ZWEIUNDFÜNFZIG
Carter erwartete mich bereits mit einem Lächeln am Eingang der Bibliothek. In seinen Händen hatte er meinen nagelneuen Mitarbeiterausweis, den er mir ansteckte, als würde ich einen Orden bekommen.
„Wir haben es weit gebracht, Anna", behauptete er dabei. Sein Optimismus war umwerfend. Und er hatte recht. Wir waren keine Kriminellen geworden. Er hatte die Ausbildung der Marines gemeistert und ich war an einem College eingeschrieben.
„Wie geht es deiner Schwester?", erkundigte ich mich und sein Gesicht umwölkte sich schlagartig. Sein Strahlen erlosch.
„Sie ist letzte Nacht nicht nach Hause gekommen. Aber sonst ist alles super."
„Klingt echt toll."
Mein Sarkasmus überstieg den von Carter um einige Nuancen. Dann fügte ich ein
„Tut mir echt leid" an, was er mit einem Kopfnicken quittierte.
„Ich gebe mir echt Mühe, Anna, ich dachte, wenn wir erstmal raus sind aus dem Park, weg von Dad, würde sie sich fangen. Aber dann ist das mit Mum passiert. Sie trauert um Mum. Und sie behauptet ständig, sie vermisst das Arschloch. Sie hasst mich, weil ich sie nicht dahin zurücklasse. Ich kapier es nicht!"
Der große Kerl wirkte so verzweifelt, dass ich nicht anders konnte, als ihn zu umarmen. Und dann sagte ich etwas möglicherweise Unüberlegtes.
„Ich fliege Weihnachten nach Hause. Ich kann sie mitnehmen, wenn du willst und ein Auge auf sie haben. Ein paar Tage im Park und sie wird sich wünschen, nie zurückgekehrt zu sein."
Mein Versprechen hallte die folgenden drei Stunden in mir nach wie ein Donnerschlag. Bis ich es ausgesprochen hatte, wusste ich nicht, dass ich Weihnachten nach Hause fliegen würde. Nicht zu Mum, sondern wirklich nach Hause. Dorthin, wo Davis nicht war. Offenbar wollte mein Unterbewusstsein es in Stein meißeln, bevor ich es mir überlegen konnte. Und so glücklich wie Carter über das Angebot war, konnte ich unmöglich zurückrudern. So oft, wie ich die Augen über mich selbst verdrehte, grenzte es an ein Wunder, dass ich noch geradeausschauen konnte, als ich die Umkleide betrat und mich in ein bequemes Outfit warf, in dem ich meine Mädels begrüßte. Langsam taut
en sie auf. Und es gab zwei Neuzugänge.
Dana war ein Mädchen, von dem ich niemals gedacht hätte, sie wäre erst vierzehn. Sie sah aus wie... keine Ahnung. Älter. Viel älter. Das lag am Make-up. Und ihrer Kleidung. Und den Brüsten. Nicht, dass ich mir die näher angesehen hätte. Ich hatte selber zwei nicht zu verachtende Exemplare unter meinem Shirt und brauchte auf ihre nicht neidisch zu sein. Aber an dem Mädchen waren es nicht nur Brüste, sondern fleischgewordener Sex und diese Ausstrahlung sollte man mit vierzehn nicht haben. Soweit zur Theorie. Denn in der Praxis sah es so aus: die meisten der Mädchen in diesem Raum würden in den nächsten Wochen oder Monaten diese Transformation durchmachen. Sie würden zu früh erwachsen werden und glauben, dass Sex ein Synonym für Liebe war. Dana war nur der Vorbote für etwas, das ich nicht würde aufhalten können.
Das zweite Mädchen war das Gegenteil von Dana. Sie sah eher aus, als hätte sie die meisten Stunden ihres Lebens in einem Basketballfeld verbracht. Auf meine Frage, warum sie hergekommen waren, zuckten beide erstmal mit den Schultern.
„Weil Jungs das sexy finden, wenn ein Mädchen gut tanzt."
