05. Runaway


♪ Run Runaway - Slade


Anastasia


Sankt Petersburg, Russland, 4 Wochen zuvor

„Anastasia, du musst gehen, das ist keine Bitte, sondern ein Befehl."

Eindringlich sprach mein Vater auf mich ein, als er mir das Zugticket und den gefälschten Reisepass übergab. Mit Tränen in den Augen nahm ich die beiden Dinge entgegen. Ich wollte ihn nicht alleine zurücklassen, doch mir blieb keine andere Wahl. Uns blieb keine andere Wahl.

Mein Rucksack stand bereits gepackt in einer Ecke. Ich hatte nur praktische Kleidung hineingetan, wer wusste, wie lange ich überleben würde. Vielleicht holten sie mich ein, fanden meine Spur und brachten mich um. Oder sie nahmen mich als Druckmittel gegen meinen Vater. Ich wusste, dass er dies unter allen Umständen verhindern wollte.

Die Tränen versperrten mir die Sicht, als ich die Papiere in den Rucksack, in ein gesondertes Fach, steckte. Jetzt hieß es Abschied nehmen von meinem Vater.

Er gab mir eine feste Umarmung, küsste mich auf die Stirn und ich hatte das Gefühl, ihn nie wieder loslassen zu wollen.

„Anastasia, pass gut auf dich auf. Ich werde mich melden, sobald ich kann. Vermutlich erst dann, wenn ich auch von hier weg bin. Warte in der vereinbarten Stadt auf mich, aber nicht länger als zwei Wochen, dann musst du weiterziehen, hast du mich verstanden?"

Er flüsterte so leise, dass es niemand außer mir zu hören vermochte. Selbst wenn jemand an der Tür lauschen würde, wäre es aussichtslos gewesen, die Worte zu verstehen.

Ein letzter Kuss erfolgte auf meine Stirn, ich erwiderter diesen und löste mich anschließend unter innerem Protest von ihm.

„Du darfst niemandem deinen richtigen Namen sagen, vergiss das nicht, meine Prinzessin", murmelte er.

„Was ist mit Tia?", hauchte ich, worauf er kurz zusammenzuckte.

„Du erinnerst dich noch daran?"

Als ich nickte, erwiderte er leise: „Den darfst du verwenden, niemand außer uns kennt ihn. Niemand außer uns und -." Er brach ab und ich nickte stumm.

Ein letztes Mal winkte ich ihm zu und bevor ich das große Haus verließ formte sich ein riesiger Kloß in meinem Hals. Würde ich ihn jemals wiedersehen?

Wenige Minuten später befand ich mich auf einer Straße in Sankt Petersburg, um den Weg zum Bahnhof anzutreten. Das Zugticket endete in Minsk, die Fahrt dauerte über vierzehn Stunden, demnach schlief ich auch im Zug.

Während ich zum Bahnhof fuhr (ich nutzte die U-Bahn), schaute ich mich immer wieder um, ob man mir nicht vielleicht folgte. Aber ich konnte keine verdächtigen Leute ausmachen. Trotzdem klopfte mein Herz wie verrückt. Seit heute war ich alleine auf mich gestellt, musste auf mein Leben achten und wünschte mir nichts sehnlicher, als meinen Vater wieder in meine Arme schließen zu können.

Bevor ich den Zug betrat, kaufte ich an einem der Bahnhofskiosks eine kleine Flasche Wasser sowie ein belegtes Sandwich. Anschließend wanderte ich zu dem Gleis, auf welchem die Abfahrt bereits angeschrieben stand.

Pünktlich um 15:31 Uhr setzte der Zug sich in Bewegung. Er war fast voll und ich hatte Mühe, mich durch die Abteile zu quetschen, um meinen Platz zu finden, in einem Schlafabteil, welches ich mit einer fremden Person teilte.

Die junge Frau war bereits zugegen, als ich eintrat. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden und ein braunes Augenpaar schaute mich freundlich an.

„Wir schlafen also heute zusammen hier", stellte sie lächelnd fest.

„Ja, sieht wohl so aus", erwiderte ich in meiner Muttersprache und wuchtete den Rucksack auf das obere Bett.

