ZWEIUNDSECHZIG

„Ich hab uns was gekocht", eröffnete mir Davis, als ich mich nach der Arbeit wieder trockengelegt hatte und frisch geföhnt sein Zimmer betrat.

„Du hast gekocht?"

Sicherheitshalber fragte ich nochmal nach. Gut möglich, dass ich nach dem Heimweg durch den eisigen Regen an Hirnfrost litt und Davis falsch verstanden hatte.

Meine Nachfrage brachte Davis dazu, seine Aussage sofort zu relativieren.

„Naja, ist jetzt nichts Großartiges. Mit nur einem Arm ging das auch nicht wirklich. Aber ich wollte, naja,... nach gestern... ich hab dich gestern mies behandelt und... da dachte ich..."

Ich staunte nicht schlecht. Das waren ganz neue, ungewohnte Töne!

„Und da dachtest du dir, warum nicht was Kochen und alles ist vergessen?"

Davis rieb sich mit der gesunden Hand nachdenklich über die Brust. Dann rümpfte er die Nase.

„Das klappt so nicht, oder?"

Leise seufzte ich.

„Ne, Davis. Nicht, wenn ein Verhältnis bereits so verkorkst ist wie unseres. Das Einzige, was noch helfen könnte, wäre, wenn du dorthin zurückgehst, wo du hergekommen bist. Und das am besten sehr, sehr schnell", fasste ich meine Meinung für meinen Stiefbruder zusammen.

„Aber Anna, ich hab dir schon erklärte, dass das nicht geht."

Mit schräggelegtem Kopf musterte ich ihn.

„Genau genommen, hast du mir gar nichts erklärte. Ich weiß nur, dass du nicht zu Dad fahren willst, bevor du weißt, ob du dein Stipendium behältst und dass du dir unübersehbar den Arm gebrochen hast."

„Und das nicht nur einmal", brummte Davis. „Elle, Speiche und den Oberarm." Davis hielt mir die Tür seines Zimmers auf. „Die Küche ist den Gang runter und dann die dritte Tür links."

Wie in jedem Stockwerk. Aber ich war grade zu beschäftigt, die Informationen zu verarbeiten, die Davis über die sicher schmerzhaften Brüche geliefert hatte, um zum Thema Küche eine Bemerkung zu machen.

„Wie geht das denn? Hast du gegen den Terminator gespielt?"

„Ne, Pech gehabt. Ich bin blöd gefallen und der Typ aus der anderen Mannschaft konnte nicht mehr stoppen und ist mir auf meinen Unterarm getreten. Ich hoffe, Toast Hawaii ist okay? Hast du früher nach der Schule ab und zu gemacht. Mehr war mit dem Arm echt nicht drin, Anna."

Reichlich unbeholfen zog Davis das Backblech aus dem Ofen.

„Komm, lass mal. Ich mach das", bot ich ihm an und stellte das Blech auf der Küchentheke ab. Dann holte ich Teller und Besteck.

„Sieht toll aus", lobte ich Davis, wenn auch nur widerwillig. „Sogar mit Kirsche als Deko! Wow!"

Ein schmales Lächeln huschte über sein Gesicht, das aber schon längst wieder verschwunden war, als wir uns zum Essen setzten.

„Was ich nicht verstehe, Davis..., wenn es ein unglücklicher Zufall war, dass du gestürzt bist und verletzt wurdest, warum solltest du dann dein Stipendium verlieren?"

Statt einer Antwort stocherte Davis in seinem Toast herum, das ich ihm in kleine Stücke zerteilt hatte. Nach einer Weile sah er von seinem Essen auf und sein trauriger Blick schnitt mir ins Herz.

„Ich werde nach dieser Verletzung nicht in die Mannschaft zurückkehren können, Anna. Ich kann die Leistung, die erwartet wird, nicht mehr bringen. Und damit bin ich für die Uni wertlos."

„Du hattest einen Unfall, Davis. Das ist nicht deine schuld! Dafür können sie dir nicht das Stipendium streichen!"

„Doch, Anna. Genau das ist der Punkt. Sie können und sie werden. Das ist keine Unfallversicherung, sondern ein Sportstipendium und wenn ich keinen Sport mehr mache, dann verliere ich die Anspruchsgrundlage und damit auch die Förderung."

„Aber du hast gesagt, sie beraten erst noch darüber. Was wenn sie noch Fragen haben und du nicht erreichbar bist?"

