ZWANZIG

Mit einem schlechten Gewissen griff ich nach dem Hemd und nahm den Kampf mit den Knöpfen auf. Wobei ich froh war, dass es sich um kein Shirt handelte, das ich über den Kopf ziehen musste. Dort pochte noch immer ein dumpfer, aufdringlicher Schmerz, der ein ungutes Gefühl in der Magengegend nicht überdecken konnte. Es war mein Gewissen, das sich da zu Wort meldete und mich plagte. Nicht allein, weil Ian mir ein frischgebügeltes Hemd statt eines Shirts gegeben hatte, das ich unweigerlich zerknautschte, sondern vor allem, weil ich Ian immer wieder mit Davis verglichen hatte. Schweren Herzens musste ich mir eingestehen, dass Ian in der vergangenen halben Stunde eine Menge für mich getan hatte, mit dem ich nicht gerechnet hatte, obwohl er dazu durch nichts verpflichtet war. Leise seufzte ich. Diese neue, fürsorgliche Seite an dem gutaussehenden Iren passte so gut in mein Bild von Typen wie ihm, wie Lakritz in Erdbeerkuchen. Über meinen merkwürdigen Vergleich musste selbst ich schmunzeln. Mein Kopf schien ein bisschen mehr abbekommen zu haben, als ich zunächst dachte.

Um nicht oben ohne dazustehen, falls jemand ohne Vorwarnung ins Zimmer platzte, oder Ian schneller zurückkehrte als erwartet, drehte ich meinen Rücken zur Tür und zog erst einmal nur mein Oberteil aus. Das weiche Hemd in das ich zügig schlüpfte, war mir viel zu weit, reichte zum Glück aber dank der Größe fast bis Mitte Oberschenkel. Mit Mühe fummelte ich die winzigen Knöpfe wieder zu. Nachdem ich diese Mission erfolgreich hinter mir hatte, ließ ich mich mit einem Seufzer der Erleichterung wieder auf die Matratze sinken, tastete nach den Verschlüssen der Riemchen um meine Knöchel und schob, als ich die Sandalen endlich los war, die Jeans über meine Schenkel. Mit meiner Hose in der Hand stand ich gerade am Fußende, als Ian zurückkam

Einen Moment blieb er in der Tür stehen. Keine Ahnung, was er dort tat. Seine Reglosigkeit löste jedoch eine unbeschreibliche Nervosität in mir aus, die mein Herz hektisch schlagen ließ. Ich schluckte gegen die Trockenheit in meinem Hals. Beobachtete Ian mich vielleicht gerade? Zum wiederholten Male in den vergangenen, ich wusste nicht einmal wieviel Stunden, weil ich mein Handydisplay nicht lesen konnte, verfluchte ich meine Sehschwäche. Wenn Ian mich musterte, dann wüsste ich schon gern, ob es eher meine Narbe war, auf die er sein Augenmerk richtete, oder ob er dem Rest von mir den Hauch einer Chance gab. Ab dem Hals abwärts war ich nicht unbedingt missgestaltet. Gut, ich wäre schon immer gerne ein paar Zentimeter größer gewesen. Im Gesamtbild konnte ich mit meiner Oberweite, langen und schlanken Beinen und einem ansehnlichen Hintern überzeugen. Eigentlich sollte es mir egal sein, aber die Vorstellung, dass Ian mich gerade abcheckte, machte mich verlegen.

Mit zitternden Fingern legte ich die Hose aufs Geratewohl auf dem Bett ab und tastete über die Knopfleiste.

„Hab ich mich verknöpft?", kleidete ich meine Befürchtung, ihm ohne es zu ahnen, einen perfekten Ausblick auf meine hellblaue Unterwäsche zu bieten, in eine unverdächtige Frage.

„Nein", murmelte Ian mit belegter Stimme und ging an mir vorbei zum Kopfende des Bettes. Leises Klirren erklang, als er eine Flasche auf dem Nachtkasten platzierte.

„Ich hab noch siebzehn Minuten Geburtstag. Die muss ich noch ausschöpfen", rechnet er mir dabei vor.

„Willst du auch noch ein Bier? Sonst hätten wir noch den schläfenwarmen Wodka, den ich dir vorhin mitgebracht hab."