„Ich bin übrigens Irina", stellte sie sich vor. Ihr weißrussischer Akzent stach unverkennbar hervor.

„Freut mich, ich bin Nadja."

Der Name auf meinem gefälschten Ausweis lautete zwar ganz anders, aber je weniger ich diesen benutzte, umso unverfänglicher würde es sein. Sie brauchte nicht zu wissen, dass ich laut Reisepass die englische Staatsbürgerschaft besaß und als Erin Thomas durch die Gegend reiste.

Dieser Name stand ebenfalls auf meiner Kreditkarte, die mein Vater für mich besorgt hatte. An Geld würde es mir nicht mangeln, demnach würde ich es ohne Probleme bis in das westliche Europa schaffen und auch dort einige Zeit untertauchen können.

Offiziell reiste ich als Studentin und dies war tatsächlich der einzige Punkt, der keiner Lüge entsprach.

Seit fast drei Jahren studierte ich in Sankt Petersburg, aber damit war nun Schluss. Wie sehr wünschte ich mir, das Studium der französischen Sprache zu Ende bringen zu können. Ich liebte ihren Klang und ging vollkommen in der Grammatik auf. Sprachen fielen mir leicht. Außer Russisch und Französisch beherrschte ich noch Englisch fließend sowie Grundkenntnisse in Spanisch und Polnisch. Somit würde ich mich gut durchschlagen können.

Da meine Schlafkabinengenossin ebenfalls studierte, baute sich flugs ein Gespräch zwischen uns auf, welches wir im Speisewagen fortführten. Langsam wurde es dunkel draußen, wir merkten nicht einmal wie die Zeit verging. Erst als wir vollkommen alleine im großen Abteil saßen, bemerkten wir, wie spät es geworden war.

„Wir sollten schlafen gehen", schlug ich vor. „Der Zug kommt morgen früh um zehn nach sechs in Minsk an."

„Da hast du wohl recht", seufzte Irina.

Entgegen aller Erwartungen schlief ich ziemlich gut, vielleicht lag es auch daran, dass ich während der letzten Nächte in Sankt Petersburg kaum ein Auge hatte zumachen können. Als mein Wecker sich meldete, schnellte ich aus dem Schlaf hoch. Es war halb sechs am Morgen und mein Zug in Richtung Prag fuhr erst in der Nacht. Bis dahin musste ich die Zeit in Minsk totschlagen.

Nachdem ich mich von Irina verabschiedete hatte, die hier ihre Tante besuchte, suchte ich im Handy nach dem Stadtplan und trat den Weg in die Innenstadt an. Unterwegs kaufte ich in einem Supermarkt ein, bevor ich mich nach den Sehenswürdigkeiten umschaute. Ich hatte stets meine Mitmenschen im Blick, war immer auf der Hut, ob man mich verfolgte. Meine langen Haare verbarg ich unter einer Kopfbedeckung, einem Beanie und trug zudem eine Sonnenbrille.

Es war nervig, bis ein Uhr in der Nacht zu warten, denn erst dann konnte ich den Zug in Richtung Prag nehmen. Den Umstand, dass ich auf dieser Reise mehrmals würde umsteigen müssen, nahm ich gerne in Kauf. Denn je öfter ich die Züge wechselte, desto schneller verwischten sich meine Spuren.

Da ich das Ticktet von Minsk bis Prag mit Bargeld bezahlte, würde man nichts mehr nachvollziehen können. Aber ich nahm sowieso nicht an, dass meine Kreditkarte gehackt worden war. Derjenige, der diese für meinen Vater besorgt hatte, war einer der wenigen Leute, denen wir noch vertrauen konnten.

Um mir die Zeit zu vertreiben, schaute ich mir einige der Sehenswürdigkeiten in Minsk an, bummelte durch sämtliche Kaufhäuser und verbrachte den Nachmittag in einem Park, bevor ich zu Abend aß und anschließend das Kino aufsuchte. Der Film lief bis halb zwölf, sodass ich nicht mehr allzu lange warten musste, bis der Zug abfuhr. Ein Taxi brachte mich zum Bahnhof, ich hatte keine Lust, alleine in der Dunkelheit durch die Straßen zu laufen, um vielleicht noch angepöbelt zu werden.