„Meine Meinung interessiert da nicht mehr. Ich hatte meine Anhörung schon. Es geht nur noch um das, was die Ärzte sagen. Um die Prognose. Und die ist, unter uns gesagt, beschissen. Überleg mal. Drei Brüche. Wochen ohne Training. Das kann ich neben der Uni nicht aufholen."

Nachdenklich schob ich mein Toast über den Teller.

„Klingt für mich nicht fair. Was ist, wenn sich die Ärzte täuschen? Dann machen sie dir deine Zukunft kaputt, obwohl du noch hättest spielen können. Warum kann man das nicht in ein paar Monaten entscheiden, wenn man weiß, wie die Brüche heilen, wie die Physiotherapie läuft und sicher ist, ob du nicht zurück ins Training kannst."

„Die haben im Team ihre Erfahrungen mit solchen Verletzungen, Anna. Ich bin nicht der erste, dem sowas passiert."

Statt zu essen, schob ich mein Toast auch weiterhin auf dem Teller hin und her. Etwas, das Carter gesagt hatte, ging mir wieder und wieder durch den Kopf, während Davis schweigend aß. Zu sagen, dass es mir leid tat für ihn, konnte ich mir sparen. Damit war ihm nicht geholfen. Er brauchte Taten.

Die Jungs in der Chirurgie dort waren top.

„Hast du deine Röntgenbilder dabei? Und vielleicht Arztbriefe? Einen OP-Bericht? Irgendwas?", platzte es schließlich aus mit heraus.

„Doch, klar. Ich hab das Zeug mitgenommen für den Fall, dass ich Schmerzen kriege und einen Arzt brauch oder so. Warum fragst du?"

Um Ruhe bemüht zuckte ich mit den Schultern, schließlich wollte ich Davis keine falschen Hoffnungen machen, bevor ich nicht mit Carter gesprochen hatte.

„Nur so. Ich dachte nur, wir könnten noch eine weitere Meinung einholen, was da vielleicht noch zu machen ist. Keine Ahnung. Vielleicht hilft eine OP oder so und alles wird wie vorher."

Davis runzelte die Stirn und er kniff seine Augen für einen prüfenden Blick zusammen.

„Eine OP, Anna? Willst du mich gerade verarschen? Du bist beinahe blind und zierst dich seit zwei Jahren, deine Augen richten zu lassen, willst mir aber weitere OPs aufdrücken?"

Mit dem Daumen pulte ich an etwas Dreck herum, der auf dem Küchentisch klebte, wo es jemand mit dem Putzen nicht so genau genommen hatte.

„Ich denke tatsächlich gerade darüber nach. Carter hat mir angeboten, mich zu einem Militärkrankenhaus mitzunehmen, wo sich jemand meine Augen ansehen kann. Ich will damit jetzt nicht sagen, ich lass was machen. Ich ziehe es aber inzwischen in Erwägung."

Davis' rechter Mundwinkel hob sich.

„Das wäre toll, wirklich. Ich sag dir schon seit einer Ewigkeit, du musst da was unternehmen."

Grimmig starrte ich ihn an.

„Klar sagst du das. Es würde ja dein Gewissen beruhigen."

„Stimmt." Augenblicklich hob sich sein zweiter Mundwinkel. Dann wurde er wieder ernst. „Ich hab damals Mist gebaut. Und wenn das wieder in Ordnung käme, dann wäre ich verdammt froh, weißt du? Ich wollte nie, dass es mit uns so endet."

Spontan legte Davis eine Hand auf meine. Nicht grob wie sonst, sondern nur leicht. Eine Geste, die so selten und ungewohnt war, dass ich vergaß, zurückzuzucken und es geschehen ließ.

„Anna, bitte, glaub mir. Ich wollte dich nie diese Treppe runterschubsen. Dich auf Abstand halten, dich von mir stoßen, das schon. Aber ich wollte nie, dass dir etwas zustößt."

Überfordert starrte ich auf unsere Hände, auf Davis' Daumen, der langsam über meinen Daumen rieb. Tränen stiegen in meine Augen, als ich zu Davis hinübersah.

„Aber es ist passierte, Davis, und nichts, was wir sagen, oder tun, macht das rückgängig. Auch keine Operation", antwortete ich mit tränenerstickter Stimme.

Energisch zog ich meine Hand unter der von Davis hervor und schob meinen Stuhl zurück.

