06. Bloody
♪ No easy way out – Robert Tepper
Kieran
Regen trommelte gegen die Fensterscheiben, als ich an diesem Morgen erwachte. Tia lag neben mir und schlief noch tief und fest, zumindest hatte es den Anschein. Kein Wunder, es war erst viertel nach sieben, wie ich mit einem Blick auf mein Handy feststellte, welches mir gerade fünf neue Nachrichten von Freddie präsentierte, abgeschickt um zwei Uhr nachts.
Vorsichtig schälte ich mich aus dem Bett, um Tia nicht zu wecken und lief aus dem Zimmer. Bereits im Treppenhaus hörte ich die Stimmen meiner Familie, die am Frühstückstisch saß und sich unterhielt. Es ging um Akis Geburtstagsfeier, die am Samstag stattfinden würde und in diesem Zusammenhang um das Geschenk. Ich konnte mir denken, warum sie in Aidens Gegenwart relativ belangloses Zeug laberten. Schließlich durfte er nicht mitkriegen, was mit Tia los war. Wir erzählten ihm, dass sie meine Freundin sei. Wie auch anders hätten wir erklären sollen, dass sie bei mir schlief?
Aiden war nicht blöd und ich musste immer verdammt aufpassen, dass ich mich in seiner Gegenwart nicht verplapperte. Zum Glück mochte er Tia, nachdem er festgestellt hatte, dass sie ein Deutsches Wörterbuch besaß und ein paar Brocken sprechen konnte. Er selbst lernte diese Sprache seit zwei Jahren und war ganz gut darin. Aidens Stärke lag eindeutig nicht im Bereich der Mathematik, deswegen schwänzte er vermutlich auch genau diesen Unterricht besonders gerne.
Mum hatte mir alles erzählt, auch, dass er trotzdem seine Hausaufgaben gemacht hätte und in der letzten Arbeit eine drei schrieb. Allerdings war das vor seiner langen Historie der unentschuldigten Fehlstunden.
Ich konnte den Unmut meiner Eltern verstehen, obgleich ich früher hin und wieder selbst einige Stunden hatte ausfallen lassen. Jedoch ließ ich mich damals nicht so offensichtlich erwischen. Was er sich dabei gedacht hatte, war mir echt schleierhaft.
Am großen Esstisch angekommen, unterbrach ich mit einem „Guten Morgen" kurz die Konversation, worauf sich alle Köpfe zu mir drehten.
Aiden grinste breit, als er meinen Blick erhaschte. „Wo ist denn deine Freundin?", wollte er wissen.
„Sie schläft noch. Es war spät gestern", erwiderte ich lässig, um mir anschließend eine große Tasse aus dem Schrank zu holen. „Wo ist meine Superman Tasse hingekommen?"
„In der Spülmaschine", kam es von meiner Mutter.
Das Teil war heilig, denn Onkel Harry hatte es mir einst geschenkt und ich hatte sie extra aus meinem Apartment mitgenommen, weil es meine Lieblingstasse war.
Nachdem ich den Kaffee eingegossen hatte, widmete ich mich den Nachrichten von Freddie, die mich ziemlich breit grinsen ließen.
„Komme am Samstag nicht alleine." – Grinsendes Smiley – „Lorena ist wieder da." Nochmal ein grinsendes Smiley. „Wir wollen es nochmal versuchen."
Darauf gab es nur eine Antwort. „Zum wievielten Mal?"
Mum sparte sich den Spruch, dass ich kein gutes Vorbild für meinen kleinen Bruder sei, weil ich am Frühstückstisch mit dem Handy spielte, doch ihr Blick sprach Bände. Ich zuckte nur mit den Schultern, denn Aiden ließ sich zurzeit sowieso nichts sagen. Er verhielt sich aufmüpfig und bockig. Lediglich Tia wurde nicht zu einem Opfer seiner Launen.
Während ich den heißen Kaffee vorsichtig trank, dachte ich über Vieles nach. Gestern Abend war Liam noch vorbeigekommen, mit Tias Rucksack in der Hand, welchen er aus dem Hotel, in dem sie untergekommen war, geholt hatte. Somit besaß sie endlich ihre Sachen, einschließlich Klamotten und Schuhe zum Wechseln. Ihren falschen Ausweis hatte Louis konfisziert, allerdings mit dem Hinweis, dass sie einen neuen bekommen würde. Was das hieß, wusste ich sehr wohl.
