49. First Blood
♪ First Blood – AC/DC
Kieran
Seit Tagen ging es im Büro drunter und drüber. Die letzten Vorbereitungen für den Fall Romanow wurden getroffen und ich sehr eng mit eingebunden. Als vollwertiges Teammitglied gab es kein Pardon für mich, jede Arbeit musste ausgeführt werden – so wie Louis es von allen verlangte.
Somit hatte ich im Moment nicht viel Zeit für mein Privatleben, da ich erst spät aus dem Präsidium nach Hause kehrte. Zwar suchte ich nach einer geeigneten Wohnung, hatte bisher aber noch nichts Passendes gefunden. Vielleicht würde ich mehr Zeit haben, wenn Nicholas uns allen Lebwohl gesagt hatte.
Der Sarkasmus schlich sich selbst in meine Gedanken, die sich immer nur um das Eine drehten. Hoffentlich würde alles gut gehen. Ich hatte ein komisches Gefühl bei der Sache, konnte jedoch nicht erklären, warum.
Louis war das Procedere mehrmals mit uns durchgegangen, alles wurde bis auf das kleinste Detail abgestimmt. Praktisch jede Sekunde und jeder Schritt wurden geplant, nichts dem Zufall überlassen.
Für mich als Neuling war es eine große Ehre, an Louis' Seite sein zu dürfen, wenn wir das große Spektakel durchzogen. Von London nach Dover zu fahren klang zwar nicht nach einer schwierigen Mission, aber in diesem speziellen Fall lagen die Dinge anders.
An diesem Morgen wurde die letzte Formalität erledigt.
Während Louis seelenruhig an seinem E-Smoker zog, trommelte ich nervös mit den Händen auf meine Knie. Wir saßen zusammen bei Richter Maxwell, der das wichtige Dokument unterschrieb, welches uns dazu bemächtigte, Nicholas Romanow oder besser gesagt Jake Powell, so lautete sein neuer Name, außer Landes zu geleiten.
Es dauerte geschlagene zwanzig Minuten, ehe der Richter sich endlich dazu bequemte, den Wisch zu attestieren – ständig wurde er unterbrochen, weil einer seiner Untergebenen mit einer wichtigen Sache in das Büro hineinschneite.
Louis schien das eher locker zu nehmen, er checkte zwischendurch sein Handy, während ich alle zwei Minuten auf die Uhr blickte.
„Geduld zählt noch nicht zu deine Stärken", bemerkte mein Boss am Rande, „aber das wird noch kommen."
Innerlich seufzend schloss ich meine Augenlider und lehnte den Kopf nach hinten. Ich war furchtbar nervös, hatte die Nacht zuvor kaum ein Auge zugetan und war schließlich aufgestanden, um den Kühlschrank nach Schokoladenpudding zu durchforsten. Diesen konnte ich zu jeder Tageszeit verdrücken, selbst um drei Uhr morgens. Danach hatte ich mich wieder ins Bett gelegt, wo mich tatsächlich der Schlaf übermannt hatte. Allerdings riss der Wecker mich um sechs Uhr gnadenlos aus Selbigem.
Müde war ich jedoch kein bisschen, im Gegenteil, mein Adrenalinspiegel schien so hoch wie nie zu sein und als Louis endlich das wichtige Dokument in seine Händen hielt, wurde dieser noch weiter nach oben gepuscht.
Der Countdown begann genau jetzt zu laufen.
„Danke, Richter Maxwell, bis zum nächsten Mal", meinte Louis grinsend und schob mich beinahe durch die Tür, nachdem wir uns verabschiedet hatten.
„Jetzt kann es endlich losgehen, Kieran. Ruf bitte El an."
Ich tat wie mir geheißen und setzte meine Kollegin davon in Kenntnis, dass wir auf dem Weg zu Nicholas seien. Den Mafioso hatte man nach seiner wichtigen Aussage in einem eigenen Trakt des Gefängnisses untergebracht. Er hatte die Mafia, seine eigenen Leute, bloßgestellt und uns mit Information gefüttert, von denen wir nur träumen konnten. In Anbetracht der Tatsache, dass man ihm und seiner Tochter jedoch nach dem Leben trachtete, war dies zu verstehen. Grund genug, eine neue Identität anzunehmen und von hier zu verschwinden.
