19. Edge


♪ Kiss your Past Good-Bye – Aerosmith


Kieran

Wie zu erwarten, herrschte bereits Hektik im Haus, als ich am Samstag gegen halb sechs vom Dienst heimkehrte. Die Gäste waren schon da und ich mal wieder der Letzte. Glücklicherweise fing Dad immer erst um sechs mit dem Grillen an, sodass man mir nicht alles wegfuttern konnte.

Bevor ich die Begrüßungsrunde startete, schmiss ich mich allerdings in legere Klamotten und holte Mums Geschenk hervor. Heute Morgen, als ich mich auf den Weg zur Arbeit machte, schliefen noch alle und deshalb konnte ich es ihr erst jetzt überreichen.

„Alles Gute zum Geburtstag, Mum."

Im Gegensatz zu Aiden schämte ich mich nicht, meine Mutter vor allen zu umarmen und ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken.

„Danke, Kieran, das ist lieb von dir."

Gespannt wartete ich darauf, dass sie ihr Geschenk, zwei Karten für ein Musical, auspackte. Unsere Eltern waren große Musical-Fans und als ich ihre Augen aufleuchten sah, da wusste ich, dass ich ins Schwarze getroffen hatte.

Ich bekam nochmals ein Dankeschön und einen Kuss auf die Wange, bevor ich mich den anderen Gästen zuwandte.

Wir hatten ein volles Haus, das bedeutete, dass auch Mums beste Freundin, Gwenny, mit ihrem Mann Alexander und ihrer Tochter zugegen war. Emilia war jetzt sechzehn und adoptiert, da es bei Gwenny und Alexander mit der Kinderplanung nicht so ganz geklappt hatte. Mum hatte mir das mal in einer ruhigen Minute erklärt, da ich mich nie hatte daran erinnern können, dass Gwenny schwanger durch die Gegend marschierte. Emilia war eines Tages da, noch bevor Aiden geboren wurde. Deswegen hatte es mich damals gewundert, das Gwenny nicht auch solch einen dicken Bauch wie meine Mutter aufweisen konnte. Natürlich erklärte Mum mir dies erst einige Jahre später richtig. Als Sechsjähriger hätte kaum etwas mit dem Begriff Adoption anfangen können und vermutlich nicht verstanden, dass nicht alle Menschen leibliche Kinder haben konnten.

Wenn man Emilia betrachtete, so hätte man sie wirklich für die leibliche Tochter von Gwenny und Alexander halten können, denn sie besaß ebenso blonde Haare wie die beiden, außerdem hatten ihre Augen die gleiche Farbe wie Gwennys. Aus ihr war ein hübscher Teenager geworden.

Auch Seth und Harvey, die anwesend waren, begrüßten mich überschwänglich. Als ich einen Blick auf Harveys neuestes Kunstwerk, eine dreistöckige Torte für Mum, betrachtete, begann ich zu grinsen. Mir lag es auf der Zunge zu sagen, dass man das Teil vor Lennard in Sicherheit bringen sollte aber ich wollte Aidens besten Freund nicht in Verlegenheit bringen, zumal sich die Aufmerksamkeit an diesem Abend eher auf Aiden legte, der noch immer mit einem blauen Auge durch die Gegend marschierte. Warum er sich geprügelt hatte, entzog sich unser aller Kenntnis, er schwieg einfach, wie so oft.

Harry sah mal wieder aus wie ein Rockstar, als er auf mich zukam. Das geblümte Hemd stand fast bis zum Bauchnabel offen und die hochgekrempelten Ärmel gaben den Blick auf seine zahlreichen Tattoos frei. Dagegen wirkte Maggie fast schon bieder, dennoch gaben die beiden das perfekte Paar für mich ab. Sie waren so herrlich chaotisch.

Für einen kurzen Moment dachte ich an Alistair, der sicher stolz auf seine Familie gewesen wäre. Rosie, die zu Akis Geburtstag aufgrund einer Reise, die sie unternommen hatte, nicht hatte kommen können, glänzte heute jedoch durch ihre Anwesenheit.