Elaine, die soeben den Saal betrat, brachte es mit ihrer Ansicht auf den Punkt. Die Hälfte der Mädchen kicherte verlegen. Die andere Hälfte grinste, als hätten sie gerade den heiligen Gral überreicht bekommen. Den Schlüssel zum Körper aller Jungs in ihrem Umfeld. Eigentlich wollte ich darüber kotzen. Ich war mit vierzehn in die selbe Falle getappt. Hatte meine Unschuld einem Jungen geschenkt, der es meilde ausgedrückt, nicht verdient hatte. Aber er war älter als ich gewesen. Charmant. Und ich dachte, er würde mich im Tausch gegen meine Unschuld glücklich machen. Mir das Gefühl geben, irgendwohin zu gehören. Doch es war ein fauler Tausch gewesen. Alles was ich bekommen hatte, war das Gefühl ausgenutzt worden zu sein und obendrein den wenig kleidsamen Spitznamen Foxy. Eine Hommage auf meine roten Haare gepaart mit einer Anspielung auf eine gewisse sexuelle Freizügigkeit. Seither war ich vorsichtiger geworden. Zumindest solange kein Alkohol im Spiel war. Der brachte meine Hormone jedes Mal ein eine völlige Schieflage. Sehnsüchte, die ich sonst unterdrückte, paddelten munter in Cocktails herum. Und dann passierten diese Dinge. Diese seltsamen Dinge.
Ich schüttelte den Kopf und schloss energisch die Tür. Die zum Ballettsaal und die zu meinen abwegigen Gedanken an längst vergangene Demütigungen. Und drehte die Musik auf. Der Unterricht wurde kein bisschen sexy. Es sei denn, die Jungs standen neuerdings auf knallrote Gesichter, verschwitzte Haare und Shirts, die unter den Achseln nass vom Schweiß waren.
Nach der Stunde scheuchte ich die Mädchen raus, riss die Fenster auf und ließ den Geruchscocktail aus Schweiß und versagendem Deo in die Nachbarschaft entweichen. Dann beeilte ich mich, selbst zu duschen und mich umzuziehen, bevor meine gefährlichen Neuzugänge erschienen. Bewaffnet mit lediglich einer Flasche Wasser stellte ich mich schließlich den Jungs, in denen Ian das geballte Böse vermutete.
Und stellte fest, dass einer der Jungs, die ich erwartet hatte, ein Mädchen war, das sich mit breitem Lächeln als Bella vorstellte. Ein verdammt selbstbewusstes Mädchen. Keines dieser Hungerhäkchen. Sie hatte ein paar Pölsterchen, die ihren Körper weicher und weiblicher machten. Ihre Lippen waren voll und sinnlich und die glänzenden tiefbraunen Haare, die ihr bis zu den Hüften reichen, schwangen wie ihr Hintern bei jedem Schritt. Sie war mühelos sexy.
Die beiden Jungs, die ich schon kannte, Diego und Will, waren entspannt, die zwei anderen beiden supernervös, als Nicolai reinkam.
„Hey", begrüßte er die fünf mit Handschlag.
„Ihr seid neu, oder?"
Dann wendete er sich direkt an mich: „Was steht auf dem Plan?"
Ich zuckte mit den Schultern und hob eine Augenbraue.
„Keine Ahnung? Musik hören? Bisschen was Rauchen? Tanzen? Einen Schnapsladen überfallen. Was man halt macht am Samstagabend."
Nicolai warf mir einen irritierten Blick zu.
„Okay", sagte er dann nur. „Ich schick dir Biscuit rein."
Das war offenkundig Nicolais Art, mir zu zeigen, dass er sich Sorgen machte. Etwas subtiler als es Ian getan hatte, aber genauso deutlich.
„Hab euch gleich gesagt, ist eine Scheißidee. Solche Schickimickis mögen welche wie uns gar nicht. Was meinste, was die hier können, was wir nicht selbst schaffen?"
Mit schräggelegtem Kopf mustere ich den Sprecher.
„Es regnet hier nicht rein und wir können Lärm."
Zum Beweis drehte ich die Anlage, die auf stumm gestellt war, einmal kurz voll auf.
„Die Frage, die ich mir stelle, ist eher, was könnt ihr, das mich nicht zu Tode langweilt?"
„Okay, reicht jetzt, Brian." Wütend rief Will seinen Kumpel, der genau wie der andere Unbekannte, nicht den Anstand hatte, sich vorzustellen, zur Ordnung. Dann reichte er mir einen USB-Stick.
„Wir sind bei nem Contest aufgetreten. Und schon in der Vorrunde rausgeflogen."
Ich zuckte mit den Schultern.