Unsere Aufgabe bestand darin, ihm Sicherheit zu gewähren, ihn untertauchen zu lassen – für immer.
Liam und Sophia würden sich ebenfalls auf der Fähre nach Calais befinden, Harry und El fuhren voraus, um die Strecke zu sichern, während Louis und ich den Mafioso in einem mit Panzerglas ausgestatteten Wagen nach Dover bringen sollten. Alles war bis ins kleinste Detail durchdacht, sogar die Länge der beiden Pausen, die wir zwischendurch abhalten würden.
Zunächst führte uns der Weg nach Belmarsh, für lange Zeit hoffentlich zum letzten Mal, zumindest wünschte ich mir das. Um ehrlich zu sein, gehörte die Strafanstalt nicht gerade zu meinen Lieblingsorten. Umso erleichterte fühlte ich mich, als wir den Gang antraten, der uns zu Nicholas führte. Ich musste mich damit abfinden, dass er nur noch mit Jake angesprochen wurde, alternativ mit Mr Powell. An beides konnte ich mich nur sehr schwer gewöhnen, Louis jedoch kam der Name Jake sehr leicht über die Lippen.
Erwartungsvoll schaute Romanow uns an, als wir die Zelle betraten und als Louis ihm zunickte, entwich ihm ein erleichtertes Aufatmen. Heute trug er zivile Kleidung, denn er war nun offiziell kein Häftling mehr. Deswegen erfolgte der Transport auch ohne Handschellen. Eine neue Identität zu erhalten bedeutete auch, die Altlasten aus dem vorangegangen Leben auszulöschen. Jake Powell war somit kein Krimineller, sondern ein ehrenwerter Bürger. Allerdings durfte er sich nichts mehr zuschulden kommen lassen.
Nur zu gerne ließ er sich von uns nach draußen geleiten und als ich ihm die Tür zum Wagen öffnete, sagte Louis: „Dann mal rein in die gute Stube, Jake. Wir fahren gleich los."
An diesem Tag überließ Louis mir das Steuer und während ich das Auto durch den dichten Verkehr lenkte, unterhielt er sich mit Nicholas.
„Wir werden zwei Pausen machen, eine längere und eine kürzere", erklärte er. „Beide Male werde ich mich bei meinen Kollegen rückversichern, dass alles glatt läuft. Sie fahren die Strecke vorher ab."
Nicholas nickte zufrieden, er schien kein bisschen aufgeregt zu sein – im Gegensatz zu mir. Immerhin war dies mein erster Einsatz mit einem großen Fisch an der Angel, wie Louis sich so schön ausgedrückt hatte. Einem Schwerkriminellen wie Nicholas Romanow in sein neues Leben zu geleiten, das erlebte man schließlich nicht alle Tage.
Langsam ließ ich die gepanzerte Limousine von dem großen Gelände rollen und als das Tor sich hinter uns schloss, gab ich Gas. Gestern hatte ich die Route mit Louis besprochen, es ging geradewegs auf die M2 in Richtung Dartford. Zwei Baustellen verzögerten die Fahrt, jedoch hatten wir das mit eingeplant. Dennoch gab Louis dem restlichen Team, mit dem er permanent in Kontakt stand, Bescheid.
Sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung zu halten war oberstes Gebot, denn wir wollten keineswegs auffallen. Im Wagen war es ruhig, lediglich der Radiosender, der über das Verkehrsaufkommen informierte, erzeugte Geräusche.
Für mich war es eine sehr kuriose Situation, eine, die ich mir nie zu erträumen gewagt hätte. Tias Vater einmal auf diese Art und Weise zu sehen und zu betreuen fühlte sich komisch an. Nicholas schaute ständig aus dem Fenster aber er wirkte keineswegs verängstigt oder nervös, sondern noch immer ruhig und gelassen.
Was mochte wohl in seinem Kopf vorgehen?
