ZWEIUNDVIERZIG
Aus Gewohnheit, zum Teil aber auch aus Verlegenheit mied ich es, Ian anzusehen, dessen Blick unverwandt auf meinem Gesicht ruhte. Ich konnte die Frage in seinem Blick beinahe fühlen. Physisch. Wie den Daumen, der langsam über meine Wange fuhr, der Narbe folgte, wie eine Herde Karibus einem Wasserlauf. Mit bangem Herzen wartete ich auf die Frage, die unweigerlich kommen musste -, fragte mich gleichzeitig, ob er meinen rasenden Puls unter seinen Fingerspitzen fühlte, wenn er meinen Hals hinunterstrich. Doch Ian sagte nichts. Fragte nichts. Je länger das Schweigen andauerte, desto beklemmender und enger wurde meine Brust und mein wild rasendes Herz donnerte immer heftiger von innen gegen meine Rippen. Schließlich wendete ich den Blick von den Wolkentürmen ab, die von innen heraus beleuchtet wurden, wenn Blitze in höheren Schichten der Atmosphäre aufleuchteten.
Fast wünsche ich mir, er würde fragen, nur damit ich ihn ein für alle Mal abkanzeln konnte und er mich nie mehr fragte, wie es war auf dem harten Boden der Tatsachen aufzuschlagen und zu begreifen, dass meine kindischen Wünsche unerfüllbar waren. Alles, was Ian tat, war, sich ein wenig vorzubeugen und mit den Lippen meine Wange zu streifen. Zart und flüchtig, bevor er genervt aufstöhnte.
„Wer ist das denn jetzt schon wieder!", brummte er erst und ich schmunzelte über das „schon wieder". Ich hatte ihn noch nie telefonieren sehen.
„Ja?", blaffte er in sein Telefon, das in seiner Gesäßtasche vibriert hatte und das er sich in etwa so angewiderte an sein Ohr hielt, als sei es Ungeziefer mit mindestens sechs Beinen.
Kurz lauschte er, setzte sich auf. Dann warf er mir einen Blick zu und stand auf. „Nein, das geht heute nicht. Anna ist hier", hörte ich ihn sagen, während er in Richtung Sofa lief. Wieder huschte sein Blick zu mir. Einen Moment war Ian still und lief im Kreis einmal um die Couch und dann nochmal, während sein Gesprächspartner auf ihn einredete. Ein ums andere Mal sah Ian zu mir, strich sich durch seine Haare. Nachdenklich biss er auf seiner Lippe rum.
Ian sah wieder zu mir.
„Nein. Nicht heute. Das geht nicht", sagte er dann mit Bestimmtheit und hielt meinen Blick dabei fest. Wärme breitete sich in mir aus.
„Ein anderes Mal gern. Ich melde mich bei dir, okay?" Mit dem Finger strich er über das Handy und beendete damit das Gespräch. Achtlos warf Ian sein Telefon auf die Couch, dann setzte er sich wieder zu mir.
„Wo waren wir stehen geblieben?", fragte er mich und ich zuckte mit den Schultern. Eigentlich waren wir bei nichts Besonderem. Ich war nervös gewesen und er hatte...
„Ach genau", platzte Ian in meine Gedanken und lehnte sich langsam nach vorne.
„Jetzt fällt es mir wieder ein." Sein Atem streifte meine Wange, dann streiften seine Lippen das obere Ende der Narbe, knapp unterhalb des Wangenknochens. Kuss an Kuss hauchte er auf meine Haut, bis er meinen Mundwinkel erreichte. Stocksteif saß ich da, wusste nicht ob ich geschmeichelt sein sollte, weil ihn meine Narbe nicht abstieß oder ob ich weinen sollte, weil er der hässlichen weißen Linie so viel mehr Aufmerksamkeit widmete, als sie verdient hatte. Bevor ich zu einer Entscheidung gelangte, überschwemmte mich bereits die nächste Emotion. Ein lustvolles Ziehen, eine tiefe Sehnsucht, als Ian seine Lippen auf meine legte.
Seine großen warmen Hände lagen auf meinen Wangen und seine Daumen strichen über meine Wangenknochen. Dann glitten seine Hände unter meine Haare und vorsichtig nahm er mir meine Brille ab.
„Okay?", fragte er mich und erst als ich nickte, nahm er sie und legte das Gestell zusammen.
„Ich lege sie auf den Nachttisch. Gleich neben dir", informierte er mich und wieder schwappte eine Welle dieses seltsam warmen Gefühls durch meinen Körper, als er sich an mir vorbeilehnte und die Brille mit einem Klicken auf dem polierten Holz ablegte. Die ganze Zeit hielt er dabei meine Taille umfasst und sein Gesicht nahe an meinem Hals.
Ian ließ sich nach hinten fallen und zog mich mit, sodass ich halb auf ihm lag. Seine Hand hatte er in meinem Haar vergraben.
„Schließ Deine Augen", sagte er rau und automatisch hörte ich auf seine Stimme, die in seinem Brustkorb vibrierte, „und lausche dem Regen."