Erneut würde ich eine Nacht in einem Zug verbringen müssen, aber dieses Mal hatte ich kein Schlafabteil, sondern nächtigte im Sitzen. Das Ruhen war jedoch nur von kurzer Dauer, da wir gegen halb sieben die polnische Grenze erreichten, wo die erste Passkontrolle stattfand.

Innerlich zitterte ich ein wenig, als ich dem Beamten meinen Reisepass übergab, äußerlich blieb ich jedoch vollkommen ruhig. Er schaute mich nur kurz an, dann gab er mir den Pass zurück, den ich mit einem erleichterten Aufatmen einsteckte. Der Schritt nach Polen war geschafft, jetzt hieß es nach Prag zu gelangen.

Ich musste umsteigen, in den Zug, der nach Warschau fuhr. Dort gab es erneut einen Wechsel bis nach Katowitz. Hier konnte ich über zwei Stunden verschnaufen, die ich jedoch im Bahnhof selbst verbrachte.Von dort ging es zum ersten Mal mit einen Bus weiter. Auch hier achtete ich stets auf meine Umgebung, ob mir jemand folgte und betrachtete die Gesichter der Menschen. Jeder konnte der Mafia angehören, man sah es den Leuten nicht an. Auch mir nicht.

Von Katowitz gelangte ich nach Bohumin, dort folgte erneut eine Passkontrolle, da sich dieser Ort bereits in der Tschechischen Republik befand. Auch diese verlief zum Glück reibungslos und somit konnte ich in den nächsten Zug einsteigen, der in einem Ort namens Pardubice endete. Jetzt war es nur noch ein Katzensprung bis Prag.

Der Regionalzug brachte mich direkt in die Hauptstadt der Tschechischen Republik und obwohl ich der Sprache nicht mächtig war, gelang es mir ohne Probleme ein Hotelzimmer zu ergattern. Hier sprach man nämlich Englisch und dies beherrschte ich fast besser als meine Muttersprache. Sofort gewöhnte ich mir wieder den amerikanischen Akzent an, das Überbleibsel meines langen New York Aufenthaltes. Achtzehn Jahre hatte ich dort verbracht und bei Gott, ich liebte diese Stadt noch immer, mit der ich nur die schönsten Erinnerungen verband.

Die Aufmachung des Hotels, in welchem ich nächtigte, wurde durch Glas, Marmor, Spiegeln und Chrom dominiert. In der Lobby gab es eine Spiegeldecke und die Wände zu den anliegenden öffentlichen Räumen bestanden aus Glas. Alles wirkte hell, freundlich und sehr sauber, das Zimmer eingeschlossen.

Endlich konnte ich wieder duschen, das tat wirklich Not! Im Gegensatz zu dem hell eingerichteten Zimmer bestand das Bad aus schwarzen, glänzenden Fliesen, die ziemlich edel wirkten. Lächelnd stieg ich in die Dusche, um mir den Staub und den Schweiß vom Körper zu waschen. Ich ließ mir Zeit und nahm später den Zimmerservice in Anspruch, der ein leckeres Abendessen servierte. Während ich aß, suchte ich im Internet nach einer Zugverbindung, die mich nach Berlin bringen würde. Das war die Hauptstadt Deutschlands, der eigentliche Westen. Und genau dort wollten wir uns treffen.

Berlin würde meine erste Station in der westlichen Welt Europas sein, ich hatte schon einiges über diese Stadt gelesen und buchte voller Zuversicht das Zugticket für den nächsten Tag. Wenn alles klappte, würde ich meinen Vater bald sehen und wieder in die Arme schließen können.

Als ich am nächsten Abend in Berlin eintraf, suchte ich ein etwas abgelegenes Hotel, nicht direkt im Trubel, aber in der Nähe einer U-Bahn Station. Maximal zwei Wochen würde ich hier verweilen und jeder Tag, den ich in dieser schönen Stadt verbrachte, ließ mich unruhiger werden. Mein Vater meldete sich nicht.