Ärgerlich darüber, dass er mich wieder ablenkte, versuchte ich mich auf das Fahren zu konzentrieren. Immerhin war Louis da, um unseren Klienten zu bespaßen. Mein Boss behielt stets die Übersicht, auch schien er die Strecke auswendig zu kennen, denn er erzählte mir, bevor das Schild auftauchte, wie weit es noch bis Rochester sei. Dort war nämlich der erste Zwischenstopp geplant.
Wie besprochen lenkte ich den Wagen auf die Ausfahrt und verließ die M2. Die kleine Stadt hatte nur 25.000 Einwohner, gegen London war das ein Witz, aber sie war alt und wirkte sehr ehrwürdig. Immerhin durfte ich aussteigen, um etwas Essbares zu organisieren, was ich gerne tat. Auf diese Art und Weise konnte ich mir die Füße ein wenig vertreten, obwohl wir noch gar nicht so lange im Wagen saßen verspürte ich das dringende Bedürfnis.
Klirrende Kälte schlug mir entgegen und ich konnte den Ausstoß meines Atems erkennen, als ich über den Platz eilte, um den nächstbesten Laden aufzusuchen, der Essen anbot.
In dem kleinen Imbiss, den ich auserkoren hatte, ging auch alles recht schnell, vor mir stand niemand an und somit kehrte ich innerhalb kürzester Zeit wieder zum Wagen zurück. Inzwischen hatte Louis sowohl mit Harry, als auch mit Liam telefoniert. Beide gaben weiterhin grünes Licht, es gäbe keine besonderen Vorkommnisse, ließ er mich wissen.
Halbwegs beruhigt biss ich in meinen Burger und beobachtete Nicholas aus den Augenwinkeln. Er ließ es sich schmecken und erweckte den Anschein, seine Freiheit zu genießen. Wer konnte ihm das verübeln?
Kurz verließ Louis den Wagen und wies mich an, drinnen zu bleiben, um auf unseren Klienten zu achten. Nicholas dachte zum Glück nicht daran, mir Schwierigkeiten zu machen. Außerdem hatte ich meine Waffe griffbereit im Halfter stecken, die ich ihm ohne zu Zögern an die Schläfe halten würde, sollte er auf den Gedanken kommen, Dummheiten anzustellen.
„Wie lange fahren wir noch?", erkundigte er sich bei mir.
„Eine knappe Stunde bis zum nächsten Halt", erwiderte ich, worauf Nicholas nickte.
Genau in diesem Moment stieg Louis wieder ein. „Grizel ist gleich da", verkündete er vollkommen ruhig, da sah ich auch schon einen weißen Transporter um die Ecke biegen. Gesteuert wurde dieser von einer schwarzhaarigen Frau, neben ihr saß ein grobschlächtiger Kerl mit rotbraunen Haaren. Das musste Broddy sein, genauso hatte Louis ihn beschrieben. Somit lernte ich nun zwei unserer Netzwerkmitarbeiter kennen, die eigentlich in Schottland ihr Lager aufgeschlagen hatten, uns heute jedoch tatkräftig unterstützten.
Nachdem der Transporter direkt neben unserem Wagen zum Stehen gekommen war, wurde Nicholas gebeten, in das weiße Auto zu steigen. Dabei benutzte er den seitlichen Eingang, der sich mit einer Schiebetür öffnen ließ. Grizel, die schwarzhaarige Frau, die sich mir kurz vorgestellt hatte, verschwand ebenfalls darin, genau wie Louis, während Broddy und ich draußen warteten.
„Du bist also der Neue", meinte er grinsend.
„Ja, ganz frisch von der Akademie."
„Louis muss große Stücke auf dich halten, wenn er dich gleich zu solch einer wichtigen Mission mitnimmt."
„Ich hoffe, es läuft alles glatt", erwiderte ich ein klein wenig nervös.
„Das wird schon. Ist ja nicht das erste Mal, dass Tomlinson jemand außer Landes schaffen lässt", brummte der Schotte.