Ich begrüßte sie liebevoll und bekam eine ebenso liebevolle Begrüßung zurück. Wie oft hatte ich als kleiner Junge bei ihr schlafen dürfen, nachdem Alistair nicht mehr da war. Wir schauten uns Disney-Filme an, aßen Schokoladenpudding und tranken Kakao. Sie war wie eine Großmutter für mich und immer da, wenn Mum und Dad jemanden zum Babysitten benötigten.

Nach Rosie kamen Liam und Sophia an die Reihe, ebenso El, die mir zuzwinkerte. Auch Briana war mit ihrem Lebensgefährten gekommen, der ausnahmsweise mal keine Geschäftsreise unternommen hatte. Direkt neben Briana saßen Louis und Aki und als ich meinen zukünftigen Boss grüßte, warf er mir einen verschmitzten Blick zu.

Ich hatte sehr wohl den Porsche vor unserem Haus stehen sehen, außerdem auch Akis Auto. Das bedeutete, dass Louis seine Luxuskarosse gleich hier lassen würde, damit ich morgen so früh wie möglich in Richtung St Ives abdampfen konnte. Die Aussicht darauf, besserte meine ohnehin schon gute Laune um ein Vielfaches.

Mit einer Flasche Bier in der Hand, gesellte ich mich zu Freddie und Lorena, die ebenfalls eingeladen waren. Kaum setzte ich mich nieder, kam Ava angestürmt. Sie hatte gerade mit den Zwillingen und Linus Kirschen von unserem Baum gepflückt.

„Kieran, willst du auch welche?" Ihr freches Grinsen leuchtete mir förmlich entgegen und da ich sie nicht enttäuschen wollte, nahm ich eine der dargebotenen Früchte.

„Danke, Ava."

Wie selbstverständlich schmiegte sie sich an mich, worauf ich sagte: „Komm her, du kleiner Racker", und sie auf meinen Schoß zog.

Besitzergreifend legte Ava ihre dünnen Ärmchen um meinen Nacken, was Freddie prompt schmunzeln ließ. Er hatte es eher mit Maggies und Harrys Zwillingen, denen der Schalk buchstäblich im Nacken saß. Vermutlich verstanden sie sich deshalb so gut mit Freddie, der mir nun ein Zeichen gab, dass er unter vier Augen mit mir sprechen wollte. Da Louis unserem Dad am Grill behilflich war, sah ich keinen Grund, weshalb ich mich nicht einige Minuten verziehen sollte und suchte gemeinsam mit Freddie die Küche auf.

„Was liegt an, Bro?"

„Mein Dad lässt dir seinen Porsche da."

Lässig grinste ich ihn an. „Ich weiß, das war so abgemacht."

„Du hast echtes Glück, weißt du das?"

„Hm, dafür, dass ich meine Freizeit opfere, steht mir wohl ein Ausgleich zu", erwiderte ich mit einem Augenzwinkern.

„Freizeit opfern, dass ich nicht lache", zog mein bester Freund mich auf. „Du hast deinen Spaß und ich muss hier schuften."

Unser Gespräch war reines Geplänkel und diente nicht dazu, den anderen anzugreifen.

„Ja weißt du", begann ich, wurde jedoch durch das Öffnen der Terrassentür unterbrochen, was mich dazu veranlasste, ruhig zu sein. Auch Freddie verfiel ins Schweigen, sodass wir nun eine Konversation hörten, die uns beide beinahe laut auflachen ließ.

„Aiden ist so heiß", hörte ich eine von den Zwillingen seufzen.

„Ja, hast du gesehen, wie er mich angeschaut hat?", erklang die zweite Stimme.

„Unsinn! Er hat mich angesehen, Diana!"

„Pah, bilde dir bloß nichts ein, Olivia!", giftete Diana sofort zurück.

Doch ihre Schwester wollte nicht klein beigeben. Während Freddie und ich mit krebsroten Gesichtern in der Küche standen, blökte Olivia weiter.

„Er hat mich angeschaut, verdammt! Ich habe es genau gesehen! Er will gar nichts von dir!"

„Das halte ich im Kopf nicht aus", presste Freddie hervor, dessen Adern an den Schläfen vor unterdrücktem Lachen bereits anschwollen.

