Kapitel 2

Es dauerte eine Weile, bis ich mich wieder gefasst hatte.
Langsam bewegte ich meine Finger, dann meine Arme und Schultern. Ein Kribbeln rann durch meine Adern. Schließlich, als ich das Gefühl hatte, meinen Körper unter Kontrolle zu haben, stützte ich mich auf den Lederhocker, der unter meinem Gewicht knarzte, und erhob ich mich mit wackelnden Knien. Ich gab dem Drang nach, mich zu vergewissern, dass ich immer noch ich war. So trugen mich meine Schritte wie von selbst vor die Glasvitrine an der linken Wand.
Die Reflexion meines Spiegelbilds, nach dessen Anblick ich mich gesehnt hatte, blinzelte mir in den Türen träge entgegen. Hinter ihm drängten sich einzelne Tassen und Teller in die Fächer des Ebenholzschrankes. Jedes einzelne Stück mit anderem Muster, manche mit Rissen, Farben, die sich langsam lösten und einem Film aus Staub. Sie hatten trotzdem jedes Anrecht, ausgestellt und bewundert zu werden. Sie waren vollkommen in ihrer Unvollkommenheit. Mit einer gerade so zerbrochen Schönheit, das sie einem ins Auge stachen, aber nicht erschreckten. Etwas an ihnen schien mir lebendiger und realer als manche Sekunde dieses Lebens, das ich vorgab zu führen.
Zaghaft berührte ich das kühle Glas der Vitrine. Fuhr die Kontur meiner Silhouette nach, die sich mit den Umrissen der Schmuckstücke mischte, als könnte ich sie so greifen.
Ich wusste nicht, woher das Gefühl der Fremde rührte, doch es war ebenso Teil der Erinnerungen wie die Mandarinen und der Schmerz.
Zerissen, so fühlte ich mich. Ungebeten, wie ein Fremder in einem Haus, in dem er nicht sein sollte.
Aber dieser Gedanke ist doch absurd. Das hier war ich. Ich und keine Fremde. Die Anfälle veränderten mich nicht.
Und doch fühlte es sich genauso an. Als zerbreche ein Teil von mir mit jeder Erinnerung, die sich in mein Bewusstsein drängte, bis ich irgendwann nicht mehr zusammenhalten würde.
Und dann?
Meine Hand ballte sich auf dem Glas zu einer Faust. Panik wallte in mir auf.
Vielleicht werde ich wirklich verrückt. Wie sie...

"Em, wo bist du? Süße, kleine Em, komm raus", krächzte die Stimme meiner Mum verzweifelt. Ihre Schritte schlurften langsam über den Flur. Die Holzdielen knarzten unter ihrem Gewicht.
Ein eisiger Schauer lief mir den Nacken hinab. Ich zog an den dünnen Ärmeln meines Nachthemdes und drängte mich tiefer in die Ecke des Kuppelgewölbes, von dem aus sich silbriges Mondlicht auf den cremefarbenen Teppich ergoss.
"Emma? Bist du hier?"
Vorsichtig wurde die Tür zur Bibliothek aufgestoßen. Ein Viereck aus Kerzenschein kroch über den Boden und durchbrach die Dunkelheit, dehnte sich bis auf die ersten, hochaufragenden Regalreihen aus.
Ich zitterte. Mein Herz raste gegen seinen Käfig an und kalter Schweiß lief mir über den Rücken.
"Em..."
Trauer färbte die Stimme meiner Mutter. Ihr Klang war mir altbekannt. Aber das bedeutete nicht, dass ich ihr vertrauten konnte. Nicht mehr. Deshalb wollte ich kein Mitleid empfinden, als sie ein zweites Mal nach mir rief. Auch wenn mein Herz blutete und ich mir wünschte, mich in ihren Arm zu drängen und zu vergessen, was geschehen war, so zu tun, als wäre der heutige Tag nie geschehen - ich konnte es nicht.
Stattdessen bohrte ich meine Finger in den weichen Teppich, hielt den Atem an und hoffte, sie würde gehen und mich allein lassen.
Sie sagte nichts mehr. Ihre Schritte waren verklungen. In der Bibliothek herrschte bedrückende Stille. Schwüle Sommerluft sickerte durch die Wände und vermischte sich mit dem Geschmack von Staub und Pergament auf meiner Zunge.
Ich liebte diesen Raum. Ich liebte die Geschichten, die er enthielt. Manchmal hatte ich es auch geliebt, wie meine Mutter mir hier in dem Sessel am Fenster vorgelesen hatte. Ich auf ihrem Schoß. Sie mit einem dicken, alten Buch in der Hand, von dem ich nur wenig verstand und bei dem sie mir versicherte, dass es so okay sei. Dass ich noch ein Kind war und nicht alles verstehen müsste.