Während ich auf ein Lebenszeichen von ihm wartete, saß ich tagsüber meist die Zeit im Hotel ab und ging erst abends raus. In der Dunkelheit konnte man mich nicht so leicht verfolgen. Das Brandenburger Tor, den Alexander Platz, kurz Alex genannt, Checkpoint Charlie, das Wachsfigurenkabinett und vor allem die deutsche Küche hatten es mir angetan. Jeden Tag schlug ich mir den Bauch voll mit all den Köstlichkeiten, die diese Stadt zu bieten hatte.

Mit meinen Englischkenntnissen kam ich überall relativ gut durch und wenn ich etwas zu Essen kaufen wollte und man mich nicht verstand, zeigte ich einfach mit dem Finger drauf. Hin und wieder schnappte ich einige deutsche Worte auf oder Begrüßungen wie „Guten Morgen" oder „Guten Tag." Da ich einen Faible für Sprachen hatte, kaufte ich mir ein Wörterbuch und versuchte wenigstens ein bisschen Deutsch zu lernen und zu behalten.

Die Tage vergingen, doch von meinem Vater hörte ich nichts. Ich machte mir unglaubliche Sorgen um ihn. Was, wenn er schon nicht mehr lebte? Was sollte ich dann tun? Dann würde ich für immer und ewig vollkommen alleine auf mich gestellt sein. Meine Mutter starb, als ich noch nicht ganz drei Jahre alt war, ich konnte mich nur schemenhaft an sie erinnern. Die Bruchstücke in meinem Gedächtnis vermittelten mir jedoch den Eindruck, dass sie sehr liebevoll gewesen sein musste.

Bei dem Gedanken daran schluckte ich hart, um die aufkommenden Tränen zurückzudrängen. Mein Leben musste weitergehen, ich hatte es meinem Vater versprochen – niemals würde ich mich unterkriegen lassen und deswegen wurde es Zeit, den unausweichlichen Schritt zu tun. Ich musste Berlin verlassen und weiterreisen.

Meine nächste Handlung bestand darin, eine möglichst unverfängliche Verbindung nach London zu suchen, der britischen Metropole. So hatte ich es mit meinem Vater vereinbart. Dort würde ich vermutlich noch leichter untertauchen können und beherrschte zudem die Sprache perfekt.

Während ich versuchte, einen klaren Kopf zu behalten, schaute ich mir die Reiseroute auf dem Handy an. Von Berlin ging es nach Köln, von Köln nach Brüssel und von Brüssel direkt nach London, mein neues und vorerst endgültiges Ziel.