Erst war ich unschlüssig, ob ich nicht lieber ins Bett gehen sollte, dann nickte ich aber. Wer wusste, ob ich schlafen konnte mit meiner Verletzung. Ergo konnte ich Ian ebenso gut die letzten Minuten dieses für ihn verkorksten Geburtstages als äußerst dürftiger Ersatz für seine Freundin Gesellschaft leisten.

Es zischte und kurz darauf umschlossen Ians warme Finger mein Handgelenk, als er mir die Flasche in die Hand drückte. An dieser Stelle löste Ians Berührung kein angenehmes Gefühl aus. Mühsam unterdrückte ich den Wunsch über die Haut zu reiben, wo gerade seine Finger unliebsame Erinnerungen heraufbeschworen.

„Du musst nicht hierbleiben. Ich will dir hiermit die Party nicht versauen, Ian", murmelte ich und tippte vorsichtig gegen meine Stirn.

Er schnaufte.

„Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, Anna. Ich hab meine Party bereits vor einer guten Stunde alleine und in Begleitung einer halbvollen Flasche Tequila verlassen. Nicht nur die Feier, der ganze Tag war für 'n Arsch. Meine Freundin hat an meinem Geburtstag fremdgevögelt, mein Dad hat es nicht mal geschafft mich anzurufen, um mir zu gratulieren und die Hälfte der Typen die sich da unten auf meine Kosten blöd saufen, hatte nicht mal den Anstand, ein Geschenk mitzubringen."

Siedend heiß lief es mir den Rücken runter und ich schlug erschrocken die Hand vor den Mund.

„Oh Gott! Ich hab dir auch nicht gratuliert. Und Geschenk hatte ich auch keins." Wie unangenehm mich in diese Riege achtloser, egoistischer Menschen einreihen zu müssen. Schlimmer noch! Ich war ihm darüber hinaus noch absichtlich aus dem Weg gegangen. Besser ich verschwieg dieses Detail diskret.

Sanft stieß Ian mit seiner Flasche gegen meine und riss mich damit aus meiner kritischen Selbstreflexion.

„Ist nicht schlimm, Rotschopf. Du kannst mir gerne jetzt etwas Schönes schenken." Sein Unterton bekam schon wieder etwas Neckendes und ich augenblicklich Panik. Angespannt sah ich Richtung Boden auf meine bloßen Füße, die irgendwo dort unten waren, selbst wenn ich sie nicht sah, und fragte mich, auf was er diesmal anspielt, nachdem er vorher schon von einem Geburtstagsfick gesprochen hatte.

„Ich wüsste nicht was", wisperte ich und spürte wie Flammen über meinen Hals in mein Gesicht krochen. Der Gedanke war gedacht und es war schwer, ihn wieder loszuwerden. Ian war verflucht attraktiv mit diesen wolkengrauen Augen und dem kantigen Kiefer. Seine Lippen wie geschaffen zum Küssen und sein breiter Nacken ließ auf einen ansonsten ebenfalls gut trainierten Körper schließen. Ich musste ihn nicht nackt sehen, um mir seinen muskulösen Oberkörper vorstellen zu können. Wir alle hatten Bilder im Kopf von diesen Werbe-Ikonen. Mich trennten nur wenige Meter von einer Mischung aus Levis, Cool-Water und dem Cola-Typen. Und er wollte Geschenke von der kleinen Anna. Das kam ein wenig überraschend. Meine Schläfe pochte stärker, ein Echo meines rasenden Herzens.

Um von meiner Nervosität abzulenken, die all diese körperlichen Gedanken auslösten, nahm ich einen viel zu großen Schluck Bier, an dem ich beinahe erstickte. Ian klopfte mir lachend auf den Rücken, was mir erst richtig den Atem nahm. Das mit dem Klopfen hatte noch nie geholfen. Jedenfalls nicht bei mir!

„Ich hätte schon ein paar Ideen, Anna", antwortete er verschmitzt und meine Röte wurde bei seinem flirtigen Unterton noch tiefer. Oh Gott. Ich war für diese Sache mit dem Flirten nicht gemacht.

„Tanz mit mir", bat Ian mich einen Herzschlag, bevor ich vor Verlegenheit sterbe.

„Was?"

„Tanz mit mir", wiederholte Ian. „Das macht man auf Partys, oder?"