Man würde sie bald von hier wegbringen, zu einem Long Term Temporary Fix.
Als Tia mich gestern nach der Bedeutung dieser Bezeichnung gefragt hatte, da erzählte ich ihr sofort die Wahrheit. Hierbei handelte es sich um einen Ort, der als Zwischenstation diente, um die Klienten von Louis' Team irgendwann später zum tatsächlichen Ziel zu bringen. Der Long Term Temporary Fix musste sich nicht zwingend in England befinden, jedoch lagen diese Zwischenstationen, die Louis' Team nutzte, alle in Europa. In der Regel verbrachten die Klienten mindestens zwei bis drei Monate dort. Obwohl ich noch nicht im Zeugenschutz arbeitete, waren mir diese Dinge hinlänglich bekannt.
Wie zu erwarten reagierte Tia ziemlich niedergeschmettert auf diese Mitteilung und auch ich war alles andere als begeistert, dass sie mir mehr oder weniger entzogen wurde. Ich hatte sie gern – nach wie vor.
Den Sex im Black Room versuchte ich so gut es ging zu verdrängen, sie hatte weiß Gott andere Probleme in ihrem Leben und von daher hielt ich es nicht für angebracht, die Sache, die ohnehin keine Bedeutung mehr haben würde, nochmals aufzurollen.
Diese eine Stunde zwischen uns war Geschichte, ab jetzt hatte ich nur noch die Aufgabe, auf Tia aufzupassen, so lange sie noch in London verweilte. Louis sah davon ab, sie in das normale Temporary Fix zu bringen, welches nur für kurze Zeiträume diente und das sich in London befand.
„Bei euch ist sie in Sicherheit", lauteten seine Worte. „Und sie ist nicht vollkommen alleine, was ich im Moment für wichtig halte." Damit hatte er wohl Recht, denn Tia befand sich momentan in keiner stabilen seelischen Verfassung. Sie machte sich unglaubliche Sorgen um ihren Vater, von dem sie seit ihrer Abreise aus Sankt Petersburg nichts mehr gehört hatte. Louis hatte das sehr wohl erkannt.
Psychologische Schulungen zählten zur Ausbildung, wenn man im Zeugenschutz arbeiten wollte und besonders die Leitung wurde bestens dahingehend trainiert. Auf diese Thematik freute ich mich bereits jetzt am meisten, da ich selbst schon hinreichend Erfahrung auf diesem Gebiet besaß. Als Patient, wohlbemerkt.
Meine Gedanken wurden unterbrochen, als Aiden aufstand und seine Schultasche schnappte. Für ihn wurde es nun Zeit zu gehen, ebenso rüstete sich unser Vater zum Aufbruch. Demnach würden Mum, Tia und ich alleine im Haus zurückbleiben.
Ich hatte keine Ahnung, wie wir den Tag verbringen sollten, da ich nicht wusste, ob es Tia gestattet wurde, Haus und Grundstück zu verlassen.
„Kieran?"
Erneut wurden meine Gedankengänge unterbrochen.
„Ja, Mum?"
„Würdest du Aiden nachher von der Schule abholen?"
Seufzend stellte ich die leere Tasse ab. „Kann ich machen, wieso?"
„Eigentlich will ich nur sicher gehen, dass er auch wirklich aus der Schule kommt. Er hat heute wieder Mathe-Unterricht, die letzten beiden Stunden."
„Verstehe." Kurz schoss ein Gedanke durch meinen Kopf. „Vielleicht kann ich Tia mitnehmen."
Ihr Nicken gab mir die Gewissheit, dass ihr das mehr als nur Recht war. Meine Mutter tat sich schwer damit, eine Angehörige der Mafia in unserem Haus aufzunehmen, doch im Moment gab es wohl keine andere Wahl.
„Ich schaue mal nach ihr." Mit diesen Worten erhob ich mich, um nach oben zu gehen.
Als ich das Zimmer betrat, blickte ich zu meiner Überraschung auf ein leeres Bett. Vermutlich war Tia aufgestanden und ins Bad gegangen. Um mir die Zeit zu vertreiben, schaltete ich den alten Flatscreen TV ein und schaute Nachrichten an. Es herrschte eindeutig zu viel Chaos auf dieser Welt und umso stolzer war ich auf meine Berufswahl. Wenigstens konnte ich den Wirrwarr ein wenig lichten.
Das Quietschen der Zimmertür ließ mich kurz zusammenfahren. Tia stand im Raum, nur mit einem Badetuch um den Körper geschlungen.