Drei Tage später traf ich in der britischen Metropole ein.

~~~

London, Gegenwart

„Nun, Anastasia, wie lange bist du schon in London?"

Louis' Tomlinsons blaue Augen richteten sich auf mich.

„Seit letzten Dienstag", antwortete ich wahrheitsgetreu, was er mit einem Nicken zur Kenntnis nahm.

Zu dritt saßen wir im Büro von Kierans Vater, mir war kalt und schlecht vor Aufregung. Noch wusste ich nicht, was dieser Mann bezweckte, ob er mir wohlgesonnen war oder nicht. Schließlich hatte ich nichts verbrochen, sondern befand mich nur auf der Flucht vor jenen Menschen, die mir und meinem Vater nach dem Leben trachteten.

„Ich will dir nichts Böses, Anastasia. Ich möchte dir helfen, aber das geht nur, wenn du mir die Wahrheit erzählst, ok?"

Irgendwie klang er gerade sehr väterlich, was mich ein wenig beruhigte. Zudem hielt Kieran immer noch meine Hand, eine Geste, die ich sehr zu schätzen wusste.

„Du weißt also nicht, wo dein Vater sich gerade aufhält?"

Als ich den Kopf schüttelte, flossen die ersten Tränen aus meinen Augen und da erlebte ich Kieran zum ersten Mal aufbrausend.

„Herrgott nochmal, Louis! Siehst du denn nicht, wie sehr sie das alles mitnimmt? Wäre es nicht angebracht, ein wenig einfühlsamer zu sein?", blökte er los.

Ein überraschter Laut entwich Louis' Kehle.

„Du bist noch nicht in meinem Team, wenn ich nicht irre, also halte dich bedeckt. Ich will Anastasia nichts Böses. Wenn sie tatsächlich verfolgt wird, sollten wir so schnell wie möglich handeln und sie in Sicherheit bringen. Vorher möchte ich jedoch, dass Briana eine Computerzeichnung des Mannes anfertigt, damit wir etwas in der Hand haben."

Er beugte sich zu mir. „Du erinnerst dich doch daran, wie er aussieht, oder?"

„Ja", erwiderte ich knapp. Mich in Sicherheit zu bringen klang nicht schlecht, die Frage war nur, ob ich Kieran dann regelmäßig würde sehen können. Im Moment war er der einzige Mensch, dem ich wirklich vertraute und der mir ein gewisses Maß an Sicherheit vermittelte.

„Gut, aber vorher möchte ich noch eines wissen, Anastasia. Wie bist du in diesen Swinger Club gelangt?"

Meine Wangen wurden flammend rot, als ich kurz zu Kieran schaute. Ich wollte unter keinen Umständen, dass er mich für eine hielt, die mit jedem herumvögelte, denn das war ich nicht.

„Das war eine Notlösung", erklärte ich mit erhobenem Kopf. „Eine Notlösung weil ich allem Anschein nach verfolgt wurde. Ich wusste nicht, wohin ich lief und da sah ich diese junge Frau aus einem Gebäude herauskommen. Die Tür stand noch offen und ich rannte quasi fast hinein. Ich wollte nur – ich wollte nur von der Straße verschwinden."

„Verstehe. Was passierte dann dort drinnen?", setzte Louis seine Fragerunde fort.

Jetzt wurde es richtig peinlich. Verzweifelt schnappte ich nach Luft.

„Also, Sie wollen doch nicht wirklich wissen -." Bevor ich den Satz zu Ende bringen konnte, unterbrach er mich. „Nein, nicht das, was zwischen Kieran und dir passiert ist. Das interessiert mich nicht, ich weiß selbst, wie es ist, mit einer Frau zu vögeln."

Lässig holte er einen kleinen Verdampfer aus seiner Jackentasche und tat einen tiefen Zug. Ein undefinierbarer, aber ziemlich angenehmer Geruch drang in meine Nase und sofort musste ich an meinen Vater denken. Seit Jahren dampfte er nämlich auch.

„Also, man hat mich gefragt, ob ich einen Termin hätte, was ich natürlich verneinte. Trotzdem erklärte man sich bereit, mich anzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht wofür. Erst, als ich den Vertrag las, bemerkte ich das."

Ich wagte es nicht, Kieran anzuschauen, der noch immer meine Hand hielt, die ein klein wenig zu zittern begonnen hatte.

„Und dann hast du dich dazu entschlossen, dass das Vögeln mit einem fremden Kerl wesentlich sicherer ist, als wieder hinaus auf die Straße zu gehen und dort unter Umständen erschossen zu werden", nahm Louis mir quasi die Worte aus dem Mund. Ich brauchte nur noch zu nicken und er war zufrieden. Im Gegensatz zu Kieran, der sich plötzlich unerwartet einmischte.

„Aber so schnell kriegt man dort keinen Termin. Ich habe fast zwei Wochen darauf warten müssen. Wie hast du das denn geschafft?"

Tief holte ich Luft, bevor ich zu sprechen begann. „Sie sagten, jemand hätte abgesagt und fragten, ob ich nicht Lust hätte, gleich in den Genuss kommen zu wollen. Der Mann sei jung und sportlich."

Beschämt schaute ich auf meine Hände. „Und dann habe ich einfach zugestimmt. Alles war besser, als wieder auf die Straße zu gehen, um meinem Verfolger vielleicht über den Weg zu laufen."

„Verstehe", kam es von Louis. „Das hätte ich wohl auch getan."

Er nahm noch einen tiefen Zug aus seinem Verdampfer, bevor er diesen wieder zurück in die Jacke steckte.

„Wir sollten ins Präsidium fahren. Kieran, du kommst mit, damit Anastasia sich wohler fühlt."

~~~

Am Präsidium angekommen, führte Louis uns durch den hinteren Eingang. Ich benötigte nicht einmal einen Besucherausweis und wunderte mich, dass der Pförtner uns die Tür aufriss und eine halbe Verbeugung vor Louis vollführte. Er musste ein ziemlich hohes Tier sein.

