•9•
Valencia 1717
Mit wackeligen Beinen laufe ich näher auf den gemeisselten Stein zu.
Wie jedes Mal versucht mein Körper sich regelros zu weigern nur einen Schritt an diesen Ort zu setzen, doch ist es meine einzige Verbindung zu dem Mann, der mir mein Leben geschenkt und mich bedingungslos geliebt hat.
Die letzten paar Meter fühlen sich an, als würden tonnenschwere Steine auf meinen Schultern lasten und doch schaffe ich es nun auf den Brocken niederzuschauen, der die letzte Ruhestätte meines verlorenen Vaters symbolisiert.
Meine Beine versagen mir den Dienst und schlagen auf den weichen Erdboden auf. Doch es interessiert mich nicht.
Jahr für Jahr fällt hier meine Schutzmauer runter, die ich mir so hart erarbeitet habe. Selbst vor Valeria halte ich sie aufrecht. Wieso sollte ich auch meiner kleinen Schwester meinen Schmerz aufbürden wollen, wenn sie rein gar nichts dafür kann?
„Hallo Vater.", flüstere ich mit bebenden Lippen. Normalerweise müsste ich mich an diese Situation gewöhnt haben, doch mein Herz will es einfach nicht akzeptieren, dass der wichtigste Mensch in meinem Leben schon seit Jahren nicht mehr da ist.
Auch wenn diese Stelle meine Schwester nun eingenommen hat, liegt der Schmerz noch stark auf meinem Herzen.
Zumal genau heute vor einem Jahr meine beste Freundin gegangen ist um einen Mann zu heiraten, den sie davor nicht kannte.
„Auch wenn ich es jedes Mal wieder sage...aber ich vermisse dich."
Meine Lippen beben und die Tränen laufen ununterbrochen über mein Gesicht.
Nach all den Jahren habe ich es noch immer nicht verkraftet, dass mein grosses Vorbild tot sein soll. Wahrscheinlich werde ich es auch nie, bis ich seinen leblosen Körper mit eigenen Augen gesehen habe...
„Weisst du, genau vor einem Jahr ist Roxy auch gegangen. Ich frage mich wie es ihr geht. Ob ihr Mann sich gut um sie kümmert, denn gehört habe ich seitdem nichts mehr von ihr. Eigentlich hätte ich es wissen müssen, aber ich hatte die Hoffnung, dass...dass ich mich irre. So wie alle sich irren, dass du nicht mehr bei uns bist."
Schluchzend lege ich meine Arme um meine Beine und fühle mich wie ein kleines Kind, was einfach nur von ihrem Vater oder ihrer Mutter in den Arm genommen werden will.
„Alles ist schlimmer geworden, seitdem du weg bist. Mutter interessiert sich nun überhaupt nicht mehr für mich und selbst Valeria schenkt sie kaum noch Aufmerksamkeit. Wie kann eine Mutter so etwas tun!? Nicht nur sie hat dich verloren, sondern auch wir. Sollten wir dann nicht zusammenhalten?"
Mit einem traurigen Lachen wische ich mir mit meiner Hand über meine nassen Wangen.
„Das Einzige, was sie noch zustande bringt ist, dass wir immer Geld für Essen haben. Als würden wir nur aneinander vorbeileben. Ist das noch eine Familie!?"
Ich löse nun meine Arme komplett und nehme die Blumen, die ich hab auf den Boden fallen lassen, um sie auf das Grab zu legen.
Hart schluckend streiche ich mit meinen Fingern über den Namen, der reingehauen wurde.
„Warum muss das Leben so unfair sein? Wieso hat man uns dich genommen? Ich schaff das alles doch nicht ohne dich."
Ungehalten laufen die Tränen über mein Gesicht.
Seitdem er tot ist fühlt es sich an, als wären wir in einem anderen Leben. Die Mutter ist von der Hausfrau zur freien Hure geworden. Die älteste Tochter ist nun die Mutter, die sich um das jüngere Geschwisterkind kümmert, obwohl es selbst noch nicht vollkommen erwachsen sein sollte.