„Hey, hast du gut geschlafen?", begrüßte ich sie.
„Ähm ja, ich war gerade duschen und wollte mich jetzt anziehen."
Bei dem Versuch, ihren Rucksack nach geeigneten Kleidungsstücken zu durchwühlen, löste sich das Badetuch prompt von ihrem Körper. Ehe Tia danach greifen konnte, fiel es beinahe schon galant zu Boden und gab den Blick auf ihre nackte Haut frei. Ihr Busen war echt der Wahnsinn.
Binnen Sekunden erröteten wir beide und hastig griff sie nach dem flauschigen Badetuch, um es aufzuheben und ihre Blöße zu verdecken.
Eigentlich war das Schwachsinn. Wir hatten Sex miteinander gehabt, woraus sich die Tatsache ergab, dass meine Hände so ziemlich jede Stelle ihres gut gebauten Körpers kannten – und nicht nur den äußeren Teil. Als ich daran dachte, stieg plötzlich eine Hitzewelle in mir auf.
Sie war tabu für mich, das durfte ich niemals vergessen.
Endlich schien Tia frische Unterwäsche gefunden zu haben, ich erblickte einen bequemen Sport-BH sowie den passenden Slip dazu. Beides hielt sie in ihren Händen, als sie hektisch aus dem Zimmer stürzte.
Mit einem Seufzen ließ ich mich auf das Bett fallen. Die ganze Sache war wirklich kompliziert. Vor Aiden war sie meine Freundin, dennoch widerstrebte es mir, mich ihr gegenüber so zu verhalten, als seien wir zusammen. Ich konnte ihr nicht einfach einen Kuss auf den Mund drücken oder ähnliche Gesten fabrizieren. Trotzdem sollten wir irgendetwas tun, damit er nicht misstrauisch wurde.
~~~
Den Vormittag verbrachten wir alleine im Haus, da meine Mutter zur Arbeit gegangen war und schauten uns eine Dokumentation über New York an, die im Fernsehen lief und die wir zufällig entdeckten.
„Erinnerst du dich überhaupt noch an diese Stadt, Kieran?"
Tias braune Augen schauten zu mir, als sie diese Frage stellte.
„Fast gar nicht mehr, das ist zu lange her. Ich war ja erst fünf, als wir wegzogen."
Sie nickte kurz, um dann zu sagen: „Ich war achtzehn, als wir wieder zurück nach Sankt Petersburg gingen und ich vermisse New York sehr. Damals war alles so einfach."
Ich hörte die Trauer aus ihrer Stimme heraus, sowie den Wunsch, längst vergangene Zeiten noch einmal erleben zu können. Doch niemand konnte die Zeit zurückdrehen. Bevor ich etwas darauf erwidern konnte, meldete sich mein Handy.
„Das ist Louis, ich muss rangehen", ließ ich die hübsche Braunhaarige wissen.
„Hey, alles klar bei euch?", ertönte mir seine Stimme Sekunden später entgegen.
„Ja, soweit schon. Es ist gut, dass du anrufst. Ich wollte gerne wissen, ob Tia das Haus verlassen darf."
„Hm, inwiefern? Was habt ihr vor?"
„Ich muss Aiden von der Schule abholen und wollte sie gerne mitnehmen."
„So lange sie im Auto sitzen bleibt sollte das kein Problem sein. Und sie soll sich bitte eine Sonnenbrille und Kopfbedeckung aufsetzen. Vorsicht ist besser als Nachsicht."
Sogleich fiel mir ein Stein vom Herzen. Wahrscheinlich würde es ihr guttun, mal etwas anderes zu sehen, auch wenn es sich nur um ein paar Straßen und ein Schulgebäude handelte.
Da Louis klang, als ob er mit dem Wagen unterwegs war, stellte ich erneut eine Frage. „Wo treibst du dich denn herum?"
„Bin auf der Suche nach einem geeigneten Platz für Anastasia. Ich habe da schon was im Auge, wenn alles klappt, wird sie nicht mehr allzu lange bei euch sein."
Ein Teil von mir wollte, dass sie blieb, der andere Teil jedoch wehrte sich dagegen. Nach sechzehn Jahren hatten wir uns wiedergefunden und nun sollte ich sie einfach wieder hergeben? Ich schalt mich selbst einen Narren, bezüglich der unangebrachten Denkweise. Tia musste in Sicherheit gebracht werden, so schnell wie möglich und Louis' Handeln entsprach seinem konsequenten Stil und war zudem vollkommen richtig. Niemand würde dies jemals anzweifeln.