Das Büro lag im dritten Stock und als wir eintraten wurde Kieran überschwänglich begrüßt.

„Hey, da kommt ja unser zukünftiger Newbie!" Die Stimme gehörte einem Mann, den ich auf Ende dreißig schätzte. Sein braunes Haar war mit Gel nach oben gestylt und seine linker Arm mit Tätowierungen geschmückt.

„Halt die Klappe, Shawn", erwiderte Kieran lachend. „Ich bin noch nicht euer Newbie, erst, wenn ich die Ausbildung hinter mich gebracht habe."

„Das wirst du doch wohl schaffen, mach mir keine Schande", meldete sich der nächste zu Wort, den Kieran sogleich ansprach.

„Keine Sorge, Onkel Harry, das kriege ich hin."

'Onkel Harry' trug langes, lockiges braunes Haar und seine grünen Augen musterten mich freundlich, als er mir seine große, mit Ringen und Tattoos geschmückte Hand zur Begrüßung reichte.

Erst jetzt fiel mir die blonde Frau auf, die sich die ganze Zeit im Hintergrund hielt.

„Briana, wir brauchen eine Zeichnung", wandte Louis sich an diese, worauf sie nickte.

Ich wurde angewiesen, neben ihr Platz zu nehmen und anhand meiner Aussagen erstellte sie ein Bild des Mannes, der mich verfolgt hatte. Es kam ziemlich genau hin, sie machte ihre Arbeit wirklich exzellent.

„Fein, Punkt eins hätten wir abgehakt", meinte Louis zufrieden. „Kommen wir nun zu Punkt zwei." Im gleichen Moment stürmte ein weiterer, braunhaariger Mann in das Büro. Begleitet wurde er durch eine hübsche Frau, deren halblanges Haar ebenfalls einen Braunton aufwies.

„Liam, Sophia, schön, dass ihr hier seid, dann lernt ihr gleich unseren neuen Schützling kennen." Er wies auf mich. „Das ist Anastasia Romanow."

Diesem Liam klappte prompt die Kinnlade nach unten, während Sophia mich neugierig musterte.

„Du bist Nicholas' Tochter? Die kleine Tia?"

Offensichtlich kannte sie mich, ich jedoch konnte mich nicht an sie erinnern.

„Ähm ja, ich bin Tia", erwiderte ich etwas peinlich berührt.

Ein weiteres Mal öffnete sich die Bürotür, durch welche nun eine schlanke Brünette trat.

„Was herrscht denn hier für ein Massenauflauf?", fragte sie erstaunt und ging auf Kieran zu, den sie prompt umarmte.

„Na, Kleiner, alles fit bei dir?"

„Ja, El, alles ok."

„Nun denn", zog Louis die Aufmerksamkeit auf sich. „Jetzt hat Anastasia alle kennengelernt und umgekehrt. Leute, wir haben eine neuen Fall und deswegen gehen wir gleich zu Punkt zwei über."

Er blickte kurz in die Runde. „Für alle, die Punkt eins versäumt haben, das war die Zeichnung, die Briana angefertigt hat. Ihr könnt euch diese nachher anschauen. Punkt zwei ist die Suche nach einem geeigneten Long Term Temporary Fix."

Da ich nur Bahnhof verstand, blickte ich hilflos zu Kieran, der mir einen beruhigenden Blick zuwarf. Von was immer Louis da redete, es konnte nicht so schlimm sein.

„Ich werde mich in den nächsten Tagen darum kümmern und das bedeutet, dass ich nicht im Büro zugegen sein werde", erklärte Louis seinen Mitarbeitern, die daraufhin brav nickten.

„Soll ich mitkommen?", bot Harry an.

„Vielleicht, das lasse ich dich noch wissen."

Schön, dass allen außer meiner Wenigkeit der Begriff Long Term Temporary Fix bekannt zu sein schien, einschließlich Kieran, der sich an Shawns Schokolade bediente, die auf dem Schreibtisch lag.

Keine Minute später verabschiedete sich Louis von seinen Mitarbeitern.

„Wir sehen uns spätestens am Samstag bei Akis Geburtstagsfeier. Wir grillen am Nachmittag, also dürft ihr eure Gören und Bengel gerne mitbringen."

