VIERUNDFÜNFZIG
Die folgende Woche wurde weit schlimmer, als ich es befürchtet hatte. Oft saß ich bis nach Mitternacht im FSDP fest. Wir gingen wieder und wieder durch die Choreo. Am Dienstagabend hatte Nicolai sich angesehen, was wir in seinem Tanzsaal trieben und war für seine Verhältnisse begeistert. Sofort hatte er angeboten, Will, Brian, Diego, Bella und Lennon, der nach den zweiten Treffen auch mal seinen Namen verriet, unter der Schirmherrschaft des FSDP in den Wettbewerb zu schicken. Will war von dieser Entwicklung völlig begeistert, hatte er doch sofort seine hundert Mäuse wieder in der Tasche gehabt, die ihm Nicolai erstattete.
Mit der Schirmherrschaft war aber sofort der Druck für alle gestiegen. Der erste Act, den Nicolai ins Rennen schickte, sollte möglichst kein völliger Flopp werden.
Wir brauchten einen Namen für die Fünf Freunde. Und sie mussten ein Gesamtbild ergeben, das Wiedererkennungswert hatte. In der Kleidung, die sie beim letzten Auftritt getragen hatten, sahen sie aus wie der wild zusammengewürfelte Haufen, der sie auch waren. Zum Glück nahm sich Zoe dieser Sache an, sonst hätte ich vermutlich noch vor dem Wochenende einen Nervenzusammenbruch erlitten, weil die fünf Tänzer sturer waren als Maulesel. Besonders Bella entpuppte sich als ein Problem. Ihr den Unterschied zwischen sexy-gewagt und nuttig zu erklären, fiel Zoe zum Glück leichter als mir.
Unterm Strich mochte ich meine Arbeit. Aber diese drei Wochen waren abartig anstrengend und damit genau das, was ich brauchte, denn die vielen Stunden im Projekt lenkten mich ab von der Tatsache, dass ich nichts von Finn gehört hatte. Es lenkte mich davon ab, dass ich Ian vermisse, dessen Zeitpläne so gar nicht mit meinen zusammenpassten und wir uns momentan wie Sonne und Mond nur aneinander vorbeibewegten. Es lenkte mich davon ab, dass ich Flüge gebucht hatte, um über Weihnachten mit Elaine nach Hause zu fliegen. Und es lenkte mich davon ab, dass mein Sozialprojekt am Ende des Semesters enden und ein Loch in meinem Leben hinterlassen würde. Das Projekt, in dem Jugendliche aufgefangen wurden, war auch mein Netz und doppelter Boden, als ich es am meisten gebraucht hatte.
Manchmal war ich versucht, Finn zu schreiben, ihm zu sagen, dass seine Idee mich gerettet hatte und wie glücklich ich war. Dann dachte ich wieder an den ersten Brief. Daran, wie unglücklich er wirkte und verwarf die Idee. Vielleicht lief es für ihn nicht so gut wie für mich und ich wollte meinen Finger nicht in eine Wunde legen.
Der Freitag, an dem meine fünf Freunde -in der Vorankündigung des Programms heißen sie Fives- an der Vorausscheidung teilnahmen und es in die nächste Runde schafften, fehlte mir beinahe die Kraft zum Jubeln. Ich fühlte mich ausgelaugt. Als müsste ich drei Wochen durchschlafen und nachholen, was ich an Ruhe versäumt hatte.
Obwohl ich fix und fertig war und mich in meinem Bett zusammenrollen wollte, blieb ich zusammen mit Nicolai und Zoe bis zum bitteren Ende, sah mir die Konkurrenz an, die überraschend stark war und fieberte auch Ians Auftritt entgegen.
Die Gruppe des Iren -meines Freundes!- legte eine ordentliche Leistung hin. Ian, Nate, Nora und Felicity hatten noch vier weitere Tänzer aus dem Workshop im Gepäck und ein bisschen beneidete ich Felicity, die mit Ian zusammen tanzte. In den sechseinhalb Minuten, die sie auf der Bühne standen, hatten die beiden mehr Hautkontakt, als Ian und ich in den letzten drei Wochen.
Auch Ian und seine Gruppe schafften es ins Achtelfinale. Mehr, als ihm kurz gratulieren war an diesem Abend nicht drin. Während er seinen eigenen Erfolg noch feiern gehen wollte, fuhr ich mit Nicolai und den Jungs zurück zum Projekt. Ian trat erst Sonntag wieder auf die Bühne, Fives schon morgen Nachmittag und wir mussten alle fit sein.