„Ich auch nicht", japste ich und dann platzten wir beide, wie abgesprochen, mit einem unkontrollierten Lachanfall heraus.

„Oh Gott, da ist jemand", kam es panisch von Diana, im gleichen Moment schaute Olivia um die Ecke.

„Das sind Kreddie", sagte sie ein wenig erleichtert.

Diesen Spitznamen hatte man uns schon vor einigen Jahren verpasst, als wir noch jünger waren und fast ständig zusammenhingen. Zwischen zwei weiteren, kurzen Lachanfällen, stieß ich den Satz hervor, der die Zwillinge beruhigte.

„Keine Sorge, wir verraten nichts."

Nachdem die beiden wieder verschwunden waren, rollte Freddie theatralisch mit seinen Augen. „Der arme Harry, die Hormone fangen an verrückt zu spielen und er hat das gleich im Doppelpack."

„Ach was, Maggie kriegt das schon hin."

„Wo waren wir eigentlich stehen geblieben?", nahm mein Freund das Gespräch wieder auf.

Kurz überlegte ich, um dann zu sagen: „Bei Tia und meinen Reisen nach St Ives. Ich mache das gerne und sehe es nicht als Arbeit an."

Freddies lüsternen Blick ließ darauf schließen, dass er gleich wieder aus den vollen schöpfte. Ich brauchte auch gar nicht lange zu warten, ehe er die Frage: „Und wann willst du sie nageln?", hervorbrachte.

„Gar nicht."

„Ach komm schon."

„Es wurde mir verboten."

„Von wem?"

„Deinem Dad."

Freddie brach in lautes Gelächter aus. „Als ob dich das interessiert, Bro."

Im Grunde genommen hatte er Recht. Wenn ich die Chance dazu bekommen würde, wäre ich nicht abgeneigt, denn diese Stunde im Swinger Club hatte mir außerordentlich gut gefallen. Aber so wie die Sache aussah, wollte Tia sowieso nichts von mir.

Zum Glück konnte ich mich in sexueller Hinsicht mit Cheryl trösten, auch wenn sie mir manchmal gehörig auf den Zeiger ging. Ich hatte Mühe gehabt, sie davon zu überzeugen, dass wir den Geburtstag meiner Mutter nur im engsten Familienkreis feiern würden, als sie vorschlug, vorbeizukommen, um mich anschließend mit zu sich nach Hause zu nehmen.

„Du könntest etwas trinken, denn ich würde fahren. Ist das kein Angebot? Und ich würde mal deine Eltern kennenlernen."

Als ich daran dachte, lief es mir noch immer eiskalt den Rücken hinunter. Warum verstand sie nicht, dass ich nur auf eine lockere Sexfreundschaft aus war? Vielleicht sollte ich demnächst ein klärendes Gespräch führen.

Der Abend wurde noch recht lustig. Direkt nach dem Grillen gab es eine Runde Schnaps für alle, die heute nicht Autofahren mussten. Ich verzichtete jedoch darauf, da ich am nächsten Morgen früh aufbrechen wollte, obgleich ich nicht allzu viel Schlaf bekommen würde.

Als Louis sich später von mir verabschiedete, überreichte er mir den Notöffner für seinen Porsche.

„Du kommst ja anders nicht rein, da das Teil auf mich programmiert ist", lauteten seine Worte. „Er ist vollgetankt, aber du wirst ihn zwischendurch füttern müssen, denn der Junge ist durstig, vor allem bei deiner Fahrweise."

Ich kannte seinen hemmungslosen Fahrstil ziemlich gut und konnte mir deswegen einen Spruch nicht verkneifen.

„Sag bloß, du kriechst damit gemütlich durch die Gegend."

Daraufhin präsentierte er sein übliches spitzbübisches Grinsen, welches mir offenbarte, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. Louis war einfach jemand, der immer die Grenzen austestete, egal um was es sich dabei handelte.

Ich musste ehrlich gestehen, dass es mich in den Fingern juckte, den Porsche bis an das Limit zu bringen, doch im Hinblick darauf, dass der Wagen nicht mir gehörte und ich gerne noch am Leben bleiben wollte, war es angebracht, das zu unterlassen.

