•40•
Mit zerrüttelten Gefühlen stehe ich am Steg und sehe zu wie das Schiff, welches ich die letzten Jahre als mein Zuhause bezeichnen durfte, davonsegelt. Joe, Smith, selbst die Knaben, die immer mit vollster Energie über das Deck gefegt sind, sie fehlen mir jetzt schon. Ich weiß jetzt schon nicht, wie ich es ohne den ganzen Trubel und die Männer um mich herum aushalten soll.
Der einzige Trost ist, dass Valeria in dem Moment neben mir steht und ebenfalls sehnsüchtig dem spektakulären Schiff hinterher sieht. Ihr Gesicht spiegelt genau das wieder, was sich in meinem Inneren abspielt - wir beide wollen nichts mehr als wieder auf dieses zurück. In unser altes neues Leben auf dem Meer.
„Was machen wir, solange wir in Valencia sind?"
Sie sieht mit einem unsicheren Ausdruck zu mir und ich brauche einen Moment, da ich zuerst nicht die richtigen Worte finden kann. Denn genau dieselbe Frage habe ich mir selbst bereits gestellt.
„Warten. Wir werden warten, bis sie zurückkommen. Und solange können wir ja schauen, was sich so in der Zeit geändert hat, in der wir fort gewesen sind."
Wenn auch skeptisch nickt sie mit ihrem Kopf, wodurch ihr offenes leicht mitwippt. Ich ziehe sie kurzerhand in meine Arme und stütze mein Kinn auf ihren Kopf. „Wir schaffen das schon. Wir lassen uns davon nicht runterziehen, ja?"
Als ich mich von ihr löse und in ihre mir so ähnlichen Augen blicke erkenne ich den Kämpfergeist, der sich in uns beiden mit der Zeit, die wir auf dem Schiff verbracht haben, entwickelt hat. Es bringt mich zum Lächeln und auch ihre Mundwinkel fangen an sich leicht zu heben.
Wir greifen nach unserem Gepäck und wenden uns um, auf den Weg zu unserem alten Zuhause. Zumindest hoffe ich, dass noch etwas davon übrig geblieben ist. Denn das erste, was mir aufgefallen ist, als das Schiff geankert ist, waren die vielen zerstörten Bereiche der Stadt. Und Stille. Eine beinahe beängstigende Stille, wie ich sie hier in all meinen Lebensjahren nicht erlebt habe.
Wir laufen einige Schritte vom Steg auf das Festland zu, bevor ich mich ein weiteres Mal Richtung Wasser wende und weit am Horizont das Schiff noch erblicken kann. Ich stelle mir vor wie mein Captain an der Reling steht, in unsere Richtung blickt und an mich denkt so wie ich an ihn. Ich weiß, dass es genau das sein wird, was mir den meisten Kummer bereiten wird. Ihn nicht mehr an meiner Seite zu wissen. Nacht für Nacht allein einzuschlafen und allein wieder aufzuwachen.
Jason ist wie eine Droge für mich geworden. Und ohne ihn zurecht zu kommen stellt mich auf einen eiskalten Entzug, der mir sicher durch Mark und Bein gehen wird.
„Sophia, kommst du?"
Nickend drehe ich mich endgültig um und überbrücke den Abstand zwischen uns, bis ich direkt neben ihr stehe und wir zusammen in Richtung der Gassen laufen. Je weiter wir in das Innere Valencias kommen umso mehr nehmen wir die fatalen Folgen der Engländer wahr. Die damals befüllten Straßen sind nahezu menschenleer, und sobald wir auf die ersten treffen, die mit gebundenen Tüchern um ihren Mund umher laufen, weiten sich geschockt meine Augen. Was ist alles geschehen?
„Verdeckt eure Nasen und Münder, Mädchen! Oder wollt ihr krank werden?", ruft uns ein Paar hinterher, welches uns misstrauisch mustert. Ich überlege nicht zwei Mal, sondern stelle meine Tasche hin und suche nach zwei Tüchern, wovon ich eines meiner Schwester entgegen halte. Diese sieht mich verunsichert an, tut es mir aber gleich und bindet sich das Tuch so gut wie nur möglich um Nase und Mund.
Prüfend sehe ich sie an, nicke dann zufrieden und greife nach meiner Tasche, als ich merke, dass der Mann und die Frau noch immer stehen und uns ansehen. Ich gehe einige Schritte auf sie zu, halte aber Abstand, als ich die erschrockenen Ausdrücke in ihren Augen erkenne.