Nach einer schnellen Besprechung für den Ablauf des nächsten Tages und einer hastigen Verabschiedung rief mir Nicolai ein Uber. Inzwischen protestierte ich nicht einmal mehr gegen diese Bemutterung und fuhr kurz darauf durch die Dunkelheit zum Wohnheim. Aber auf halbem Weg kam es mir falsch vor und kurz bevor wir den Campus erreichten, nannte ich dem Fahrer Ians Adresse.
Als ich vor dem Haus ausstieg und den Fahrer bezahlte, brannte kein Licht im Wintergarten. Nur ein bläulicher Schein drang durch die Lamellen der heruntergelassenen Jalousien. Schatten bewegten sich durch die Wohnung und mir wurde schwindelig. Ian war eindeutig nicht allein. Diese Erkenntnis traf mich hart. Während ich die Haustür aufdrückte, suchte ich nach einer sinnvollen Erklärung, die nichts damit zu tun hatte, dass er ein Mädchen zum Feiern mit nach Hause genommen hatte. Stella war bei ihm, um ihm zu gratulieren. Vielleicht ein Nachbar, der sich ausgesperrt hatte.
Zögernd drückte ich auf die Klingel; auf das Schlimmste gefasst. Aber wie bereitete man sich auf zerzauste Haare, ein gerötetes Gesicht und glänzende sturmgraue Augen vor? Auf einen durchtrainierten, nackten Oberkörper und Felicitys hübsches Gesicht, das hinter Ian erschien. Nur mit knappen Shorts, einem Sport-BH und einem umwerfenden Lächeln bekleidet.
Wie bereitete man sich auf tanzende schwarze Flecken vor den Augen vor und darauf, dass die Lippen plötzlich taub waren, sich der Körper blutleer anfühlte und die Füße schwer?
„Anna?" Ian fuhr sich durch die Haare. „Was machst du hier? Wolltest du nicht..."
Anna. Mein Name. Aber ich war so betäubt von Felicitys halbnackter Anwesenheit, dass ich nicht mal reagierte. Ich starrte die Dunkelhaarige nur an. Selbst dann noch, als Ian mich fest in die Arme nahm, fixierte ich sie über seine Schulter, blickte in ihre dunklen Augen, die Mitleid versprühten.
„Feli, wenn es dir nichts ausmacht, dann lass uns morgen weiter machen, okay?"
Ians Stimme war freundlich aber bestimmt. Die Frage ein deutlicher Rauswurf, der sich wie ein Triumph anfühlen konnte, es aber nicht tat. Überflüssig zu sagen, dass es mir schwerfiel, diese Situation emotional zu entwirren. Für ein weiteres Gefühl, selbst ein Hochgefühl, war kein Raum mehr in mir.
Felicity nickte.
„Klar, kein Problem. Ruf an, wann es dir passt."
Sie ging ins Wohnzimmer, warf sich ein Shirt über. Ein kurzer Kuss auf Ians Wange, ein Nicken in meine Richtung und weg war sie, während Ian mich ins Wohnzimmer zog.
„Was war das da gerade mit euch?", fragte ich und sah zu, wie Ian den Tisch zurück vor die Couch rückte. Als hätten die beiden zuvor mehr Platz gebraucht. Aus dem Augenwinkel sah ich wie Ian etwas mit dem Fuß unter die Couch kickte. Er machte es äußerst unauffällig, nur aus dem Fußgelenk. Trotzdem fiel es mir auf. Etwas schwarzes. Ein Höschen? Ein Unterhemd? Gut möglich, dass mein Gehirn überreizt war und es sich nur ein paar Socken handelte.
„Wir haben trainiert."
Ians Ton signalisierte mir, dass ich übertrieb. Was mich kein bisschen beruhigte, sondern wütender machte.
„Nachts um..." Ich sah auf die Uhr. „Halb zwei?"
Er zuckte mit den Schultern.
„Sie ist ehrgeizig. Und ich hatte wenig Zeit."
Wieder fuhr er sich durch die Haare.
„Hör zu ich bin verschwitzt. Müde. Ich geh jetzt duschen. Wir reden morgen, okay?"
Ich hasste diesen ruhigen Tonfall. Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah ich Ian an. Meinte er wirklich, er konnte nach Felicity auch noch mich rauswerfen?