Deswegen bewegte ich mich mit der Geschwindigkeit stets knapp über dem ausgeschilderten Tempolimit, während ich zuerst auf der M4 und später auf der M5 weiterfuhr. Da ich um fünf Uhr bereits von zuhause losgefahren war, herrschte auch kein Stau, als ich den Knotenpunkt um Exeter passierte.

Glücklich darüber, dass ich bisher ohne Probleme durchgekommen war, peilte ich die nächste Tankstelle an, da das letzte Viertel der Tankfüllung gerade anbrach. Zwar musste ich das Geld vorlegen, doch Louis hatte mir erklärt, dass er persönlich dafür aufkommen, und sich die Kohle vom Präsidium wiederholen würde. Schließlich konnte niemand nachvollziehen, wer nun nach St Ives unterwegs gewesen war.

Es war kurz nach halb elf am Vormittag, als ich vor dem großen Tor zum Stehen kam. Wie zu erwarten streckte Shawn seine Nase heraus, grinste und machte sich anschließend daran, den elektrischen Öffner zu betätigen.

„Hey, Kieran, na wie war die Fahrt? Ist der Porsche heil geblieben?", begrüßte er mich mit einem Klapps auf die Schulter, nachdem ich ausgestiegen war.

„Nö, er hat neben zwei Schrammen", erwiderte ich frech grinsend, um dann meine kleine Reisetasche aus dem Kofferraum zu holen.

Just in diesem Moment hörte ich wie jemand meinen Namen rief.

„Kieran!" Tia trat auf die Terrasse und lief in Windeseile auf mich zu. Ohne zu überlegen ließ ich die Tasche fallen und breitete meine Arme aus, um sie aufzufangen.

Der Duft ihres langen, glänzenden Haares kroch sofort in meine Nase und vermischte sich mit ihrem zarten, blumigen Parfum. Als meine Hände den sanften Stoff ihres Sommerkleides berührten, fühlte ich gleichzeitig ihre Kurven, die einfach verboten erotisch waren.

„Ich hab' mich schon so auf dich gefreut und Shawn hat gewettet, dass du vor zwölf Uhr hier bist." Die Worte sprudelten nur so aus ihrem Mund. Allgemein wirkte sie sehr viel fröhlicher und gelöster, als beim meinem letzten Besuch.

„Was wollen wir denn heute unternehmen?", fragte ich geradeheraus, nachdem Tia sich wieder aus meiner Umarmung gelöst hatte.

„Das ist eine sehr gute Frage. Ich habe in der Zwischenzeit den Reiseführer durchgelesen aber willst du dich nicht erstmal ausruhen?"

Kurz zog ich meine rechte Augenbraue nach oben. „Ausruhen? Das kann ich machen, wenn ich alt bin."

Inzwischen war Susan ebenfalls aufgetaucht und musterte mich mit dem üblichen Blick. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht, als sie mir zur Begrüßung ihre Hand reichte.

„Hallo, Kieran, schön, dich zu sehen."

Nur zu gerne hätte ich sie gefragt, warum sie mich immer so anstarrte, doch in Tias und Shawns Gegenwart schien mir das nicht angemessen zu sein. Um auf andere Gedanken zu kommen, wandte ich mich an Tia.

„Also, was hast du Interessantes im Reiseführer gefunden?"

„Ich möchte gerne das Barbara Hepworth Museum anschauen. Es ist direkt in St Ives, wir müssen gar nicht weit fahren."

„Hm, können wir auch dahin laufen. Ich habe nämlich genug gesessen", erwiderte ich ehrlich, worauf Tia ihr Ok gab und Shawn den Vorschlag zum Schluss absegnete.

Immerhin würde er uns begleiten und musste demnach ebenfalls zu Fuß gehen.

Schnell stellte ich die Tasche im Gästezimmer ab, wusch mir kurz die Hände und nahm eine kleine Wasserflasche sowie eine Banane mit. Das musste als Snack für zwischendurch reichen. Bevor ich wieder nach unten lief, schickte ich eine Sprachnachricht an Louis, dass ich zwar gut angekommen, aber der Porsche Schrott sei. Da er meinen Humor zu nehmen wusste, würde er das nicht als bare Münze nehmen.