Doch die Nacht entstellte diese wundervollen Gefühle, die ich mit dem Ort verband. Geborgenheit gehörte nicht mehr in diesen Raum. Die Welt schien verzerrt, aus den Fugen geraten. Ich fühlte mich haltlos, verloren.
Das einzige, was das Schweigen in der Bibliothek durchschnitt, war der Atem meiner Mutter. Tiefe, gedrängte Luftzüge, gefolgt von einem Rasseln.
Habe kein Mitleid, sie ist selber Schuld, sagte ich mir und presste die Augen zusammen.
Aber ich wollte doch, dass sie mich tröste. Ich sehnte mich danach, dass meine Mutter alles in Ordnung brachte. Auch wenn sie das noch nie geschafft hatte, heute sollte sie es können. Nur einmal...
"Emma, bitte", flüsterte meine Mum dann und ihr Tonfall trieb mir die Tränen in die Augen. So sanft hatte sie immer dann mit mir gesprochen, wenn sie mich in den Schlaf sang. Wenn sie stolz auf mich war. Wenn sie "Entschuldigung, dass ich dich verletzt habe" und "Ich liebe dich" sagen wollte, aber nicht die passenden Worte fand.
Unwillkürlich hatte ich mich vorgelehnt und erkannte sie nun, wie sie verlassen und umzingelt von den Regaltürmen in der Finsternis stand. Ihr braunes Haar war zu einem wilden Zopf geflochten, unter ihren kornblumenblauen Augen lagen dunkle Schatten. Sie war dünn geworden und das Licht vom Flur in ihrem Rücken unterstrich diese Tatsache. Sie schien zerbrechlich.
Nein, mahnte ich mich selbst, das ist sie längst. Zerbrochen.
"Es tut mir leid..."
Sie schluchzte und ließ sich auf die Knie fallen. Das Klagen meiner Mum hallte durch die Nacht, ungehalten.
Und ich weinte mit ihr, weinte um meine Kindheit, die Liebe, die ich von ihr erwarter hatte, jegliche Sorglosigkeit, die mir einst zugestanden und um das Leben, das wir mir meinem Vater geführt hatten. Wir beide blieben in dieser Nacht allein. Jeder seinen Sorgen ergeben, bis die Dämmerung den Bann löste, der uns gefangen hielt.
Doch bis dahin suchten mich die Bilder heim, die meine Mutter ausgelöst hatte. Unter sie mischte sich der Geruch nach Mandarinen. Das Parfum, das meine Mum getragen hatte. Und Schmerz. Unvergleichlicher Schmerz, den ich ihr nie vergeben würde...

Traurig entgegnete ich den Blick, den meine Reflexion mir auf dem Vitrinenglas zuwarf. Die Augen meines Spiegelbilds schimmerten im Sonnenlicht mehr gräulich als blau. Um ihren Kopf rankte sich eine schmale, geflochtene Krone aus braunen Locken, die mich silbrigen Spangen an ihrem Platz gehalten wurden.
Ich sah ihr ähnlich. Die blasse Haut, die hohen Wangenknochen und das spitze Kinm.
Ich schluckte und schlug die Falten aus meinem Kleid. Mein Onkel würde schimpfen, sähe er mich so. So wenig gefasst. Er wäre schockiert, das seine stille, kühle Nichte Emotionen zeigte und ihre Fassade aus Perfektion aufgab.
Perfektion. Dieses Wort schmeckte verdorben.
Ein unglückliches Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Ich war nicht perfekt. Und das waren die Worte meines Onkels, nicht meine, auch wenn ich ihm im Stillen zustimmte. Er war schrecklich ehrlich und scherte sich wenig um das, was andere denken mochten.
Wenn du so wirkst, als wäre es wahr, als würdes du glauben, vollkommen zu sein, dann werden auch die Männer über deine Verfehlen hinwegsehen. Es geht nur um Zuversicht. Zuversicht, Em. Mehr braucht es nicht.
Ich wollte gar nicht, dass er mich schön nannte oder liebte, dazu waren wir uns zu fremd, aber ein wenig Achtsamkeit hätte ich mir von ihm gewünscht. Nicht jeder konnte wie er voller Stolz und Vertrauen in einen gefüllten Raum Fremder treten und binnen weniger Sekunden die Menschen mit Geschichten in den Bann ziehen. Zumindest teilten wir unsere Liebe zu Worten. Auch wenn er diese nur allzu gern mit de Öffentlichkeit teilte, während ich es vorzog, allein in meinem Zimmer in einem Buch zu versinken.
Als hätte er gerochen, dass ich an ihn dachte, betrat er im nächsten Moment das Musizierzimmer.