„Dann waren die anderen halt besser. Sowas passiert."
„Aber wir wollen die besten werden", sagte Diego. Sein Ehrgeiz entlockte mir ein Schmunzeln. Ich hatte in meinem Leben genug Leute kennengelernt, die etwas können wollten, aber nicht bereit waren, alles zu tun, was dafür nötig war. Erfolg gab es nicht geschenkt. Erfolg war harte Arbeit.
„Finale, Baby. Wir wollen ins Finale!" Das Mädchen in der Gruppe wackelte mit den Hüften, dann trat sie vor Biscuit und stellte sich kokett grinsend vor.
„Ich bin Bella."
„Der Name ist bei dir Programm, oder?", witzelt Biscuit. Sein Blick wanderte anerkennend über ihre Kurven und die zartbraune Haut der Latina-Schönheit. Die Hand noch am Türknauf, sagte er:
„Nur das das klar ist, Leute. Wer Anna betatscht oder ihr sonst wie blöd kommt, wird von mir persönlich in 'nem schwarzen Plastiksack rausgetragen. Wer Anna wehtut, macht Bekanntschaft mit Waterboarding. Ich weiß da 'nen sehr ruhigen Keller in der Nähe."
Er zwinkerte mir zu, dann dreht er sich noch mal um.
„Oh, und Jungs? Kein Weitpinkeln, kein Schwanzvergleich, keine Tittenshow. Anna ist ein anständiges Mädchen, klar?"
Mal wieder rollte ich mit den Augen.
Will hob drei Finger und ich wählte den dritten Song auf dem USB-Stick. Was die Fünf draufhatten, war nicht mal schlecht und gleichzeitig war das, was sie ablieferten, so übel, dass mir beinahe die Augen tränten.
„Ihr habt da mal alles reingepackt, was ihr an Moves beherrscht und das ist eine ganze Menge. Aber es ist zu viel. Zu durcheinander. Jeder macht irgendwas, das zur Musik passt. Also mehr oder weniger. Aber ihr seid keine Gruppe, ihr seid fünf Einzeldarsteller, die nebeneinander ihr Programm runterspulen. Damit kann man nicht mal einen Blumenpott für Oma gewinnen."
Hart aber ehrlich. Steve, bei dem ich getanzt hatte, hätte es nicht anders formuliert. Und dafür waren sie hergekommen. Sie wollten eine ehrliche Meinung. Sie mussten lernen, mit Kritik zu leben. Kein einfaches Unterfangen, wenn man so cool war wie die Fünf hier und zum Frühstück schon Eiswürfel lutschte.
„Okay, fuck, Mann", fluchte Will und strich sich übers Gesicht.
„Ich hab uns für diese Sache in drei Wochen angemeldet. Hab hundert Mäuse Startgeld hingeblättert. Schätze, das kann ich knicken, dass wir die Kohle wiedersehen."
„Keine Ahnung, was die Konkurrenz so draufhat. Aber wer aufgibt, der hat schon verloren."
Oh Gott. Kam das jetzt echt aus meinem Mund? Ob das authentisch rüberkam?
„Hey, Alter. Sieh es positiv. Es kann nur besser, werden. Oder Anna?" Diego grinste verwegen und ich glaube, seine Einstellung gefiel mir.
Die nächsten drei Stunden verbrachten wir mit Analyse. Öder Scheiß, aber wichtig. Ich zeichnete die Gruppe aus verschiedenen Winkeln auf, und wir kauten jede Bewegung aus jeder Perspektive durch. Bis wir sicher waren, was in die Choreo sollte und was rausflog. Dann schickte ich die bösen Jugendlichen nach Hause und sagte ihnen, sie sollten Montagabend wiederkommen.
Mein Problem war jetzt: ich brauchte bis Montag eine gute Choreo. Und unbedingt andere Musik. Und sofort was zu essen, bevor ich starb vor Hunger.
Für Letzteres hatte Ian, der an dem gerade erst verbauten Bar-Tresen im Eingangsbereich lümmelte, zumindest eine schnelle Lösung parat, die nur einen Anruf und einen zu vernachlässigenden Umweg bedeutete. Kurz darauf saßen wir bei ihm zu Hause auf der Couch und aßen die beste Lasagne, die man sich nur vorstellen konnte. Gekocht von niemand geringerem als seiner Mum.
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