Violet roses

Alice blickte sich um. Sie stand auf einer kleinen Lichtung, die von mehreren Erdhaufen bedeckt war. Der Mond leuchtete voll und hell auf sie herab, der Schnee auf den Bergen reflektierte das Licht und der Wind pfiff eisig um ihre Ohren. Frierend schmiegte sie sich enger in ihren Schall und zog die Kapuze hoch. Sie kannte diesen Ort, oft genug wurden hier die Toten begraben, sie Menschen, die sie nicht retten konnte. Sie wusste nicht, warum sie hier war, dieser Ort war schrecklich. Plötzlich erschienen Geister aus den Gräbern

"Du bist zu schwach" sagte eine Stimme,

"Du konntest uns nicht retten" rief eine andere.

"Ich bin zu jung ..." verteidigte sie sich verängstigt.

"Du bist die Tochter einer mächtigen Magierin, deine Mutter ist stark, du musst stärker sein" urteilte einer von ihnen.

"Ich kann nicht ..." flüsterte sie.

"DU MUSST!" schreien die Toten daraufhin im Chor.

"Liebes Kind. Du musst lernen, lerne mehr! Mehr! Du musst stärker werden!" übertönte die Stimme ihrer Mutter die Geister. Verzweifelt legte Alice ihre Hände auf die Ohren und sank zu Boden. "Du hast Erwartungen zu erfüllen! Streng dich gefälligst an. Willst du mich so enttäuschen wie Rin?" redete die Frau weiter und die Toten wiederholen wie ein Echo immer und immer wieder ihre Worte.

"LERNEN! LERNEN! DU BIST SCHWACH!" Tränen rollten über die Wangen des Mädchens.

"Ich kann nicht ... Ich bin nicht stark genug ..." plötzlich ergriffen kalte Finger ihr Kinn und hoben es an.

"Nichtmal mich konntest du retten ... so schwach bist du ... enttäuschend", die Augen der jungen Hexe trafen die braunen von Regina. Die braunen und leblosen Augen, umrahmt von einem Blut und dreckverschmierten Gesicht. Verzweifelt versuchte Alice Worte zu erfassen, einen Ton herauszubringen und irgendwie sich zu erklären. Sich zu entschuldigen. Aber sie schaffte es nicht, das Einzige wozu sie in der Lage war, war weinend auf dem Boden zu sitzen und die Frau anzustarren. Ein starker Windstoß blies ihr ohne Vorwarnung ins Gesicht. Vor Schreck hielt sie schützend die Arme vors Gesicht. Die Stimmen erloschen. Als das Mädchen die Augen wieder öffnete, erkannte sie denn Umriss von Rin, welche vor ihr und über all den Leichen der Menschen stand.

"Hast du sie umgebracht?" flüsterte sie leise zu ihrer Schwester, in der Angst, die Antwort zu erfahren. Hatte ihre Schwester wirklich Menschen umgebracht? Mehr als nur die Soldaten, die eine Gefahr darstellten? Warum konnte sie sich beim besten Willen nicht daran erinnern? Was war wirklich passiert?

"Was denkst du denn von mir?" fragte der Zwilling und kniete sich lächeln vor Alice.

"Vielleicht war es ja für dich. Du bist daran schuld, dass sie starben, nicht ich! Weil du schwach bist!" erklärte das Mädchen mit einem liebevollen Lächeln.

"HÖR AUF!" schrie die Hexe und versuchte nach Rin zu greifen, doch die Gestalt verschwamm und sie griff in die Leere. Ihre Hände landeten auf kalten Gestein. Sie saß in einem großen, steinernen Gang. Vorsichtig stand sie auf. Vor ihr war ein Licht. Unsicher ging sie darauf zu.

"ALICE!" rief eine Stimme aus der Dunkelheit hinter ihr. Unsicher blickte sie zurück.

"ALICE!" Nun waren es mehr als nur eine Person, die rief.

"ALICE!" wiederholte sich ein ganzer Chor. Der Boden bebte. Die Stimmen kamen näher und riefen unaufhörlich nach ihr. Panik flammte in ihr auf. Ohne zu zögern, rannte sie zu dem Licht. Vielleicht war es ein Ausgang. Doch egal wie lange sie rannte, sie kam nicht näher an das Licht. Der Gang war endlos, die Stimmen wurden lauter. Immer und immer lauter und das Licht verschwand. Ohne Vorwarnung umhüllte die Dunkelheit das Mädchen.