Das widersprach völlig meinem Plan, Distanz zu Ian zu halten.

„Ich glaube schon", antwortete ich daher ausweichend.

„Dann tanz mit mir. Das ist mein Geburtstagswunsch, Anna."

„Okay", stimmte ich langsam zu. Tanzen konnte ich freilich. Ohne Ians Gesicht sehen zu können, war es aber schwierig, einzuschätzen, ob er mich gerade verarschte. Ian langte in der Zeit, die ich brauchte, über seine Ernsthaftigkeit nachzudenken, in seine Hosentasche und zog sein Handy hervor. Mit wenigen Handgriffen entlockte er dem Smartphone sanfte Klänge, die durch den Raum schwebten und den Lärm überdeckten, der gedämpft durch die Tür von unten heraufdringt. Ian schien es ernst zu meinen. Tapfer schluckte ich meine Bedenken runter.

Ich werde mit Ian tanzen.

Weil es sein Wunsch war. Vor allem aber, weil ich selbst es wollte und wenn es sich am Ende als noch so dämlich rausstellte. Die Auswahl seiner Musik brachte meine Entscheidung kurz ins Wanken.

„Walzer?", fragte ich ungläubig und versuchte mir lieber nicht vorzustellen, wie nah wir uns dabei kommen mussten: Er würde mich berühren, mich im Arm halten.

„Ist das dein Ernst?"

War ihm bewusst, dass ich nur ein Herrenhemd trage? Weniger wäre nackt gewesen. Wortwörtlich!

„Wir können auch..." Ian klang beinahe defensiv, als er wieder nach dem Telefon griff und ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich seinen Wunsch in Frage gestellt hatte.

„Nein, bitte. Wenn es das ist, was du dir wünschst, dann ist ... Walzer ist gut", versuchte ich die Situation zu retten und mich nicht völlig zu blamieren. Zwischen introvertiert und antisozial war ein Unterschied. Wenn mein Leben an der Uni ein Neuanfang sein sollte und ich hier Fuß fassen wollte, dann musste ich mich schleunigst zusammenreißen und in normale Dinge nichts hineininterpretieren.

Ist ganz normal, wenn man auf einer Geburtstagsparty Walzer tanzt. Ne, ist klar Anna. Ist es nicht, aber egal. Ich kann das!

Blindlings griff ich in die Richtung, in der ich Ians Hand vermutete. Bereits auf halbem Weg kam er mir entgegen, nahm mir galant das Bier aus der Hand. Mit dem Arm, den er mir um die Taille legte, zog er mich mit einem bestimmten Ruck zu sich. Mir stockte der Atem. Das war noch aufregender, als ich es mir vorgestellt hatte. Sein Duft hüllte mich im selben Moment ein, in dem Ian meine freie Hand umfasste. Die Hitze seines Unterarmes sengte sich durch die dünne merzerisierte Baumwolle des Hemdes. Zögernd legte ich meine Hand auf Ians Schulter, ohne zu wissen, was genau mich und meine nackten Zehen erwartete. Ians Schuhe konnten eine ernste Bedrohung für sie darstellen.

Diese Sorge erwies sich als unbegründet. Mit traumwandlerischer Sicherheit führte Ian mich Drehung für Drehung durch die Musik, ohne dass ich auch nur einmal zweifelte, wohin im Raum er sich bewegen wollte, oder ich meine Füße in Sicherheit bringen musste. Obwohl zwischen Bett, Kommode Schrank und den Schreibtischen nicht viel Platz war, stieß ich nirgendwo an. Ed Sheeran sang derweil Komplimente, die ich nie zu hören bekommen würde und mein dämliches Tänzerherz wünschte sich, wir könnten ewig weiter durch das Zimmer gleiten. Irgendwann hatte Ed alles herausgeschmettert, was er zu sagen hatte und der Song endete. Die nachfolgende Stille füllte den Abstand zwischen Ian und mir mit Unsicherheit, zumindest auf meiner Hälfte. Ich nahm meine Hand von Ians Schulter. Er dagegen hatte andere Pläne. Er nahm sein Handy, blickte darauf und als er behauptete, wir hätten noch ein paar Minuten, schöpfte ich Hoffnung, dass mein Wunsch, nach einem weiteren Tanz erhört wurde. Tatsächlich startete er ein weiteres Lied für uns.