„Was ist hier passiert?", frage ich, spreche etwas lauter, da meine Stimme durch das Tuch überdeckt wird. Sie sehen sich kurz an, ehe sie dann doch etwas näher kommen und uns genauer mustern.
Ihre Augen weiten sich und sie murmeln etwas Unverständliches. „Wie kann es sein, dass ihr noch lebt? Alle dachten, dass ihr mit eurer Mutter zusammen vor Jahren gestorben seid."
Ich merke wie Valeria sich neben mich stellt und den Kopf schüttelt. „Wir sind geflohen, bevor die Engländer kamen. Mutter wollte sich nicht helfen lassen... Wir hatten keine Wahl als sie hier zu lassen."
„Ihr hättet nicht zurückkommen dürfen. Ihr habt damit so gut wie euer Todesurteil besiegelt."
Traurig schüttelt die Dame ihren Kopf, sieht uns mitleidig an. „Nachdem die Engländer fortgingen und das Meiste von ihnen zerstört worden ist, dachten viele, dass es das Ende Valencias sei. Aber es haben mehr überlebt, als gedacht. Wir haben nach und nach versucht unsere Stadt wieder aufzubauen. Aber mit den vielen Toten ereilte das nächste Schicksal uns."
Sie deutet mit ihrem Finger um uns. „Die Überlebenden wurden krank. Kaum einer überlebte, sobald er ans Bett gefesselt gewesen ist. Zunächst waren es nur einzelne, doch schnell haben sich viele andere angesteckt. Deswegen tragen wir diese Tücher."
Sie nickt mit ihrem Kopf auf mein Tuch und seufzt auf. „Es ist das einzige Mittel, welches es uns davor schützt. Geht niemals ohne eines aus dem Haus. Berührt niemanden, der krank ist oder euch krank erscheint. Meist reichte nur eine einzelne Berührungen und es dauerte nicht lang, bis man selbst der Krankheit zum Opfer gefallen ist."
„Vermeidet Essen und Trinken von hier. Nehmt lieber den Marsch zur nächsten Stadt in Kauf. Dort erhaltet ihr Ware, die ihr ohne jegliche Probleme zu euch nehmen könnt. Ganz davon abgesehen, dass es eine Ewigkeit her ist, dass ein Schiff an unserer Küste angelegt hat."
„Danke für ihre Hilfe. Wir wissen es sehr zu schätzen.", bedanke ich mich bei ihnen und sehe zu Valeria, die ihnen zunickt. „Wissen Sie vielleicht, ob unser Haus noch steht?", ruft Valeria ihnen noch zu, noch ehe wir drei Schritte von ihnen entfernt sind. Sie sehen sich kurz an und nicken dann mit ihrem Kopf. „Es hat als eines der wenigen Häuser nur wenig von den Geschehnissen ertragen müssen. Ihr könnt euch glücklich schätzen."
Mit diesen Worten wenden sie sich nun gänzlich ab und laufen die Gasse weiter entlang. Wir machen uns weiter auf den Weg zu unserem Haus, in dem wir aufgewachsen sind. Was ich mich jedoch frage ist, warum die Menschen noch immer hier leben, wenn die Gefahr krank zu werden doch so hoch zu sein scheint.
Noch immer kenne ich den Weg zu unserem Kinderhaus in und auswendig. Selbst mit verbundenen Augen würde ich es finden können, so sehr hat sich der Weg in mein Gedächtnis eingebracht. Und tatsächlich - je näher wir kommen, desto weniger Schutterhaufen sind zu sehen. Dafür jedoch Menschen, die hustend umherlaufen oder sich, wie wir, mit einem Tuch um den Mund sowie die Nase versuchen zu schützen.
„Denkst du, es sieht noch so aus wie früher?"
Valeria sieht von der Seite zu mir und ich zucke mit den Schultern. „Das werden wir gleich sehen."
Um die nächste Ecke gehend kann ich bereits von weitem das Haus erkennen und verstehe nun auch, was das alte Paar damit meinte, dass unser Haus verschont worden ist. Als hätte es eine Schutzhülle um sich gehabt scheinen die Mäuer der benachbarten Häuser teilweise zerstört zu sein. Doch unser Heim? Kaum eine Macke ziert das Mauerwerk, es hat sich allen Strapazen widersetzen können.