Schreiend schreckte Alice aus dem Schlaf, mit bebenden Herzen wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Panisch blickte sie sich in der Höhle um, bevor ihr bewusst wurde, wo sie war. Langsam ließ sie ein Licht in ihren Händen erscheinen, zuerst flackern es wie ein Feuer, weil sie nicht in der Lage war es zu halten, aber nach und nach beruhigte sich ihre Atmung und das Licht wurde klar. Die Kristalle an der Decke reflektierten wieder den Schein und das Wasser begann zu glitzern. Die Hexe wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, aber ihr Körper schmerzte nicht mehr so stark. Vermutlich hatte sie sich im Schlaf regeneriert. Vorsichtig stand sie auf und betastete ihren Körper, immer noch zuckte sie vor Schmerz zusammen, als sie ihre Wunden berührte, aber es war aushaltbar. Unsicher nahm sie die Höhle in Augenschein, sie wusste nicht, wohin sie gehen müsste, um herauszufinden, ohne essen würde sie sicherlich bald verhungern. Sie griff nach ihrer Tasche und überprüfte den stand. Für drei Tage hatte sie noch genug Essen dabei. Ob das gut oder schlecht war, wusste Alice nicht. Ohne zu zögern, füllte sie ihre Flasche und trank noch einen Schluck. Das Mädchen stockte, als sie ihr Spiegelbild erblickte. Nicht nur, dass sie unheimlich blass war und tiefe Augenringe besaß, was sie wirklich schockierte, waren ihre Haare. Die sonst so dunklen Strähnen, die ihr ins Gesicht fielen, waren schneeweiß. Es war ihr bisher nicht aufgefallen, doch jetzt sah sie es und sie verstand es nicht. Warum hatten sich ihre Haare verfärbt? Sie hatte ihre Fähigkeiten nicht in solch einem Ausmaß benutzt, dass ihr Körper solch einen Schaden nahm, oder etwas doch?

Unsicher löste sie den Blick von ihrem Spiegelbild. Die Grotte war wirklich groß, es würde eine Weile dauern sie komplett zu durchqueren. Etwas Besonderes fiel ihr ins Auge. Es gab sechs weiter Ausgänge, doch einer von ihnen war moosbewachsen. Es war ungewöhnlich, denn nur dort wuchs es, nirgendwo anders in der Höhle und schon zuvor hatte sie es in ihrem Gang entdeckt. Vielleicht gab es dort irgendwo einen Ausgang. Hoffnung durchströmte sie. Auch wenn sie nicht wusste, was sie tun sollte, wenn sie aus der Höhle kam, sie musste es wenigstens versuchen. Dann müsste sie eh erst herausfinden, wo sie war und daraufhin würde sie entscheiden, wohin es dann gehen wird.

Sie lief um das große Gewässer in der Höhle, lauschte dem leisen Plätschern und beobachtete das Glitzern des Wassers. Es war ruhig, niemand war an diesem Ort und es war womöglich lange her gewesen das jemand zuletzt hier gewesen war. Nach einiger Zeit kam sie an den Ausgang an, vorsichtig legte sie ihre Hand auf das Moos, es war weich und feucht. Ein Teil der Energie floss unbeabsichtigt in sie hinein, dieses Gewächs strömte nur so von überschüssiger Magie. Entweder der ganze Ort war aufgeladen oder das Moos war nicht natürlich entstanden. Leicht deprimiert schaute sie in den langen, dunklen Gang vor ihr. Seufzend verließ sie die Höhle und es wurde sofort dunkler, daher dass die Kristalle nicht mehr ihr Licht reflektieren konnten. Dieser Weg war genauso grau und eintönig wie der aus dem sie gekommen war. Stellenweise wuchsen auch hier Fetzen von Moos und aus kleinen Spalten spross Grass. Je weiter sie lief, desto mehr Pflanzen wurden es. Alice wurde immer neugieriger, was auf der anderen Seite des Tunnels lag. Ihre Schritte beschleunigten sich. Es fühlte sich wie eine weitere kleine Ewigkeit an, bis sich ihre Umgebung veränderte. 