„Dann gibt es nächstes Jahr wohl kein Geschenk", stellte ich neckend fest, als er mich wieder enger zu sich zog.

„Du kannst richtig witzig sein, Anna!", murmelte Ian ein Stück näher an meinem Ohr als erwartet. Sein Atem, der noch immer ein wenig nach Alkohol riecht, strich über meine Haut und schickte Gänsehaut an meinem Hals hinunter bis zu meinen Brüsten. In meinem Unterleib zog es verdächtig. Die heftige körperliche Reaktion überraschte mich eiskalt. Wenn ich getrunken hatte, passierte mir so etwas öfter. Aber im Augenblick war ich stocknüchtern, daran gibt es nichts zu deuten.

Elton John begleitete uns die nächsten Minuten durch den Raum und fragte, ob wir heute Nacht die Liebe spürten. Ich fühlte eher Mitleid. Mit Ian. Denn egal, wie tapfer er sich gab, beide Lieder hatten eine klare Botschaft und ich war mir sicher, Ian hatte genau diese ausgesucht, um Nora damit seine Zuneigung zu verkünden.

An mich waren beide Songs nur verschwendet und ich war froh, dass Ian danach kein weiteres Stück mehr anspielte. Die Leichtigkeit, die ich beim Tanzen gefühlt hatte, war wie weggeblasen.

„Danke für den Tanz", flüsterte Ian, als die Musik endete und entließ meine Hand nur langsam aus seiner.

Wo im Raum ich mich gerade befand, wusste ich nicht genau, orientierte mich aber an der Lampe und fand halbwegs sicher das Bett, wo ich mich niedersetzte.

Erst als Ian fragte: „Tut es noch sehr weh?", bemerkte ich, dass ich unbewusst die rechte Schläfe rieb. Er reichte mir den Wodka erneut und dieses Mal schraubte ich die Flasche auf.

„Der ist stark, Anna", warnte Ian mich. Schmunzelnd nickte ich, gab ein wenig in meine Hand und verteilte den Alkohol auf der Schläfe.

„Und teuer war er auch", brummte Ian missgelaunt.

„Na dann!" Wenn er teuer war, konnte er nicht schlecht sein. Ohne zu zögern nahm ich einen großen Schluck.

„Rotschopf, das reicht." Ian nahm mir die Flasche weg. „Zuviel durcheinander trinken tut nicht gut."

„Aber wenn ich morgen sowieso mit Kopfschmerzen aufwache, dann kann ich das auch ausnutzen", stellte ich fest.

„Genau, Anna, trink nur. Vielleicht kann ich das später ausnutzen", stichelte er.

Er drückte mir die Flasche wieder in die Hand und kurz zögerte ich nach Ians Kommentar. Schließlich stellte ich den Wodka neben mir auf den Boden und kuschelte mich unter die Decke.

Aus Ians Richtung erklang ein Rascheln und sofort kniff ich reflexartig ich die Augen zu, auch wenn ich sowieso nichts sah, und wartete, dass er das Licht löschte. Dann stieg er ebenfalls ins Bett. Mir überlässt er jedoch die Decke.

Steif wie ein Brett lag ich neben Ian und fragte mich, warum es bei zwei Kissen nicht auch zwei Decken geben konnte und warum Nate die beiden Betten zusammengeschoben hatte. Mit zwei Metern Abstand zu Ian würde ich mich besser fühlen, entspannter.

„Alles okay?", murmelte Ian und ich presste ein zu quietschiges „ja" hervor.

Mein Kopf pochte, mein Herz raste wie wild, aber Ian schnarchte Minuten nach seinen letzten Worten, ohne dass er das Geringste versucht hatte. Ians nackte Schulter lag direkt neben meiner, ich fühlte die ungewohnte Wärme, die sein Körper abstrahlte. Nicht die optimalen Voraussetzungen, um einzuschlafen, befürchtete ich. Doch Ians Hitze neben mir entwickelte die gleiche wohltuendere Entspannung, die ich von Wärmflaschen kannte. Zusammen mit Ians Duft nach Holzrauch, fand ich trotz Schmerzen schneller in den Schlaf als gedacht.

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