VIERUNDSIEBZIG

„Verdammt Anna!", brüllte Grayson durch den verspiegelten Saal, so dass seine Stimme unangenhem in dem Raum widerhallte.

„Konzentrier dich mal ein bisschen! Du musst mit mehr Schwung abspringen. Nate kann nicht alles allein machen! Zu den Hebefiguren gehören immer zwei!"

Mühsam schluckte ich einen Fluch. Zum hundertsten Mal bekam ich heute verbale Prügel von Grayson.

„Echt, Anna! Reiß dich mal zusammen. Das war eine unterirdisch schwache Vorstellung!"

Das waren die ersten Worte, die Ian heute an mich richtete und das zu einem Zeitpunkt wie diesem. Tief atmetete ich ein und aus, weil es sich anfühlte, als würde mein Steißbein sich gerade in meinen Darm bohren. Auf die Füße zu kommen war mehr als schmerzhaft.

Nate war ein Arsch und Ian auch. Von Grayson wollte ich erst gar nicht anfangen! Das zweite Mal hatte Nate mich jetzt schon voll auflaufen lassen, in dem er meine Hand bei der Figur nur gestreift hatte, aber nicht zugepackt. Folglich saß ich heute zum zweiten Mal auf dem Boden und der Aufprall war beide Male mehr als hart. Mit der flachen Hand rieb ich über mein Steißbein, das höllisch wehtat.

„Das hat mit ihr keinen Sinn", beschwerte sich der Lackaffe soeben.

„Es hätte Sinn, wenn du nur einmal dort stehen würdest, wo du hingehörst und vielleicht mal deine Griffel benutzen würdest um ordentlich zuzupacken!", giftete ich.

„Okay, lassen wir das für heute", lenkte Grayson ein. „Machen wir mal die Passage mit den Merengue-Klängen?"

Innerlich verdrehte ich die Augen. Ich war so wütend, dass ich Nate lieber in die Eier treten wollte, als mit ihm zu tanzen.

Ich mache es. Trotzdem.

Ich hatte unbedingt in den Workshop gewollt und ich ließ mich jetzt nicht von Nate vergraulen, wo das Schicksal mich hierher zurückgeführt hatte.

„Gott, Anna, wo hast du tanzen gelernt?", motzte Nate nachdem wir die 25 Sekunden Merengue hinter uns hatten. „Eine kaputte Neonröhre hat mehr Ausstrahlung als du!"

Die Neonröhre hatte aber auch kein Steißbein, hätte ich am liebsten protestiert. Stattdessen ließ ich die Takte noch vier weitere Male über mich ergehen und schließlich beendete Grayson das Training.

„Wir sehen uns Montag", sagte er.

Zeit, die Bombe platzen zu lassen.

„Ich denke eher nicht. Donnerstag werde ich operiert. Danach muss ich eine Weile aussetzen. Ob ich in diesem Semester nochmal zurückkehre, hängt davon ab, ob die Dekanin meine OP als medizinisch notwendig einstuft. Aktuell sieht es eher schlecht aus."

„Aha." Grayson verschränkte die Hände auf dem Rücken. „Dann warten wir das eben ab. Nate, vielleicht machst du ein bisschen mehr Krafttraining bis dahin. Seine Partnerin fallen zu lassen, ist keine Option. Viel Glück im Krankenhaus."

Grayson verließ den Saal und Nate lief ihm nach wie ein Hündchen. Laut redete er auf ihn ein.

Sofort nahm Ian mich beiseite.

„Was soll der Scheiß, Anna? Nate wird mir die Hölle heiß machen, weil du so mies tanzt. Das fällt alles auf mich zurück! Immerhin hab ich ein gutes Wort bei Grayson für dich eingelegt, damit du doch hier tanzen darfst. Das wolltest du doch unbedingt, oder?"

„Ein Scheiß fällt auf dich zurück. Dass es an Nate lag, ist ja wohl sonnenklar. Er stand nie dort, wo er sein sollte und er hat mich völlig absichtlich fallen lassen. Ich kann eure Choreo in und auswendig!"

„Beweis es mir!", fauchte Ian. „Stell dich auf das Kreuz und tanz sie mit mir einmal komplett durch."

„Mir tut der Arsch weh!", protestierte ich. „Aber von mir aus. Wenn dich das glücklich macht."

Resigniert stellte ich mich auf den Punkt und wartete, dass Ian hinter mich trat. Er war wirklich wütend. Sein Atem traf mich in schnellen und heißen Wogen.

„Armel hoch", befahl er. „Einmal ohne Musik, danach mit."

Sein Kasernenhofton gefiel mir nicht. Weder war ich ein Drückeberger noch ein Feigling. Und wenn er sehen wollte, was für ein Versager sein Kumpel Nate war, führte ich es ihm vor Augen.