Nach diesen Worten schob er uns förmlich aus dem Büro. Während wir zum Ausgang liefen, ließ Louis noch einen Satz los, der Kieran und mich gleichermaßen zum Aufatmen brachte. „Kieran, ich habe heute Morgen deinen Boss angerufen. Du bist für die nächsten Tage vom Dienst befreit."

~~~

Als wir in Kierans Elternhaus eintrafen, war weit und breit niemand zu sehen. Louis verabschiedete sich von uns, ließ nochmals Grüße an Niall, Sienna und Aiden ausrichten, bevor er mit seinem großen Wagen davonbrauste.

„Wo ist deine Mutter?", erkundigte ich mich, während wir im Flur unsere Schuhe abstreiften.

„Arbeiten. Sie ist in einer Galerie tätig. Aiden ist in der Schule und mein Dad vermutlich im Pfarrbüro."

Etwas unschlüssig blieb ich im Raum stehen. Ständig hatte ich das Gefühl, Kieran erklären zu müssen, warum ich diesen Swinger Club aufgesucht hatte, was natürlich reiner Unsinn war, da er dies bereits wusste. Aber trotzdem fühlte ich mich schlecht.

„Kieran?"

„Ja?"

„Ich -, also ich wollte dir nur sagen, dass ich nicht so Eine bin."

Mit gesenktem Kopf stand ich da, als ich plötzlich spürte, wie er sachte mein Kinn anhob. „Schau mich an, Tia."

In seinen blauen Augen zu versinken fiel mir leicht. Das hatte ich schon als kleines Mädchen gekonnt, jedoch nicht mit dem gleichen Gefühl im Bauch, welches ich gerade spürte. Meine Eingeweide zogen sich zusammen. Er wirkte unglaublich attraktiv auf mich und ich biss mir vor lauter Nervosität auf die Lippe. Es war hart daran zu denken, dass ich mit ihm geschlafen hatte.

„Du könntest jetzt das Gleiche von mir denken, nämlich, dass ich eine männliche Nutte bin. Aber das bin ich nicht. Es war eine Wette, die mich in diesen Swinger Club geführt hat."

Als er mir dies genauer erläuterte, schaute ich ihn mit großen Augen an. Junge Männer kamen wirklich auf die unmöglichsten Ideen. Während Kieran sprach, zog er die Ärmel seines Shirts nach oben, sodass mein Blick auf das Tattoo am linken Handgelenk fiel. Ein großes, geschwungenes A zierte diese Stelle und es interessierte mich brennend, ob eine Bedeutung dahinterstand. Bereits am gestrigen Abend war mir dies aufgefallen, als wir uns schlafen legten.

„Was ist das für ein Tattoo?"

„Ein A."

„Das sehe ich, aber warum hast du es dir tätowieren lassen?"

Sein Gesicht nahm einen melancholischen Ausdruck an, als er sprach. „Es steht für zwei Menschen, die mir sehr nahe stehen. Der eine ist Aiden, mein kleiner Bruder."

„Und wer ist die andere Person?"

„Alistair."

„Gehört er auch zu deiner Familie?"

Kierans Antwort ließ einen kalten Schauer über meinen Rücken laufen.

„Er ist gestorben, als er mein Leben rettete."

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Bähm. An dieser Stelle unterscheiden sich die Spannungsbarometer. Wer Black nicht kennt, wird sich fragen, wer Alistair ist und was da passierte. Die anderen werden sich fragen, ob Kieran es Tia jemals erzählen wird und wie sie darauf reagiert. Beide Fragestellungen finde ich interessant.

Oben im Bild seht ihr Kierans Tattoo, wie ich es mir vorstelle. Ich hoffe, ihr mochtet das Kapitel aus Tias Sicht und habt euch nicht gelangweilt. Und ich hoffe natürlich auch, dass ihr gespannt darauf seid, wie es weitergeht.

Danke für die unglaublich tollen Kommentare und allgemein für eure Unterstützung. Das bedeutet mir sehr viel, denn ich hänge an Blood Shed.

Das nächste Update kommt am Sonntag.

LG, Ambi xxx

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