Nach ungefähr fünf Minuten kletterten Nicholas, Louis und Grizel wieder aus dem Transporter und keine zwei Minuten darauf startete ich unseren Wagen. Erneut ging es inRichtung der M2, die ab Rochester nicht mehr ganz so stark befahren war. Wir kamen zügig voran, ohne jegliche Probleme, dennoch hatte ich ein flaues Gefühl im Magen. Je näher wir an das Ziel gelangten, desto mehr verstärkte es sich. Kurz vor Dover bog ich von der M2 ab, um auf die Landstraße zu fahren, welche an den berühmten Klippen vorbeiging. Hier lag unser zweiter Pausenpunkt.
Wie schon bei der ersten Rast, zückte Louis sein Handy, um die Kollegen anzurufen. Ich hörte wie er telefonierte, da sagte Nicholas plötzlich: „Ich muss dringend pinkeln."
Louis schien alles zu hören, denn er wies mich sofort an: „Kieran, begleite Jake bitte bis zum nächsten Gebüsch."
Nach allen Richtungen blickend stieg ich aus dem Wagen, immer darauf bedacht, Nicholas auf den Fersen zu bleiben. Da es genügend Büsche in dieser Gegend gab, war es kein Problem, sich in der Wildnis zu erleichtern, ohne dass man gleich entdeckt wurde. Zudem trieb sich hier, zu dieser Tageszeit, unter der Woche kaum ein Mensch herum. Die Klippen waren noch gut eine halbe Meile entfernt und die Luft merklich wärmer, als im Landesinneren. Die Brise umspielte mein Gesicht, während ich darauf wartete, dass Nicholas endlich fertig wurde.
Und dann spulte sich plötzlich alles wie ein Film vor mir ab.
Ein Film, in dem ich die Hauptrolle spielte.
Nicholas Romanow begann zu rennen, er sprintete in Richtung der Klippen, als seien tausend Teufel hinter ihm her. Die Verfolgung aufnehmend, hechtete ich durch das Gelände. Büsche versperrten mir die Sicht aber ich verlor ihn nicht aus den Augen, das war wichtig. Ob Louis mir folgte oder nicht, konnte ich nicht sehen, aber das war im Moment auch egal. Ich holte bei diesem Sprint alles aus mir heraus, rannte mit pfeifenden Lungen hinter ihm her, aber er war verdammt schnell, lief wie ein Weltmeister und schlug Haken wie ein Hase.
Je näher wir den Klippen kamen, desto kahler wurde die Landschaft, bis ich schließlich freien Blick auf Nicholas hatte, der in einem wahnwitzigen Tempo direkt auf den Rand der Kreidefelsen zusteuerte.
„Bleiben Sie stehen", brüllte ich, doch er ignorierte meinen warnenden Ruf. „Bleiben Sie stehen oder ich schieße!" Die zweite Warnung prallte ebenfalls an ihm ab und meine Finger wanderten automatisch zu meiner Waffe.
Ein Griff und ich hielt sie in der Hand. Ich zitterte nicht einmal, sondern blieb vollkommen ruhig, als unsere Blicke sich begegneten. Romanow stand nur wenige Meter von mir entfernt, genau vor dem Abgrund.
„Bleiben Sie stehen oder ich schieße", widerholte ich den Satz, dessen Gewichtung mir durchaus klar war.
In dem Moment, in dem er einen Schritt nach hinten machte, wusste ich, dass es soweit war. Ich musste es tun, ich drückte ab.
Laut ertönte der Schuss in meinen Ohren, wurde jedoch durch das heftige Pfeifen des Windes gemildert. Blut spritze umher und das Letzte, was ich von Nicholas Romanow sah, war, wie er von den Klippen in das Meer stürzte.
Danach brach die Hölle los.
Ich hörte Louis' Stimme, der mich fragte, ob ich okay sei, während ich mit schweißnasser Stirn auf dem Boden kniete, an der Stelle, an der kurz zuvor noch Nicholas gestanden hatte. Blut klebt an meinen Händen und an meiner Kleidung, da ich mich über die Klippen gelehnt hatte, um in die Wellen zu blicken. Die Sirenen der Polizeiautos nahm ich nur durch einen Schleier wahr, der mich beinahe schützend umhüllte.
„Kieran, ist alles okay mit dir?"
Erst als Louis mich ein zweites Mal ansprach, hob ich den Kopf. „Ja, ich bin okay."