„Wie sehr wünschte ich mir du würdest vor mir stehen. Mir sagen, was ich tun soll. Wie schaffe ich es meine Mutter zur Vernunft zu bringen? Wie kann ich Valeria gerecht werden? Jeder denkt ich wäre so eine starke und selbstbewusste Frau. Keiner sieht den Schmerz, den ich Tag für Tag mit mir trage..."
Ich schrecke auf, als ich Schritte höre, die immer näher kommen. Schnell stehe ich auf und laufe auf einen Baum zu, hinter dem ich mich verstecke.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich das tue. Es ist auch nicht das erste Mal, dass diese Person hierher kommt.
Sie tut es mindestens genauso oft wie ich, denn auch sie vermisst ihn so sehr wie ich es tue. Und doch stößt sie mich so weg, als wäre ich ein lästiges Übel, was man abschütteln muss.
Meine Mutter kniet sich auf die gleiche Stelle wie ich und fängt an zu weinen. Nur hier sehe ich ihre wahren Gefühle, denn ich glaube, dass sie nur meinen Vater wirklich geliebt hat. Ihr trauriges Gesicht und die Tränen in den Augen machen mich fertig, auch wenn es das nicht tun sollte.
Meine Gefühle für meine Mutter haben sich schon vor Jahren verabschiedet. Um genau zu sein an dem Tag, an dem sie mir ins Gesicht gesagt hat sie hätte keine Töchter mehr.
Wie kann man nur so grausam sein und sein eigen Fleisch und Blut von sich stoßen!?
Und doch bricht es mir das Herz sie dort so weinen zu sehen.
Ein Teil von mir würde jetzt zu ihr gehen und sie in die Arme nehmen. Doch der andere, überwiegende Part sieht nur eine gebrochene Frau, die sich von allen anderen abgewandt hat und nur noch für sich selbst lebt.
------
Schweren Herzens gehe ich leise auf den Ausgang zu, damit sie mich nicht hören oder sehen kann.
Um die Hinweise zu vertuschen wische ich mir vorsichtshalber nochmals über mein Gesicht und fahre durch meine Haare, bevor ich mich auf den Rückweg nach Hause mache.
Valeria hat heute wieder unserer Nachbarin geholfen, worauf ich sehr stolz bin. An sich ist sie ein höfliches und zuvorkommendes Mädchen geworden. Ab und zu fühle ich mich tatsächlich wie eine Mutter, die auf ihre Tochter stolz ist.
Dieser Gedanke schenkt mir ein Lächeln, was grade passend erscheint, da einige Stadtbewohner an mir vorbeilaufen und mich begrüßen.
Die Grabstätte von meinem Vater liegt ziemlich abseits, wodurch kaum einer in der Stadt davon weiß, dass er für tot erklärt worden ist. Zum Vorteil in manchen Situationen, wenn beispielsweise junge Männer versuchen meine Gunst zu gewinnen...
Als die alte Dame kurze Zeit später mir die Tür öffnet legt sich ein breites Grinsen auf ihr Gesicht.
„Hallo Liebes. Komm doch rein, deine Schwester ist gleich soweit."
Höflich nickend folge ich ihr und sehe Valeria, wie sie grade den letzten Bissen ihres Mittagessens in den Mund schiebt.
„Willst du auch noch einen Happen essen?"
Ihr leicht besorgter Blick entgeht mir bei der Frage nicht.
„Nein danke. Ich wollte sie nur abholen, der Tag war ziemlich nervenaufreibend."
Da sie eine der einzigen Personen ist, die von dem Grab wissen, sagt sie nichts weiter dazu und wendet sich zu meiner Schwester.
„Nun gut Kind. Wir sehen uns die Tage in Ordnung?"
Dabei zwinkert sie ihr schelmisch zu, worauf ich mir ein Augen verdrehen unterdrücken muss.
In unserem Haus drinnen gehe ich direkt in das Arbeitszimmer von unserem Vater und setze mich auf seinen Platz.
Mein Blick richtet sich aus dem Fenster, als genau in dem Moment die Sonne kräftig zu mir durch das Fenster scheint.
Mit einem kleinen Lächeln stelle ich mir vor es würde von ihm kommen. Als wäre es ein Zeichen, wir wären nicht allein und er würde über uns wachen, egal wo er grade ist.
Und genau der Gedanke gibt mir neue Kraft - so wie er es immer getan hat.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top