Konnte er und ich wusste es, war aber gerade nicht in der Stimmung, das hinzunehmen.
„Morgen? Morgen ist jetzt, Ian. Wir reden jetzt darüber, was Felicity nachts in deiner Wohnung macht."
„Nein, Anna. Morgen ist, wenn wir ausgeschlafen sind und ich mindestens einen Kaffee getrunken habe. Morgen ist, wenn du die verdammte Nacht über in meinen Armen lagst und ich mich wieder erinnere, wie es sich anfühlt, meine Freundin zu spüren. Morgen ist, wenn du kapierst, dass andere Mädchen mich einen Scheiß interessieren. Morgen ist, wenn ich vergessen habe, dass du verfluchte drei Wochen lieber rund um die Uhr mit anderen Typen zusammengearbeitet hast, obwohl ich dich gebraucht hätte. Hier. Bei mir."
Gegen Ende seiner kleinen Rede war Ian immer lauter geworden. Seine Augen funkelten wütend. Strähnen hingen ihm ins Gesicht und seine Lippen bildeten eine verkniffene Linie.
Er hätte mich gebraucht. Und ich war nicht da. Der Vorwurf traf mich schwer, weil er berechtigt war. Ich hatte versucht meine eigenen Sorgen mit der Arbeit beiseite zu schieben und Ian dabei gleich mit weggeschoben, ohne es richtig zu merken. Dass ihn das so schwer getroffen hatte, kam für mich unerwartet.
„Es tut mir leid", flüsterte ich hilflos. „Ich wollte dich nicht im Stich lassen."
Obwohl wir in diesem Augenblick nur ein paar Schritte voneinander entfernt standen, könnte die Distanz sich nicht größer anfühlen. Angst kroch meinen Rücken hoch, als er sich abwendete und die Badtür zuknallte. Ich hatte ihn enttäuscht. Ich hatte es versaut, bevor es richtig angefangen hatte. Selten hatte ich mich so fehl am Platz gefühlt wie in diesem Moment allein in Ians Wohnzimmer. Schlafzimmer. Was auch immer.
Ich sollte gehen. Wirklich. Aber meine Füße waren wie festgewachsen. Wasser rauschte im Bad. Blut in meinen Ohren. Ich sollte gehen, bevor Ian aus dem Bad zurück war. Er wollte doch, dass ich ging?
Morgen ist, wenn du die verdammte Nacht über in meinen Armen lagst und ich mich wieder erinnere, wie es sich anfühlt, meine Freundin zu spüren.
Oder sollte ich bleiben? Vielleicht brauchte ich eine kleine Entscheidungshilfe.
Langsam ließ ich mich auf die Knie sinken. Tastete unter die Couch und traf auf einen Gegenstand aus Stoff, den ich umklammere, als würde mein Leben davon abhängen. Und absurderweise tat es das auch. Das Wasser lief noch immer, während ich dahocke und versuchte zu begreifen, was es damit auf sich hatte. Kein Höschen, kein Hemdchen, es war tatsächlich ein schwarzes Täschchen. Langsam zog ich den Reißverschluss auf. Meine Augen wurden riesig.
Und langsam ergab das Ganze ein Bild.
Das Wasser hatte aufgehört zu rauschen. Das Blut in meinen Ohren auch , denn mein Herz schlug nicht einmal mehr. Es war tot. Leblos. Was sollte also in meinem Körper rauschen?
Als Ian das Bad verließ, saß ich noch immer vor der Couch. Betäubt, aber mit einem Plan. Ich musste wissen, was Ian antrieb.
„Ich hatte befürchtet, du würdest gehen", sagte Ian leise. Das hatte ich auch vor. Im ersten Moment. Aber ich war noch hier und zwang ich mich, meinen Kopf zu drehen. In Richtung Tür, wo Ian nichtsahnend am Türstock lehnte. Die Arme vor der Brust verschränkt, die Haare feucht vom Duschen. Frische Jogginghosen. Sie saßen tief auf seinen Hüften. So tief, dass ich kaum den Blick von dem abwenden konnte, was sie nur notdürftig verbargen. In seine grauen Augen zu sehen, war beinahe noch schwieriger. Die verbargen auch nichts. Er empfand noch immer das gleiche. Für mich hatte sich aber mit einem Schlag alles verändert.
„Warum, Ian? Warum spielstdu dumme Spiele und zerstörst damit anderen das Leben?"
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