie lediglich etwas besser kennen lernen und mit ihr dieses Projekt machen. Zumindest redete ich mir das ein und ich nahm mir fest vor, mich nach Beendigung unseres Literaturprojekts von ihr fernzuhalten.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top