Mehrere uniformierte Polizeibeamte kamen auf uns zu, das Sondereinsatzkommando war ebenso vertreten wie die Kripo. Sogar ein Krankenwagen war vor Ort, dessen Insassen im Moment jedoch nichts ausrichten konnten.
Die Flut hatte bereits eingesetzt, was die Bergung eines Körpers unglaublich erschweren würde, trotzdem wurden die Küstenwache und die Wasserschutzpolizei alarmiert.
„Du siehst aus wie ein Schwein", bemerkte mein Vorgesetzter, „und das Schlimme ist, dass deine Kleidung nun zur Gerichtsmedizin muss. Immerhin befindet sich Romanows Blut daran." In diesem Moment störte es mich nicht.
„Das hat er vermutlich nicht überlebt, entweder hat ihn der Schuss getötet oder die Flut oder beides in Kombination", hörte ich Louis zu den Kollegen sagen.
„Wir werden nach den Überresten Ausschau halten", vernahm ich die Stimme eines Mannes, der sich als Inspektor Tanner vorgestellt hatte und der neben Louis stand. „Gut reagiert, junger Mann", wandte er sich kurz an mich.
Man nahm mir die mit Blut verschmierte Jacke ab und gab mir ein Tuch, damit ich meine Hände halbwegs säubern konnte. Schon einmal hatte Blut daran geklebt und auch damals war es nicht meines gewesen.
Alistair war für mich gestorben, aber heute, da würde er stolz auf mich sein. Ich hatte das getan, was man von mir als Polizist einer Spezialeinheit erwartete. Ich hatte das getan, was mein Boss von mir erwartete. Ich hatte das getan, was ich tun musste.
Im selben Moment spürte ich Louis' Hand auf meiner Schulter.
„Du hast alles richtig gemacht, Kieran", lauteten seine Worte. „Unsere Mission ist nicht gescheitert, sondern nur auf andere Art und Weise zu Ende gegangen. Das passiert, es gehört zu unserem Job."
Unser Job hatte wahrlich zwei Seiten. Leben retten und Leben nehmen, falls die Situation dies hervorbrachte.
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Noch am gleichen Abend ging die Meldung durch die Presse, dass Nicholas Romanow, Angehöriger der russischen Mafia, durch die Hand eines Polizeibeamten erschossen wurde, da er sich auf der Flucht befand.
Meine Eltern ließen mich an diesem Abend und auch am nächsten Tag komplett in Ruhe. Louis hatte mir einen Tag freigegeben, da ich bis zu später Stunde im Büro meinen Bericht über den Vorfall zu Ende geschrieben hatte. Er meinte ich sollte ein wenig runterkommen und ausspannen.
Den Blick gegen die Decke gerichtet, lag ich auf meinem Bett, tausend Gedanken durchzogen meinen Kopf. Vollkommene Stille umgab mich, welche jedoch durch das Klopfen an meiner Zimmertür just unterbrochen wurde.
„Kann ich reinkommen?", ertönte die Stimme meines kleinen Bruders.
„Ja, klar."
Aiden quetschte sich durch den Türspalt, sein Gesicht wirkte besorgt, als er sich auf der Bettkante niederließ.
„Stimmt es, dass du jemanden erschossen hast?", fragte er geradeheraus.
Ich schaute in seine Augen, die in jenem Moment so unschuldig wirkten, wie nur ein Sechszehnjähriger sein konnte.
„Es ist mein Job, Aiden, manchmal muss man so etwas tun. Und eigentlich darf ich dir gar nichts darüber erzählen, da es unter das Dienstgeheimnis fällt."
Er nickte verstehend und sagte dann: „Aber wenn du mal mit jemandem darüber reden willst, weil es dich erleichtert oder so, bin ich immer für dich da."
Diese Worte aus dem Munde meines kleinen Bruders zu hören, das machte mich unheimlich glücklich und erzeugte gleichzeitig den Wunsch in mir, ihm mein allergrößtes Geheimnis anzuvertrauen.
Langsam setzte ich mich auf, ließ meinen Blick nicht von ihm weichen. „Weißt du, es gibt da etwas anderes über das ich gerne mit dir reden möchte."