Ian zählte präzise den Takt immer von eins bis acht und ich ging brav mit. Schritt-Schritt-zur linken Seite-Schritt-Wiegen zur linken Seite-Drehung-Schritt nach rechts-Pause. Damit hatte ich den ersten Takt perfekt geschafft. Meine Knie zitterten vor Nervosität ein wenig, denn jetzt wird die Sache intensiver. Ians Hände strichen unter meinen Armen entlang. Wiegen nach links-nach rechts-tiefgehen-dann bog er mich nach vorne und dann nach hinten. Mein Steißbein protestierte. Ian zog mich am Arm, gab mir etwas zusätzlichen Schwung mit auf den Weg. Rücken an Rücken, die Arme verhaken. Er beugte sich nach vorne, in meinem Rücken knackte es, tapfer rollte ich zur Seite, ignoriere das miese Stechen zwischen den Pobacken, sank auf die Knie, ließ den Kopf hängen. Acht weitere Schritte und zwei Drehungen. Um aufgeregt zu sein, blieb kein Raum. Zwei Schritte ein beherzter Sprung, ohne zu sehen, wohin ich sprang. Ich konnte nur hoffen, dass Ian kein solcher Versager war wie Nate. Mein Herz raste. Aber Ian stand präzise, wo er sein sollte. Seine Hand war, wo sie hingehörte und Sekunden später schwebte ich über seinem Kopf.

Langsam senkte Ian mich. Eine Hand stützte mich und zum ersten Mal an diesem Tag landete ich nicht auf dem Hintern, sondern schwebte beinahe zurück auf den Boden.

Was für eine Wohltat!

Und dann war sie plötzlich da. Diese Verbindung. Zwischen Ian und mir. Seine Hände blieben, kaum merklich, nur einen winzigen Augenblick auf meinen Hüften, bevor er mich durch die nächsten Takte führte. Es war, als hätten wir nie gestritten, als hätten wir nie böse Worte gewechselt.

Nach den letzten Schritten sah ich zu ihm auf. Dorthin, wo ich seine Augen vermutete, denn sein Gesicht war wieder einmal nur ein verschwommener Schemen.

„Okay. Jetzt mit Musik." Ians Stimme war kühl und beherrscht, davon wie aufgebracht er war, war nichts mehr zu bemerken. Er umfasste lediglich meinen Ellbogen und führte mich zum Startpunkt zurück.

Die ersten Akkorde schwebten durch den Saal und sofort sah ich Figuren und Schritte an meinem geistigen Auge vorbeiziehen. Ruhig atmen. Nicht zu viel darüber nachdenken, wie nahe Ian und ich uns gleich wieder kommen mussten. Einatmen. Ausatmen. Die Musik stoppte. Dann erlosch das Licht. Mein Atem stockte und mein Herz stolperte.

„Ian?"

Antwort bekam ich keine.

„Ian, bitte. Das ist nicht lustig. Du weißt, ich habe Angst im Dunkeln. Mach das Licht an!"

Noch immer umhüllte mich unheimliche Stille. Zwei wacklige Schritte wagte ich nach vorne. Dann blieb ich stehen. Stockend atmete ich ein.

„Ian? Bist du noch da?" Suchend streckte ich die Arme nach vorne, drehte mich in die Richtung, in der ich die Stereoanlage vermutete. Vor ein paar Minuten dachte ich noch, ich hätte eine Verbindung gespürt. Oder eine vage Hoffnung, auf diese starke Schulter, von der Stella sprach.

Panik lauerte in meinem Nacken und grub ihre Krallen in meine Nackenmuskulatur, die sich vor Anspannung verkrampfte.

„Ian, ich weiß, du bist hier. Ich hätte die Tür sonst gehört!" Hätte ich, oder? Den Zweifel verdrängend wagte ich weitere Schritte in irgendeine Richtung. Die Orientierung hatte ich längst verloren und langsam aber sicher verabschiedete sich auch meine Fassung.

Da war keine Verbindung. Die hatte ich mir eingebildet. Wunschdenken! Er spielte nur seine Spielchen. Mal wieder. Leise schluchzte ich. Ich konnte es kaum ertragen, nichts zu sehen.

Blind zu sein.

Hilflos.

Und ausgeliefert.

„Bitte, Ian, ich hab Angst. Ich kann nichts sehen", versuchte ich ihn irgendwo im Dunkel zu erreichen, zu ihm durchzudringen. Meine Stimme ertrank in meinen Tränen. Dann schwamm sie sich frei und ich brüllt wie ein eingesperrter Löwe.

„ICH KANN NICHTS SEHEN!"

Das Licht flammte wieder auf. Zwei starke Arme hielten mich fest und zogen mich an eine breite Brust.