„Anna, das weiß ich. Mir ist klar, dass ich damals völlig falsch reagiert habe. Aber ich war jung und dumm. Als diese Lehrerin um die Ecke kam..." Davis fuhr sich durch die Haare, rieb über sein Gesicht. Dann sah er mich an. Seine azurblauen Augen baten um Verständnis.

„Ich bin in Panik geraten, Anna. Kannst du das denn noch immer nicht verstehen? Ich dachte, sie würde uns das Tagebuch abnehmen und es unseren Eltern geben Dann wäre alles aus gewesen."

Um Halt suchend lehnte ich mich ein wenig nach vorne, stützte meine Hände auf der Tischplatte ab. Ich wollte dieses Gespräch nicht führen. Die Erinnerungen schnürten mir jedes Mal die Kehle zu. Ich konnte den Schmerz des Sturzes körperlich fühlen und auch das Adrenalin, das bei dem Gedanken an die lange, steile Treppe durch meine Adern pumpte. Mühsam atmete ich gegen die Enge in meiner Brust an, gegen die aufkeimende Panik, die wie ein Heißluftballon langsam vom Magen bis in meinen Kopf aufstieg. Obwohl das Blut in meinen Ohren rauschte, hörte ich all die hässlichen Geräusche. Sie waren in meinem Kopf und nur dort. Trotzdem fühlte es sich real an, als würde es noch einmal passieren. In diesem Augenblick. Ich hörte das Knacksen meiner Rippen, die an einer Stufe brachen, den dumpfen Schlag, als mein Kopf auf den Boden aufschlug und hörte das Splittern meiner Brille, die meine damals vergleichsweise homöopathische Sehschwäche ausglich. Ich hatte den spitzen Schrei der Lehrerin im Ohr, die Davis und mich überrascht hatte. Nach meinen Knien fingen selbst meine Ellbogen an zu zittern. Wie in Trance starrte ich auf den Tisch und durchlebte die paar Sekunden vor dem Sturz, die alles verändert hatten, noch einmal.

„Es tut mir leid, Anna. Ich hätte das nicht tun dürfen. Ich hätte es nicht vorlesen sollen."

Mit Tränen in den Augen sah ich zu Davis auf und begegnete seinem seltsam intensiven Blick.

„Nein, hättest du nicht. Du hattest kein Recht dazu", stimmte ich ihm unter Schluchzen zu.

Das Schweigen zwischen uns dehnte sich unendlich, bis Davis seine Hand auf meine Wange legte und eine verirrte Träne unter der Brille wegwischt.

„Und du hattest kein Recht, das mit dem Pokern aufzuschreiben! Weißt du, was los ist, wenn unsere Eltern das rausfinden?"

Bedrohlich näherte sich sein Gesicht meinem und ich hielt die Luft an. Seine Augen funkelten böse. Hektisch flatterte mein Herz in meiner Brust. Aber das fühlte ich gar nicht, merkte nicht, dass ich die Luft anhielt. Alles, was ich spürte, war die große Hand auf meiner Wange. Alles was ich sah, waren volle Lippen, die sich langsam meinem Gesicht nähern, meinem Ohr um etwas hineinzuflüstern.

„Du dämliches Ding wirst Doris nie ersetzen können! Eine echte Schwester wäre niemals so saudämlich, das wichtigste Geheimnis ihres Bruders in ein Tagebuch zu schreiben", zischte er. Sein Gesicht rückte noch etwas näher und die Nähe ließ die Situation noch bedrohlicher wirken.

„Sie war perfekt, weißt du?", wisperte Davis leise. „Wenn du dich wirklich anstrengen würdest, vielleicht kannst du noch lernen, was Loyalität bedeutet und werden wie sie? Und wer weiß, ob sich dann nicht meine Gefühle für dich auch ändern und ich doch eine Schwester in dir sehen kann?"

Ratlos starrte ich in Davis' Augen.

„Aber du hast gesagt, du hattest schon eine Schwester und du brauchst keine weitere", erinnerte ich ihn.

„Stimmt, aber eine andere Möglichkeit, wie wir miteinander klarkommen können, sehe ich nicht."

Noch immer kapierte ich nicht, wie Davis sich das vorstellte. Ich kannte Doris gar nicht. Seine Mum und Doris waren seit über vier Jahren tot!

„Wie soll das gehen?", fasste ich meine Zweifel in Worte. Gewinnend lächelte Davis. „Ich werde dir helfen, zu sein wie sie. Sie war die perfekte Schwester und du, du kannst das auch."

Meine Idee war Scheiße, Anna."