Vor der Haustür bleiben wir stehen und versuchen die Tür zu öffnen, was auch ohne Probleme machbar ist. Im Gegensatz zum Äußeren erscheint das Innere jedoch wie ein Chaos. Umgestoßene Möbel, Staub und Dreck zieren den Boden, sowie offene Schränke und Schubladen sind im ganzen Haus zu finden. Was einerseits nichts verwunderlich ist, da entweder andere Menschen für einen gewissen Zeitraum hier gelebt haben müssen oder sie versucht haben für sie noch wertvolle Dinge zu erstöbern. Immerhin ging man davon aus, dass unsere gesamte Familie verstorben sei.
„Sophia!"
Beim Ruf von Valeria verlasse ich die Küche und finde sie in ihrem alten Kinderzimmer. Sie hält eine kleine ausgestopfte Puppe in den Händen, die sie mit glänzenden Augen betrachtet. Ich fange an zu lächeln, als ich sie mir näher ansehe, und lege meine Hand auf ihre Schulter.
„Sieht so aus, als hätte sie darauf gewartet, dass du wiederkommst und sie holst.", flüstere ich leise und stütze sie ab, als sie sich mit ihrem Körper an meinen lehnt.
„Ich dachte, dass ich sie verloren hätte. Schon bevor wir gingen habe ich sie verloren und jetzt? Wie kann sie plötzlich hier liegen!?"
„Hinterfrage nicht alles, sondern freue dich lieber, dass du dein eigenes Andenken an Vater wieder hast."
Ich gebe ihr einen Kuss auf die Schläfe, ehe ich sie allein lasse und mit meinem Gepäck zu meinem Zimmer gehe. Auch hier spiegelt sich das gleiche Bild wie im Rest des Hauses wieder, jedoch ist das Nichts, was wir nicht ordentlich bekommen würden. Selbst wenn unsere Mutter sich kaum wie eine verhalten hat, so hat sie uns dennoch einige Dinge mitgegeben, wenn auch eher unabsichtlich. Und Putzen kann denke ich jeder.
Meine Tasche stelle ich auf mein Bett, was durch das Gewicht dieser Staub in die Luft wirbelt. Ich huste einige Male auf, gehe dann an mein Fenster um dieses zu öffnen und so frische Luft hinein und den Staub, der umherwirbelt nach draußen zu lassen. Lehne mich mit meinen Armen auf der Fensterbank ab und sehe durch dieses hinaus auf die Stadt. Das einst so schöne Valencia hat seinen Glanz verloren, was einem Teil meines Herzens doch unerwartet weh tut. Schließlich habe ich hier den größten Teil meines Lebens verbracht und sie nun so verlassen und in Schutt zu sehen ist kein angenehmer Anblick.
Einige Minuten vergehen, bis ich mich zurück in die Küche begebe und nachsehe, ob wir noch so ausgestattet sind, dass wir vernünftig essen können. Glücklicherweise scheint man keinen großen Wert auf unsere Ausstattung gehabt zu haben, weswegen es sehr wahrscheinlich schon genügt den Dreck zu entfernen und alles wieder an seinen Platz zu legen, damit sie wieder genauso aussieht wie früher. Ich werfe einen Blick in die Tasche, die ich hier habe stehen lassen, und begutachte das Essen, welches uns Joe mit einem breiten Grinsen mitgegeben hat. Sein Essen werde ich auf jeden Fall vermissen und ganz sicher werde ich es umso mehr zu schätzen wissen, wenn unsere Zeit hier endgültig vorbei und Jason uns zurück an die Black Hell geholt hat.
Zum perfekten Zeitpunkt erscheint meine Schwester neben mir und sieht sich ebenfalls um, bis sie sich neben mich zur Tasche beugt und einen Apfel hervor nimmt. Sie beißt einmal genüsslich hinein, lehnt sich dann an den Tisch und sieht sich um. „Die alten Leute hatten recht. Wir haben wirklich Glück gehabt. Wir hätten sonst keinen Ort gehabt, wo wir hätten übernachten können."
„Genau dafür hat Jason mir die Münzen mitgegeben.", widerspreche ich ihr und deute auf den Beutel, der sich versteckt unter meiner Kleidung befindet. Vertrauen hin oder her, doch mit Dieben oder Räubern sollte man immer rechnen und grade diese Münzen sind überlebenswichtig für uns beide. Ich würde sogar behaupten, dass er uns viel zu viel mitgegeben hat, allerdings können wir auch nicht wissen wie lange es dauern wird, bis das Schiff wieder anlegen wird.
Es können lediglich Wochen sein, aber auch Monate.
Ich verschließe die Tasche wieder und stelle mich grinsend vor meine Schwester, die mich mit dem Stück Apfel im Mund kauen ansieht.
„Also, mit was wollen wir anfangen?"
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