Es erschreckte mich, dass ich im ersten Augenblick geglaubt oder gehofft hatte, es wäre meine Mum. Aber sie war es zum Glück nicht.
"Das klang grässlich", kommentierte mein Onkel sachlich und streckte seinen Spazierstock in Richtung Klavier, "Ich hoffe, du übst noch, bevor die Gäste um Vier erscheinen. Ich will nicht, dass sie dein Spiel als Beleidigung empfinden."
Ich verdrehte die Augen.
"Ich hatte einen Krampf in den Fingern", log ich und wackelte demonstrativ mit der Hand, als würde ich sie dehnen.
Er gab ein vages Geräusch von sich, während er auf einem der Sessel vor dem Bücherregal Platz nahm und eine Pastillenboxs aus seiner linken Hand auf dem Beistelltisch ablegte.
Er bemerkte meinen fragenden Blick.
"Das sind nur Beruhigungsmittel. Die hat mir der Arzt verschrieben."
Verunsichert schritt ich auf ihn zu. Wie immer trug er einen säuberlichen Anzug. Heute mit einer goldenen Taschenuhran auf der Brust und dunkelblauer Krawatte. Sein schütteres, grau-schwarzes Haar versteckte sich unter einem Zylinder und seine schmale Taille sprach für sich. Das nannte man also Mode. Männer mit betonten Hüften.
Er deutete mein Seufzen falsch und versicherte mir, dass es nicht schlimm sei, wenn ich das Klavierstück noch nicht beherrsche. Ich könne schließlich einfach etwas anderes spielen.
"Ich hatte nur einen Krampf ", wiederholte ich ungeduldig und griff nach der Pastillenbox.
Mein Onkel hob eine buschig Augenbraue, so dass sich die Falten auf seinem Gesicht vertieften.
"Und wofür solltest du nun meine Beruhigungsmittel benötigen? Das nächste Verlobungsgespräch ist erst morgen. Oder hat dich deine eigene Musik verschreckt?"
Unsicher gab ich ein leises Lachen von mir.
"Dann darf ich mir morgen eine Tablette nehmen, wenn der nächste Mann vor unserer Tür steht?", fragte ich und rasselte mit der Box. Sie war klein, verziert mit einem Rosenmuster und goldenen Schanieren. Sie lag angenehm kühl in meiner Hand.
Nun war es an meinem Onkel zu seufzen.
"Ich fürchte, sie bringen nicht viel. Meine Medizin-" Er füllte sich ein Glas mit bernsteinfarbener Flüssigkeit, die auf den Beistelltisch aufgebaut war. "- bleibt noch immer das beste Mittel gegen Stress."
Er genehmigte sich einen tiefen Schluck aus dem Glass und schloss dabei die Augen.
"Ich dachte, der Arzt riet dir, damit aufzuhören?" Wenn er trank, war es kein Wunder, dass die Medizin ihre Wirkung verfehlte.
"Man kann einen alten Mann nicht mehr Umerziehung", antwortete er mit funkelnden schwarzen Augen.
"Dann soll ich morgen lieber trinken?"
Den Blick, den er mir auf diese Worte zuwarf, war schwer zu deuten. Auf jeden Fall erfreute ihn mein Scherz nicht, der möglicherweise ein wenig ernst gemeint war.
"Vielleicht wäre es wirklich besser. Langsam verliere ich die Geduld und die möglichen Bewerber." Er lehnte sich in seinem Sessel zu mir vor. Ich versuchte, die Dringlichkeit in seiner Stimme zu ignorieren. "Du weißt, du kannst nicht ewig bei mir bleiben. Die meisten Damen in deinem Alter sind längst versprochen. Und mir fehlt das Geld und die Zeit, mich ewig um dich zu sorgen. Wenn du dich nicht beeilst, sind die guten Partien vergeben."
Ich schluckte den Frust in meiner Kehle hinunter.
"Ich weiß", war alles, was ich hervorbrachte.
"Ich werde mich um deine Mutter kümmern", probierte er mich zu trösten. "Du musst die Verantwortung für sie nicht länger auf dich bürden. Sobald du einen Gatten gefunden hast, werde ich die besten Ärzte des Landes kommen lassen. Vielleicht können sie ihr helfen."
Überrascht von diesem Angebot, ließ ich mich auf den Sessel neben meinen Onkel plumsen. Seine Worte hallten in meinem Geist nach.
Er würde sie, eine Geisteskranke, aufnehmen, damit ich frei war. Damit ich gehen konnte, wohin es mich bewegte.
Es war unwichtig, dass es ihm eigentlich nur darum ging, mich verheiraten zu können.
Er löste das Band, das mich an meine Mutter kettete.

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