Die Worte meines Stiefbruders und das damit verbundene Eingeständnis, dass sein Plan nicht aufgegangen war, rissen mich aus meiner Trance. Langsam hob ich den Blick. Sein Plan war Scheiße. Aber irgendwie... auch nicht. Denn es hatte funktioniert. Auf eine kranke und pervertierte Art. Ich war durch den Sturz und seine Bemühungen mich in eine Ersatz-Schwester zu verwandeln, eine andere geworden. Nicht unbedingt eine bessere Version meiner selbst, schon gar keine zweite Doris, aber eine angepasste, gesellschaftsverträglichere Anna, die mit ihrer Wortwahl und ihrem Verhalten nicht überall und immer aus der Rolle fiel.

„Ich hab uns damals in eine blöde Situation gebracht. Gleich zweimal nacheinander. Erst vor der Klasse und dann, als diese Lehrerin um die Ecke kam und ich dir das Buch weggerissen habe. Aber ich konnte es doch nicht ahnen, Anna. Wie hätte ich wissen sollen, dass du das Gleichgewicht verlieren würdest?"

Tief atmete ich ein und atmete die Luft langsam wieder aus.

Ich räusperte mich um Fassung ringend.

„Du hast nicht uns, sondern mich in eine üble Lage gebracht. Ich bin die Treppe hinuntergefallen und nicht du. Ich wurde danach täglich wie ein Freak behandelt. An keinem Tag hast du je Zweifel daran gelassen, dass ich für dich nicht liebenswert bin. Weder als Schwester, noch als, ach Scheiße, keine Ahnung als was. Als Freundin vielleicht. Und obendrein bin ich jetzt entstellt, Davis, für den Rest meines Lebens. Sieh mich mal an! Wer will mich denn so? Und wenn mir jemand Sympathie entgegenbringt, dann denkt jeder, es würde aus Mitleid geschehen. Deine Lage war nicht halb so misslich wie meine. Warum eigentlich?"

Ich tippte mit dem Zeigefinger gegen meine Lippe, als müsste ich überlegen.

„Ach ja, genau! Deine Geheimnisse wurden überhaupt nicht ans Licht gezerrt, das waren nur meine! Dich hat niemand gehänselt, weil du dir eine normale Familie gewünscht hast. Du warst der unantastbare Football-Star und ich das Mädchen, für das du dich ständig geschämt hast. Gott, Davis, ich begreife wirklich nicht, warum du dir von allen Orten auf dieser beschissenen Welt ausgerechnet diesen ausgesucht hast, um Deine Wunden zu lecken!"

„Ich bin nicht nur hier, um meine Wunden zu lecken", rechtfertigte Davis sich.

„Ich bin auch wegen deiner Wunden hier. Ich habe dir viel zu viel zugemutet in den vergangenen Jahren. Nur damit ich mich besser fühle. Das war egoistisch und total falsch. Ich hätte nicht erwarten dürfen, dass du eine Tote ersetzt. Niemand kann Doris ersetzen. Ich hätte spätestens nach dem Unfall versuchen müssen, der Bruder zu sein, den du dir gewünscht hast. Den du gebraucht hast. Aber wir waren noch Kinder. Ich war dumm und egoistisch." Kurz hielt er inne und suchte meine Augen. „Anna, ich hatte bis letzte Woche keine Ahnung, wie es ist, wenn plötzlich alles den Bach runtergeht wegen einer Verletzung. Das hab ich erst rausgefunden, seit meine Karriere im Arsch ist."

Und durch den Unfall war er über Nacht erwachsen geworden? Wohl kaum!

Langsam ließ Davis seinen Kopf auf seinen gesunden Unterarm sinken, den er auf den Tisch gestützt hatte. Der andere Arm ruhte nutzlos auf seinem Oberschenkel. Er wirkte völlig am Boden zerstört. Ich versuchte innerlich Distanz zu halten, seinen bedauernswerten Zustand nicht an mich heran zu lassen. Aber ich schaffte es nicht. Mein Mitgefühl regte sich in mir und entwickelt ein beängstigendes Eigenleben, das mich meine Hand heben und diese dann auf seine Schulter senken ließ. Ich verstand ihn nur zu gut, konnte seine Zukunftsängste erahnen und auf schmerzvolle Weise nachvollziehen. Gerne hätte ich ihn mit Worten getröstet. Aber was sagte man üblicherweise?

Das wird schon wieder.

Du wirst sehen, es war für irgendwas gut.

Du schaffst das.

All diese Sätze waren lächerlich oberflächlich.

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