Nach einem zwanzigminütigen Fußmarsch erreichten wir unser Ziel, das Museum der britischen Künstlerin, die Skulpturen aus Bronze, Stein und Holz angefertigt hatte. Über dreißig an der Zahl befanden sich im Museum sowie in dem dazugehörigen Park, der ebenfalls von ihr angelegt wurde. Es war interessant, alles anzuschauen, denn das Museum war exakt so eingerichtet, wie im Jahre 1950, als Barbara Hepworth dort ihre Werke kreierte. Viele der Skulpturen entstanden im Freien, was sich gut nachvollziehen ließ, denn bei schönem Wetter hätte ich wohl auch lieber draußen gesessen und dort gearbeitet.

Nach der Besichtigung des Museums beschlossen wir spontan in einem Pub einzukehren, da sich bei allen der Hunger meldete. Shawn spendierte das Essen sowie die Getränke und wir führten eine lockere Unterhaltung über unseren Museumsbesuch und die sich daraus ergebenden Eindrücke für uns. Tia schwärmte von den Skulpturen, allgemein schien sie sehr an Kunst interessiert zu sein, wie ich dem Gespräch entnehmen konnte. Wieder einmal überraschte sie mich positiv, denn man konnte sich wirklich über vieles mit ihr unterhalten. Die Zeit mit ihr war einfach niemals langweilig.

Deswegen wunderte es mich nicht, dass der erste Tag ziemlich schnell vorüber ging. Ehe ich mich versah, saßen wir zu viert beim Abendessen, während Paddox nur darauf wartete, dass Shawn endlich sein Besteck zur Seite legte, um mit ihm Gassi zu gehen. Es war unglaublich, wie sehr dieses Tier auf ihn fixiert war.

An diesem Abend saßen Tia und ich noch lange auf der Terrasse, um den Sternenhimmel zu beobachten, der über St Ives wirklich wunderschön aussah. In London bekam man so etwas sehr selten zu Gesicht, weshalb mich der nächtliche Himmel in dieser Gegend magisch anzog.

„Weißt du", erklang ihre Stimme leise, „ich habe über das nachgedacht, was du beim letzten Mal gesagt hast."

Da wir über so viele Dinge gesprochen hatten, wusste ich nicht sofort, auf welches Thema sie anspielte.

„Sag' es mir konkreter", erwiderte ich, den Blick auf ihr Gesicht gerichtet.

„Über die Sache mit meinem Vater. Ich denke, du hast Recht. Er ist nicht tot, denn die Mafia würde ihn nicht einfach so verschwinden lassen, wenn sie ihn aus dem Weg räumen sollten."

Ich nahm den letzten Schluck Wasser aus meinem Glas und antwortete dann: „Es ist schön, dass du dich mit dem Gedanken angefreundet hast, dass er noch am Leben zu sein scheint."

Ein wenig nervös drehte sie das Glas in ihren Händen.

„Auf der einen Seite beruhigt mich das, aber die Aussicht, dass die Mafia ihn vielleicht doch finden und töten könnte, macht mir Angst."

Ich verstand sie total, konnte jegliche Gefühlsregung nachvollziehen, weshalb ich mich bemühte, sie aufzumuntern.

„Dann müssen wir ihn eben zuerst finden."

Sogleich verdunkelten sich ihre braunen Augen. „Um ihn dann einzusperren? Das ist der blanke Hohn, Kieran."

„Dann würdest du also die andere Alternative vorziehen? Dass man ihn tötet?"

Beinahe aufbrausend erklang ihre Stimme, als sie mir antwortete. „Das habe ich nicht gesagt, aber was hätte ich dann noch von ihm? Begreifst du das nicht?"

„Doch, das tue ich."

Ich konnte nachvollziehen, dass sie sich all diese Gedanken machte und wie es in ihr aussah. Ein Leben zu führen, wie sie es gerade tat, oder besser gesagt tun musste, war alles andere als leicht.

Es war bereits kurz nach halb eins, als wir leise die Treppe nach oben schlichen, um Shawn und Susan nicht zu wecken, die sicher beide im Tiefschlaf lagen. Bei Shawn konnte man es direkt an den Geräuschen ausmachen, welche aus seinem Zimmer ertönten. Er sägte gerade wieder einen Urwald nieder.