„Wo waren wir stehengeblieben?", wandte ich mich an Tia, nachdem ich das Gespräch wieder beendet hatte.
„In New York."
„Richtig, also ich würde sehr gerne mal wieder dorthin fliegen", meinte ich grinsend.
„Mach das, wenn man älter ist als fünf, sieht man diese Stadt aus einer ganz anderen Perspektive."
Die Wärme, die ihre braunen Augen stets ausstrahlten, wenn sie sprach, drängte sich in mein Herz. Tia erneut zu verlieren, würde nicht leicht sein und obwohl wir uns so lange nicht gesehen hatten, schien noch immer eine gewisse Verbindung zwischen uns zu herrschten. Man konnte diese nicht greifen, aber fühlen.
Als die Dokumentation sich dem Ende zuneigte, kehrte Mum nach Hause. Sie wurde von Sophia begleitet, die mich herzlich begrüßte. Seit der Geburt ihrer beiden Söhne arbeitete sie nur noch als Teilzeitkraft in Louis' Team, stattdessen hatte Briana ihre Arbeitsstunden wieder aufgestockt. Es ergab sich somit, dass nicht wirklich ein neuer Mitarbeiter dazugekommen war. Shawn blieb der ewige Newbie und konnte es demnach kaum erwarten, bis ich dazu stoßen würde.
„Wir kochen jetzt zusammen und später kannst du Aiden abholen", erklärte Mum, während sie den Einkaufkorb leer räumte.
„Wir", verbesserte ich, „Tia begleitet mich."
„Das ist schön." Mums Stimme klang sanfter als heute Morgen, sie schien sich ein wenig beruhigt zu haben.
Nachdem sie einen Topf mit Wasser aufgesetzt hatte, in welchem der Reis später kochen sollte, schnippelte Mum gemeinsam mit Sophia das Gemüse. Tia und ich deckten den Tisch und als alles fertig war, begannen wir zu essen.
„Das schmeckt toll", sagte Tia begeistert.
„Danke, das freut mich." Zum ersten Mal sah ich meine Mutter in Tias Gegenwart lächeln, was ich als ein gutes Zeichen wertete. Vielleicht begriff sie endlich, dass die junge Frau nichts für ihre Herkunft konnte.
Dank der Spülmaschine brauchten wir uns später nicht um den Abwasch zu kümmern und deswegen zog ich mich kurz mit Tia auf die Terrasse zurück. Es hatte aufgehört zu regnen, die Sonne kam hervor und der leichte Wind vertrieb die letzten Wolken. Frühlingsdüfte schwebten im Garten umher, dessen Pflanzen in ihrer vollen Blüte standen. So liebte ich ihn am meisten. Der Garten war die kleine Oase unserer Mutter, dorthin zog sie sich zurück, wenn sie ihre Ruhe haben wollte. Sie pflanzte die Blumen und schnitt die Sträucher, nur für das Rasenmähen war Dad zuständig.
Während Tia sich auf einem der Stühle niederließ, dessen letzte Regentropfen ich mit Hilfe eines Lappens weggewischt hatte, ging ich wieder zurück ins Haus, um Getränke zu holen. Noch bevor ich die Küche erreichte, hörte ich die Stimmen von Mum und Sophia.
„Und Lennard hat wirklich Aidens Matheaufgaben gemacht?"
„Ja, ich habe ihn dabei erwischt. Grundsätzlich ist es ja nicht schlimm, wenn sie sich gegenseitig helfen."
„Aber nicht, wenn unser Sohn die Schule schwänzt und Lennard dafür missbraucht", tat Mum ihren Unmut kund.
Lennard war nur ein halbes Jahr jünger als Aiden, die beiden besuchten die gleiche Klasse in der Harrow High School und waren eigentlich dicke Freunde. Da war es durchaus normal, dass man sich bei solchen Dingen deckte.
„Ich weiß nicht, was mit Aiden los ist, er macht uns wirklich Kummer", hörte ich Mum seufzen. Nun wurde es Zeit, meine Anwesenheit zu demonstrieren und deshalb räusperte ich mich kurz.
„Er ist in der Pubertät", erklärte ich ungerührt. „Lass ihm einfach Zeit, das gibt sich schon wieder."
„Du musst es ja wissen", lachte Sophia, „hast es ja schon lange hinter dir."