„Was denn?" Aufmerksam schaute er mich an.
„Tia. Du erinnerst dich doch noch an sie, oder?"
„Klaro! Das war die heißeste Braut ever, die du angeschleppt hast", grinste er mir spitzbübisch entgegen. „Und ich weiß bis heute nicht, warum du sie abgeschossen hast. Ich meine, die war der Jackpot, ganz ehrlich."
Dass mein kleiner Bruder so über die Frau dachte, die ich noch immer liebte, ließ mir das Herz aufgehen.
„Ich kenne Tia aus früheren Zeiten, genauer gesagt aus New York."
Da Aiden inzwischen mit unserer Vergangenheit bestens vertraut war, fühlte ich es sich richtig an, ihm dies zu erzählen. Seine Augen wurden groß und rund, als ich ihm Tias wahre Identität offenbarte und auch weshalb ich sie in unser Elternhaus brachte. Das Geständnis, dass ich sie liebte, kam sehr leicht über meine Lippen.
„Wow, das ist echt krass", entfuhr es meinem jüngeren Bruder. „Du liebst eine Frau, die der russischen Mafia angehört."
„Ich liebe eine Frau, die in unserem Zeugenschutzprogramm ist", seufzte ich.
„Und deren Vater du erschossen hast", vollendete Aiden den Satz, der mich innerlich zusammenzucken ließ.
Das Schweigen, welches sich daraufhin im Raum ausbreitete, schmerzte nicht einmal. Aiden verstand, dass es mein Job war und ich hatte kein schlechtes Gewissen, weil ich ihm die Einzelheiten nicht erzählen durfte.
„Wie sieht es denn bei dir mit der Liebe aus?", versuchte ich von mir abzulenken. Die sanfte Röte, die sich in sein Gesicht schlich, erzeugte ein heftiges Schmunzeln auf meinem Antlitz. Da hatte ich wohl ins Schwarze getroffen.
„Weißt du", stotterte er etwas unbeholfen, „ich mag Emilia total, aber sie ist fast ein Jahr älter als ich."
„Na und? Daran ist doch nichts Verwerfliches", tat ich meine Meinung kund. „Vielleicht kannst du noch was lernen. An deiner Stelle würde ich dran bleiben, denn sie ist niedlich."
Er wurde tatsächlich rot, bis über beide Ohren und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ob ich früher auch so schüchtern gewesen war? Erinnern konnte ich mich jedenfalls nicht mehr daran.
Als ich Aiden genauer betrachtete, da wurde ich richtig stolz. Er hatte aus seinen Fehlern gelernt und dass er aus der Drogensache straffrei herausgekommen war, konnte man als riesiges Glück bezeichnen. Keine Vorstrafe für ihn, damit standen ihm alle Berufswege offen. Wir waren so verschieden, aber dennoch Brüder, die sich blind verstanden.
Dafür war ich unendlich dankbar.
Gegen Abend tauchten unsere Eltern auf, wir aßen gemeinsam und nach dem Essen zog ich Boots und Jacke an. „Ich bin noch mal kurz weg", verabschiedete ich mich.
Niemand fragt wohin ich ging, alle ließen mich in Ruhe, vermutlich weil sie genau wussten, dass ich diese benötigte.
Als ich den Wagen auf dem Parkplatz des Friedhofs abstellte, atmete ich erleichtert auf. Ich hatte mich lange auf das Gespräch mit Alistair vorbereitet, das auf keinen Fall von jemandem gehört werden sollte. Aus diesem Grund wählte ich die Abendstunden, um ihm einen Besuch abzustatten.
Den Klappstuhl in meiner rechten Hand, schritt ich über den dunklen Friedhof. Angst verspürte ich keine, denn hier ruhten nur die Toten.
„Hey, Alistair", begann ich meine Rede, nachdem ich mich vor dem Grab niedergelassen hatte. „Es gibt Neuigkeiten."
Und dann brach alles aus mir heraus. Jede Einzelheit konnte ich ihm erzählen, denn alles war bei ihm gut aufgehoben. Meine Gedanken, meine Gefühle, die Geheimisse meiner Seele.