Das war leichter gesagt als getan, wenn man Ians Herzschlag im Ohr hatte, das eigene Blut vor Aufregung in den Ohren rauschte. Unbeholfen legte ich meinen freien Arm um Ians Mitte. Sein Shirt war ein wenig hochgerutscht, denn dort berührt meine Hand seine warme Haut.
Eine Zeit lang lagen wir still da und ich hörte dem Regen und Ians ruhigen Atemzügen zu. Dabei fragte ich mich unablässig, was ich hier tat. Was wir taten. Was es bedeutete, dass wir hier zusammen auf Ians Bett lagen. Der Masochist in mir ließ mir keine Ruhe. Ich brauchte Gewissheit.
„Ian?", fragte ich leise und bekam ein verschlafenes „Hm" als Antwort.
„Gehören mir noch mehr Abende oder ist das der einzige Anna-und-Ian-Abend?"
Träge rollte Ian sich auf die Seite und zog mich in seine Arme.
„Du bekommst so viele Abende mit mir, wie du ertragen kannst. Aber ich kann nicht dafür garantieren, dass ich dich dann in Ruhe lasse."
Fest zog er mich an sich und vergrub seine Nase in meinen Haaren. Reglos lag ich da und verarbeitete noch immer, was er gesagt hatte, als seine Atemzüge bereits verrieten, dass Ian eingedöst war. Für mich war an Schlaf aber nicht zu denken. Nicht, wenn es hier immer dunkler und dunkler wurde.
Unruhig befreite ich mich aus Ians Armen. Nicht mal seine Kontur, die mir so nahe war, konnte ich bei diesem Licht mit den Augen verfolgen. Um ihn nicht beim Schlafen zu stören, starrte ich geradeaus. Versuche leise zu atmen und mich nicht nervös herumzuwerfen. Die Situation könnte wirklich schön sein, für mich entwickelte sie sich aber immer mehr zu einer Belastung. Ich war schrecklich müde. Wieder und wieder fielen meine Augen zu. Aber jedes Mal riss ich sie wieder auf. Lauschte auf die Geräusche, die von Ians Atem überdeckt wurden und die ich nicht identifizieren oder zuordnen konnte.
Wieviel Zeit vergangen war, oder wie spät es war, konnte ich schon lange nicht mehr schätzen. Dafür wusste ich genau, wie oft Ian neben mir im Schlaf seine Position veränderte hatte. Jedes einzelne Mal hatte mich erschreckt und jedes hatte ich gezählt.
Doch jetzt war es anders. Er raschelte länger. Die Matratze neben mir sank an einer Stelle tief ein und Ian nahm einen langen Atemzug neben mir.
„Warum schläfst du nicht, Rotschopf?", fragte er heiser und verpennt. Gott, klang das sexy! War es gesetzlich zulässig, so eine Stimme zu haben, wenn man nicht bei einer Telefonsex-Hotline arbeitete?
„Anna?", raunte er durch die Dunkelheit, weil ich nicht antwortete.
„Brauchst du irgendwas?"
Oh, Mann. Was für eine Frage! Wenn er wüsste, in welche Richtung meine Gedanken gerade gingen. Dann grinste ich in mich hinein. Vielleicht würde ihm der Weg, auf dem meine Gedanken wandelten sogar gefallen.
„Nein, alles gut. Ich brauch nichts. Ich kann nur... nicht schlafen", erklärte ich, ohne auf die näheren Zusammenhänge einzugehen.
„Oh." Mehr sagte er nicht. Stille umfingt uns wieder und beinahe glaubte ich, Ian war schon eingeschlafen. Dann sagte er: „Was kann ich tun, damit du schlafen kannst? Soll ich auf die Couch gehen?"
„Nein, es liegt nicht an dir. Es ist nur..."
Ein Klatschen ertönte neben mir, als ob Ian sich die flache Hand gegen die Stirn geschlagen hätte.
„Es ist dunkel. Du bist völlig blind! Wie blöd von mir!" Sanft nahm er meine Hand. „Das ist es, oder?"
Tränen stiegen in meine Augen und schniefend nickte ich.
„Warte mal, ich glaube das Festnetztelefon..., ich glaub im Menü, da stand was von einer Babyphone-Funktion und einem Nachtlicht."
Sekunden später erhellte ein bläuliches Licht den Raum und verlieh dem Zimmer Konturen.
„Besser, Rotschopf?"
Dankbarkeit erfüllte mich bis in den letzten Winkel als ich bestätigend nickte.
„Viel besser!", seufzte ich und Ian lachte.
„Wie klar alles ist, wenn man mit einander redet, Anna!"
Verlegen stimmte ich zu und ließ mich von Ian in den Arm nehmen, vergrub mein Gesicht an seiner warmen, breiten Brust in dem sicheren Wissen, zumindest Umrisse zu sehen, wenn ich den Kopf drehte und als der Schlaf mich das nächste Mal packte, wehrte ich mich nicht dagegen.
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