„Genau und deswegen sehe ich das nicht so eng."
„Du musst dich ja auch nicht mit seinen Problemen herumschlagen", kam es prompt von Mum, worauf ich nur erwiderte: „Ich nehme ihn eine Woche mit zu meiner Dienststelle und du wirst ihn nicht wieder erkennen."
„Das willst du nicht wirklich."
Den letzten Spruch meiner Mum steckte ich mit einem Grinsen weg, bevor ich mit zwei Gläsern und einer Flasche Wasser den Weg zur Terrasse antrat. Inzwischen strahlte die Sonne vom Himmel, als sei der Regen nie dagewesen. Tia räkelte sich auf ihrem Stuhl, drehte sich jedoch sofort in meine Richtung und nahm mir die Gläser ab.
„Alles ok?", erkundigte ich mich, als ich ihr nachdenkliches Gesicht betrachtete.
„Ja." Sie schmunzelte kurz. „Ich bin echt froh, dass deine Mutter mich nicht gefragt hat, ob ich beim Kochen helfen möchte."
Entgeistert starrte ich sie an. „Warum?"
„Weil ich nicht kochen kann", sprach sie und wurde dabei prompt rot. „Ich habe zwei linke Hände, was das angeht. Ich lasse sogar Rührei anbrennen."
„Ach komm schon, das kann selbst Aiden zubereiten", zog ich sie auf.
Irgendwie machte das Tia noch sympathischer. Perfekte Frauen lagen mir nicht, ich fand sie langweilig, denn kein Mensch war wirklich vollkommen. Jeder hatte irgendeine Macke und dass sie nicht kochen konnte, fand ich halb so schlimm.
Mit einem Blick auf mein Handy stellte ich fest, dass es an der Zeit war, zur Schule zu fahren. Wie besprochen, begleitete Tia mich dorthin. Sie zog sich ein Beanie über den Kopf und setzte ihre Sonnenbrille auf. Louis musste sich ziemlich sicher sein, dass ihr in unserer Gegend keine Gefahr drohte, ansonsten hätte er diesen Ausflug niemals erlaubt.
Pünktlich kamen wir an der Schule an und während wir darauf warteten, dass sie Schüler aus dem Gebäude stürmten, schaute Tia interessiert aus dem Fenster.
„Es ist alles so grün hier, das ist Wahnsinn."
Kurz lachte ich auf. „Du bist hier in England, wir haben den tollsten Rasen der Welt. Abgesehen von den irischen Weiden vielleicht."
Neugierig schaute sie zu mir. „Du warst schon in Irland?"
Mein Schmunzeln wurde immer breiter, als ich ihr die Antwort erteilte. „Ja, schon sehr oft. Mein Vater ist Ire und somit bin ich Halb-Ire. Außerdem leben meine Großeltern dort."
„Oh, das wusste ich gar nicht." Das Erstaunen in ihrem Blick war nicht zu übersehen. Tia wusste so Vieles nicht von mir und ich im Gegenzug auch nicht von ihr. Ich hoffte, dass wir noch ein paar Tage gemeinsam verbringen konnten, um die Lücken in unseren Lebensläufen gegenseitig aufzufüllen. Aber wollte ich das überhaupt? Wollte ich über ihre Welt, in der es von Korruption und Blutgeld wimmelte, Bescheid wissen? Ein Teil von mir wehrte sich vehement dagegen, doch der andere Teil, der war nahezu besessen davon, mehr zu erfahren. Wie so oft kämpften zwei Seelen in meiner Brust.
„Da kommt Aiden." Tias Stimme holte mich abrupt aus meinen tiefen Gedanken.
Tatsächlich lief mein kleiner Bruder neben Lennard her. Beide waren in ein Gespräch vertieft, doch als ich kurz auf die Hupe drückte, schaute Aiden sofort auf. Sein Gesicht erhellte sich und er zog Lennard mit sich, der aufgrund seiner Körperfülle immer etwas langsamer war.
„Hey, Kieran, ist ja toll, dass du mich abholst."
„Ja, Tia und ich waren gerade unterwegs und dachten, wir nehmen euch mit."
Da es kein großer Umweg war, lieferte ich Lennard ebenfalls zuhause ab. Er bedankte sich mit einem High Five, bevor er den Wagen vor seinem Elternhaus verließ. „Bis morgen, Aiden."
Dass mein Bruder heute wohl nicht den Matheunterricht geschwänzt hatte, fand ich zwar positiv aber komischerweise wirkte das auf mich, wie die Ruhe vor dem Sturm.