„Gute Nacht, Kieran, du tust mir jetzt schon leid", sprach Tia, bevor ich die Tür zum Gästezimmer aufstieß.

„Ich werde es überleben", lautete meine pragmatische Antwort, welche ich lieber nicht so vorlaut von mir hätte geben sollen. Gleich nachdem ich mich ins Bett legte, stellte ich fest, dass ich meine Ohrenstöpsel zuhause vergessen hatte.

„Na toll", brummte ich unwirsch, versuchte aber dennoch mein Glück, leider ohne Erfolg. Ich drehte mich von einer Seite zur anderen, klopfte sogar einmal gegen die Wand, die an Shawns Zimmer grenzte. Es blieb einfach aussichtslos, denn er hörte nicht mit dem Schnarchen auf, im Gegenteil; es wurde immer lauter. Als ich es schließlich gar nicht mehr aushielt, stand ich auf, um mir in der Küche ein Glas Wasser zu genehmigen. Paddox hob kurz den Kopf, rührte sich aber nicht aus seinem Korb, sondern beobachtete lediglich, was ich tat.

„Du hast es gut", murmelte ich vor mich hin, als ich plötzlich eine Bewegung hinter mir spürte.

Sofort schnellte ich herum, um dann überrascht in Tias Gesicht zu blicken.

„Was machst du denn hier?", fragte ich perplex.

„Dasselbe könnte ich dich fragen. Ich kann nicht schlafen."

„Dann sind wir schon zu zweit. Shawn mutiert langsam zu einer Kettensäge."

Ihr Grinsen wurde breiter und als die nächsten Worte aus ihrem Mund kamen, glaubte ich einer Illusion zum Opfer gefallen zu sein.

„Wenn du möchtest, kannst du bei mir schlafen. Das Bett ist breit genug. Das bei deinen Eltern war ungefähr genauso groß."

Ich blinzelte mehrmals, um mich vergewissern, dass ich keiner Einbildung unterlag, doch Tia stand leibhaftig vor mir und bot mir einen Schlafplatz in ihrem Bett an.

„Also, wenn es dir nichts ausmacht, würde ich das machen."

„Natürlich macht es mir nichts aus."

Kopfschüttelnd ging sie voran, während ich ihr folgte. Es dauerte keine Minute, da lagen wir gemeinsam in ihrem Bett und suchten nach einer geeigneten Liegeposition für uns beide. Irgendwie endete es wieder wie beim meinen Eltern im Haus. Tia lag in meinem Arm und schloss sofort ihre Augen. Ich hingegen blieb noch eine Weile wach, aber da ich nichts mehr von Shawns Schnarchen vernehmen konnte, schlief auch ich irgendwann ein.

Zumindest so lange, bis mich etwas aus meinem schlimmen Traum holte. Während ich mich gerade noch zwischen einem Park, Alistair und einer Schießerei befand, fühlte ich, wie sich etwas sanft gegen meinen Mund presste. So zärtlich, dass der Traum abrupt zurückgedrängt wurde und das angenehme Ziehen in meinem Bauch mich vollends weckte. Erst da begriff ich, was in der Realität gerade passierte.

Tias Lippen lagen auf meinen.

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Endlich ein Cliffhanger! Ich habe mich übelst darauf gefreut, dieses Kapitel zu schreiben und hoffe, dass es euch gefallen hat.

Danke für die lieben Kommentare zum letzten Kapitel. Sie waren göttlich.

Oben im Bild seht ihr ein Foto von einer der Skulpturen, die Barbara Hepworth hergestellt hat. Dieses Museum, das Tia, Kieran und Shawn besichtigt haben, existiert tatsächlich in St Ives.

Das nächste Update wird erst am Mittwoch oder Donnerstag kommen, da ich am Wochenende null Zeit zum Schreiben habe. Ich hoffe, ihr verzeiht mir, dass es im Moment langsamer vorangeht. :)

LG, Ambi xxx

Kieran und ich wünschen euch ein schönes Wochenende :)))

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