Ich war so vertieft in unser Gespräch, dass ich nichts mehr wahrnahm, erst als die Stimme meines Vaters neben mir ertönte, zuckte ich zusammen.
„Allmächtiger, hast du mich erschreckt", polterte ich los. „Wie lange stehst du schon da?"
Seine Miene blieb unbewegt, als er sprach. „Lange genug, um alles Wichtige gehört zu haben, mein Junge." Kurz schluckte ich, doch als er weiterredete, da erkannte ich es selbst. „Und ich bin wahrhaftig mit jedem Satz, den du gesprochen hast, stolzer auf dich geworden."
Mein Vater und ich waren vom gleichen Schlag. Wir nahmen uns nichts, gingen jedes Risiko ein, um für eine bessere Welt zu kämpfen. Er tat dies auf seine Weise und ich auf meine, aber im Grunde genommen verfolgten wir die gleichen Ziele.
„Möchtest du vielleicht noch mit mir darüber reden?", bot er an, worauf ich den Kopf schüttelte.
„Du weißt alles, Dad aber du kannst mir keine Beichte abnehmen, da du ein evangelischer Pfarrer bist."
Das sanfte Lächeln erfasste seine Augen, als er sprach. „Weißt du, ich kenne da einen netten katholischen Kollegen, der das bestimmt machen würde."
Gleich am nächsten Morgen besuchte ich eine der katholischen Kirchen in London, um bei Priester Thomas vorzusprechen, bei dem mein Vater einen Termin für mich gemacht hatte. Dieser wurde extra so gelegt, dass ich noch vor Dienstantritt dort aufkreuzen konnte.
Es erleichterte mich, mit diesem Mann zu sprechen, der an das Schweigegelübde gebunden war, egal was man ihm erzählte. Als er mich später aus seiner Obhut entließ, sagte er: „Grüßen Sie bitte Ihren Vater von mir. Wir kennen uns schon sehr lange."
„Das werde ich."
Nicht mehr ganz so aufgewühlt wie am Vortag, betrat ich schließlich pünktlich unser Büro. Außer mir waren nur Seth, Briana, Shawn und Louis anwesend, der Rest fehlte jedoch.
„Nun, Kieran, bist du bereit für das nächste Abenteuer?", fragte Louis grinsend.
Was er damit meinte, sollte ich sogleich erfahren und es war Shawn, der mich aufklärte.
„Du wirst mein Partner, wir reisen übermorgen nach Budapest."
„Aber ich spreche die Sprache doch gar nicht", war das Erste, was mir dazu einfiel.
„Na und? Die reden alle Englisch dort und für den Rest hast du mich", erklärte Shawn grinsend. „Außerdem haben wir noch Unterstützung in Form eines Undercover Mitarbeiters."
Ich sah es an Louis' Augen, dass er mich als Shawns Partner auserkoren hatte, was mich wirklich glücklich machte.
„Auf in den Kampf", lauteten meine Worte.
Eine neue Aufgabe tat sich für mich auf, eine Aufgabe, die mich an einen neuen Ort und zu neuen Gegebenheiten führte.
Und doch gab es diesen einen Menschen, der immer in meinen Gedanken verweilte, egal wohin ich ging.
Tia.
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Einmal tief Luft holen bitte.
Ich bin froh dieses Kapitel hinter mir zu haben, das könnt ihr mir glauben. Hättet ihr gedacht, dass das passiert?
Über Kommentare würde ich mich freuen, damit ich weiß, was ihr so denkt.
Dies ist nicht das Ende der Geschichte, denn einige Fragen sind noch offen. Zum Beispiel was mit Tia geschieht. Darauf sind wohl alle neugierig, oder nicht?
Das nächste Update kommt morgen nacht, ich hoffe, ihr habt den Schock bis dahin ein wenig verdaut.
Danke für eure tolle Unterstützung in Form von Votes und Kommis. Ihr seid echt unglaublich diesen langen Weg mit mir zu gehen! Ich bewundere eure Ausdauer und Lesebereitschaft. Tausend Dank dafür! ♥♥♥
LG, Ambi xxx
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