Diesmal war es eine kleinere Höhle als die Vorherige. Auch hier war die Decke mit Kristallen übersät, die Wände enthielten Schriftzeichen und Runen. In der Mitte des Raumes stand ein steinernes Kreuz, davor wuchsen violette Rosen. Sie ließ ihre Finger über die Runen im Gestein fahren, während sie an der Wand entlang, durch den Raum schritt. Leicht kribbelten ihre Finger als sie über die Zeichen fuhr. Interessiert näherte sie sich, nicht oft sah man solche Blumen und sie fragte sich, wer dies hier erschaffen hatte und zu welchem Zweck. In dem Moment als sie die Rose berührte, bebte die ganze Höhle, ein lautes Donnern grollte durch die Gänge. Erschrocken fuhr die Hexe zurück und zückte ihren Dolch. Das Dröhnen wurde immer lauter und Gestalten erschienen in der Dunkelheit. Rote und Grüne Augen leuchteten sie an. Zwergen ähnliche Wesen bildeten einen Kreis vor ihr und schauten sie grimmig an. Das Mädchen konnte zwei Gruppen ausmachen, ein Teil, der Unbekannten war komplett aus Pflanzen, Körper die aussahen wie Bäume und Rinde, Haare aus Ästen und Blättern und Haut aus Moos, und die Anderen sahen aus wie Feuer. Kleine steinerne Wesen welche mit Glut, Lava und Feuer übersät waren. Es waren keine Menschen, es waren Kreaturen aus reiner Magie. Ihr Blick wanderte zu dem Kreuz. Dies hier war eine Grabstätte. Diese Wesen beschützen und ehrten ihren längst verstorbenen Magier.

"Ruhe in Frieden" flüsterte die Hexe, kniete sich erneut vor das Grab und ließ eine weitere violette Rose wachsen. Eine Träne lief über ihre Wange, das Bild von Regina erschien in ihrem Kopf, obwohl die Frau immer versucht hatte eine gute und starke Anführerin zu sein, war sie auch eine gute Freundin gewesen. Mit einem traurigen Lächeln ließ sie eine weitere Rose erscheinen, nur dieses Mal eine blaue, im Wissen, dass die Erwachsene sie gemocht hätte. Die Wesen neigten ebenfalls ehrenvoll den Kopf.

"Danke" flüsterten sie alle leise und verschwanden wieder in den tiefen der Höhle. Ein Weg aus Blumen erschien auf dem Boden. Mit einem Lächeln lief sie dem Weg lang, es war eine seltsame und dennoch herzergreifende Begegnung gewesen. Sie fragt sich, wie lange diese Kreaturen nun schon durch diese Höhlen wanderten und ihren Magier dienten. Diese Person muss wirklich mächtig gewesen sein, wenn so viele ihrer Diener noch nach deren Ableben weiter existieren. Der Weg ging steil nach oben, je weiter sie ging, desto klarer wurde die Luft und irgendwann erkannte sie sogar schon den Ausgang. Erleichtert lief sie ins Freie und atmete die frische Luft tief ein. Es war Nacht. Der Mond schien hell auf sie herab und der starke Geruch des Nadelwaldes füllte ihre Nase. Es war einer der schönsten Gerüche. Nadelwälder. Viel angenehmer empfand Alice aber die Luft der Berge, ihrer Heimat. Leider waren die Berge weit weg und schienen unerreichbar. Das Mädchen wusste nicht mal, wo sie im Moment war und wohin sie gehen sollte. War sie überhaupt noch in Agaria oder längst an einem anderen Ort. Leise seufzte sie. Regina hätte gewusst, wohin sie gehen sollten, die Erwachsene hätte zuversichtlich ein Lächeln aufgesetzt und wäre willkürlich in eine Richtung gelaufen, im Glauben, dass es der richtige Weg war, selbst wenn niemand mehr wusste, wo sie waren, die Frau gab nicht auf, lächelte und führte weiter. Erneut rollten Tränen über die Wangen des Mädchens. Wenn sie stark genug gewesen wäre sie zu beschützen, wäre all dies nicht passiert. Sie hätte einfach in dem Feuer damals sterben sollen. Dann hätte sie nie jemanden leid zugefügt, weder Regina, die nun Tod war, noch die anderen, die sich womöglich Sorgen um sie machen wurden.

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