Am heutigen Tag schien seine Laune jedoch blendend zu sein, denn er unterhielt sich während der kurzen Fahrt unentwegt mit Tia. Irgendwie hatte er einen Narren an ihr gefressen. Kein Wunder, ich konnte ihn nur zu gut verstehen.
„Wie lange bleibst du eigentlich hier?", erkundigte sich mein kleiner Bruder bei unserem Gast.
„Ich weiß noch nicht genau, das kommt darauf an, wann meine Tante sich meldet. Ich sollte sie noch besuchen, weißt du."
Schauspielern konnte Tia auf jeden Fall, denn wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich ihr diesen Satz glatt abgenommen.
„Wo wohnt denn deine Tante?", wollte Aiden wissen.
Dass er auch alles immer so genau hinterfragen musste. Für eine Sekunde kreuzten sich Tias und meine Blicke, dann antwortete ich wie aus der Pistole geschossen: „In Südengland."
Überprüfen würde er das sowieso nicht können und da von Tia nur ein zustimmendes „Ja, da wohnt sie", kam, gab Aiden sich damit zufrieden.
~~~
Der Abend in unserem Haus verlief ruhig, zu ruhig für meinen Geschmack. Nach dem Abendessen erklärte Aiden Tia die deutsche Grammatik, während er seine Hausaufgaben machte. Ich hatte diese Sprache nie gelernt, sondern Spanisch und Französisch belegt. Beides würde ich im Zuge meiner kommenden Ausbildung wieder auffrischen.
Hin und wieder riskierte ich einen Blick auf mein Handy, um festzustellen, ob Louis vielleicht eine Nachricht geschickt hatte. Diese blieb jedoch aus. Es fühlte sich komisch an zu wissen, dass Tia bald wieder fort musste. Der Gedanke daran fraß sich in mein Inneres und nagte schwer an mir. Sie war eben nicht irgendjemand für mich, sie war schon immer etwas Besonderes. Es mochte komisch klingen, dass sich meine Einstellung hierzu selbst nach sechzehn Jahren nicht verändert hatte. Ich trat quasi auf der Stelle, wenn es um sie ging.
Gegen halb elf zogen wir uns in mein Zimmer zurück, da meine Eltern und Aiden sich ebenfalls schlafen legten. Tia und ich schauten uns noch einen Film an, der bis nach ein Uhr dauerte. Langsam fielen ihr die Augen zu, ihr Kopf sackte auf meine Schulter und alles was ich tat, war, die Fernbedienung zu betätigen, um den alten Flatscreen in den Ruhemodus zu versetzen. Kurz darauf schlief ich ebenfalls ein.
Ich lief durch einen Park, die Schreie der Kinder, die sich auf dem nahegelegenen Spielplatz vergnügten, schallten zu mir herüber. „Ein Eichhörnchen! Schnell, wir müssen es fangen!"
Meine Schritte wurden schneller, meine Atmung rascher und dann spürte ich den heftigen Stoß, der mich fast zu Boden gehen ließ. Ich schlug jedoch nicht auf, wurde gehalten und fiel letztendlich gegen einen warmen, weichen Körper. Alles wurde dunkel und als ich meine Augen wieder aufriss, da sah ich das Blut an meinen Händen kleben. Der rote Saft rann meine Finger hinab, immer wieder starrte ich darauf, während sich die Fassungslosigkeit in meinem Herzen ausbreitete. Plötzlich stand ich unter einer Dusche, wo ich versuchte, das Blut von meinen Händen zu waschen.
So lange, bis ich hörte, wie jemand meinen Namen rief.
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Hallelujah, dieses Kapitel war eine schwere Geburt, Kieran ist sehr anspruchsvoll zu schreiben. Ich hoffe trotzdem, dass es euch gefallen hat und bedanke mich ganz lieb für die Kommis und Votes, die ihr immer hinterlasst.
An dieser Stelle wollte ich euch noch darauf aufmerksam machen, dass meine Leserin @ntrntsplknd unter dem Namen Cassy Horan auf Spotify eine Playliste für Blood Shed angelegt hat. Diese trägt den gleichen Namen wie die Geschichte und ihr findet auf ihrem Account auch die Playlisten für die komplette Black-Reihe.
Das nächste Update kommt am Mittwoch oder Donnerstag. Bis dahin wünsche ich euch eine schöne Zeit.
LG, Ambi xxx
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