„Sch, Anna, alles gut, ich bin hier." Beruhigend rieb Carter über meinen Rücken. „Alles wird gut. Nicht weinen."

Das sagte er so! Hektisch schnappte ich zwischen zwei Schluchzern nach Luft. Wie weinte man denn nicht, wenn man am Rande einer Panikattacke stand?

„Alles ist gut, Anna", wiederholte sich Carter. Naja, der Pferdeflüsterer war er nicht gerade und seine Worte waren nicht wirklich einfallsreich, aber er gab sich Mühe. Das allein ließ mich mein Elend noch stärker spüren.

„Was ist denn passiert? Oh nein, sag nichts, lass mich raten. Damit hat sicher dieser kleine Penner Ian zu tun, der mir vorhin entgegenkam!"

Stockend berichtete ich von dem Workshop und wie Ian mich nach dem Tanz stehen gelassen hatte.

„Warum behandelt er mich so? Was hab ich ihm denn getan?", schluchzte ich und schaute zu Carter auf, der mir meine Brille gebracht hatte.

„Keine Ahnung, darüber kann ich nur spekulieren", sagte er nachdenklich.

„Stella meinte gestern noch, er hätte das Herz auf dem rechten Fleck und ich soll ihm die Chance geben, mir alles zu erklären. Und dann sowas."

Carter seufzte.

„Vielleicht ist er enttäuscht von dir und das ist seine Art es zu zeigen. Oder er ist verletzt und will es dir damit heimzahlen? Oder er ist boshaft. Schwer zu sagen. Aber in jedem Fall ist es grausam und sollte er je wieder mit so einem selbstzufriedenen Grinsen an mir vorbeilaufen, verpass ich ihm eine neue Kieferpartie."

Mit dem Handballen wischte ich meine Tränen weg.

„Oder du versteckst eine tote Maus in seinem Rucksack", sagte ich unter Tränen, musste aber gleichzeitig lachen.

„Tote Maus, Leberwurstbrot in den Haaren oder gammliger Käse in den Turnschuhen. Mir egal. Aber dafür wird er büßen, glaub mir."

Fast klang er wie der erzürnte neunjährige Carter, der Jason Donalds seinen Schulranzen über den Kopf gestülpt hatte, weil er gesagt hatte, ich bräuchte keinen Platz im Bus, denn Hexen könnten auf Besen fliegen.

„Reg dich nicht auf. Das ist es nicht Wert", gab ich tapferer von mir als ich mich fühlte.

„Aber damit kann er nicht durchkommen, Anna!", schimpfte Carter, während wir auf den Gang hinaustraten und den Weg zu den Umkleiden einschlugen.

„Du lieber Himmel, Carter, sei nicht so melodramatisch! Glaubst du es interessiert hier irgendjemanden, dass Ian das Mädchen mit dem Hippieoutfit aus dem Zirkuswagen geärgert hat?"

Carter packte mein Handgelenk und stocksteif stand ich da, wartete auf dieses unangenehm kühle Gefühl das meinen Arm hinaufschoss und dann meine Wirbelsäule versteifen ließ.

„Wer sagt sowas?" Carter spuckte förmlich Gift und Galle, weil ich nicht gleich antworte.

„Ist doch egal!", gab ich auf seine erneute Nachfrage patzig zurück.

„Nein, das ist nicht egal. Niemand darf so mit dir zu reden. Verstehst du?"

„Aber die Leute tun es trotzdem. Jeden Tag. Entweder sie tuscheln wegen der Narbe oder wegen meiner Haare oder wegen meiner Herkunft. Ich hab das alles so satt, Carter! Sie haben kein Recht. Aber sie nehmen es sich. Jeden verdammten Tag. Hexe. Hippie. Brillenschlange. Jeden Tag fällt ihnen was Neues ein. Sogar als Lesbe wurde ich bezeichnet. Das dürfte nicht mal als Beleidigung benutzt werden, war aber genauso gemeint. Ich dachte, ich könnte neu anfangen. Aber es klappt nicht. Es gibt keinen Neuanfang. Niemand, der mich nicht schon lange kennt, wird mich akzeptieren, wenn ich mich selbst nicht akzeptieren kann."

Ratlos sah er mich an.

„Und was willst du deswegen tun?"

Erschöpft und ausgelaugt ließ ich mich an der Wand hinunter auf den Boden sinken. Inzwischen hatte ich schon beinahe vergessen, dass mein Hintern grün und blau war. Meine Seele schmerzte mehr als mein Steißbein, mehr als meine Pobacken. Leise keuchte ich auf, als mein Körper sich der Blessuren erinnerte.

„Keine Ahnung, Carter", gab ich ehrlich zu. „Aber mein Zuhause könnte ein guter Ort sein, mit der Suche nach einer Antwort zu beginnen."

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