SIEBENUNDZWANZIG
Entgegen meines Gefühls überlebte ich dennoch. Starker Kaffee und der eine oder andere Energydrink hatten einen nicht zu verachtenden Anteil und am Ende der Vorlesungen flatterten meine Finger vom Koffein. Auf Stellas Anweisung hin wendete ich, obwohl ich unser Zimmer eben erst betreten hatte, und begab mich unter die Dusche. Einen ganzen Arm voller Pflegeprodukte balancierte ich den Flur hinunter und war stolz, dass ich nur einmal die Haarkur verlor, die mir meine übereifrige Mitbewohnerin untergejubelt hatte. Im selben Zuge mit der Ermahnung mit der Mahnung, mich bloß gründlich zu rasieren und zwar überall! Pff, gehirnamputiert war ich auch nicht!
Nach einer wahren Duschorgie kehrte ich in unseren Raum zurück und staunte nicht schlecht. Mein grünes Kleid hing am Schrank zusammen mit hauchfeinen Seidenstrümpfen, davor standen meine Schuhe. Stella schob mich ungeduldig zu meinem Bett, wo ich mich hinlegen sollte und mich entspannen.
Brav machte ich mit und tat, was sie mir auftrug. Was wusste ich schon, was Mädchen und ihre Freundinnen vor Dates alles taten? Wahrscheinlich musste ich Stella vertrauen, dass sie schien eine imaginäre Abhakliste zu haben, mittels der sie kontrollierte, was wir zu erledigen hatten. Und während mir die Tränen in die Augen schossen, weil Stella unsanft meine Augenbrauen zupfte, wurde mir klar, dass ich für meinem Abschlussball völlig unvorbereitet gewesen war. Weder hatte jemand mich gepeelt, noch hatte ich eine Gesichtsmaske gemacht. Geschweige denn eine Maniküre oder Pediküre. Also klar, meine Fuß- und Fingernägel waren lackiert gewesen. Aber nicht annähernd so sorgfältig, wie Stella das fertigbrachte. In meinen Nägeln war nicht eine Rille sichtbar, als die Deckschicht trocken war.
„Du glaubst wirklich, dass diesem Finn auffällt, dass ich auf Hochglanz poliert bin? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Männer auf sowas achten."
„Ehrlich Anna? Ich hab keine Ahnung, was Männer genau sehen. Sie bemerken aber sicher das Gesamtergebnis. Und vielleicht, ob du dich wohlfühlst in deiner Haut."
„Dann übertreib das Schminken aber bitte nicht. Sonst fühle ich mich bestimmt nicht wohl", bat ich die Blonde kleinlaut.
„Mach dir keine Sorgen, ich weiß, was ich tue. Jetzt sind erstmal deine Haare dran."
Sie wedelte mit dem kleinen Fläschchen in ihrer Hand vor meiner Nase und schon verbreitete sich der beißende Geruch nach künstlichem Vanillearoma. Kurz darauf der von warmen -nein, heißen- Haaren, als Stella ihnen mit Lockenstab zu Leibe rückte und meine Haare mit sanfter Gewalt dazu bringt, sich in großen regelmäßigen Locken über meine Schultern zu ergießen. Vorsichtig zupfte sie an einigen Spitzen, damit sie über meine Schultern nach vorne fielen und grinste mich im Spiegel an.
„Zieh schon mal das Kleid an", fordert sie mich auf „Ich geh nur schnell aufs Klo."
Noch immer überwältigt von meinem Spiegelbild nickte ich und legte meine Brille auf den Schreibtisch.
Ich griff ich nach dem Bügel mit dem grünen Kleid und streifte es vorsichtig über meinen Kopf. Nur jetzt nicht die Frisur ruinieren!
Ich steckt gerade halb in dem Kleid, als es an der Tür klopfte. Was für ein blödes Timing von Ian! Hektisch tastete ich nach der Brille. Wieder klopfte es.
„Sekunde! Ich komme schon!", fluchte ich und ließ die Brille Brille sein und schloss lieber den Reißverschluss, bevor sich überlegte unaufgefordert hereinzukommen.
Mein Versuch elegant aber blind die Tür zu öffnen, scheiterte kläglich, als ich hart mit den Knöcheln gegen den Knauf schlug.
„Scheiße!", zischte ich, riss die Tür auf und biss in meinen schmerzenden Zeigefinger. Wie jedes Mal stellte ich fest, dass Gegenschmerz den ersten nicht wirklich aufhob, sondern nur die Wahrnehmung verzerrte.
„Ja?", blaffte ich gereizt.
„Anna, tut mir leid, dass ich dich so überfalle."
„Finn?" Oh mein Gott. Er war viel zu früh! Oder ich zu spät? Hatte ich mir die Uhrzeit falsch eingeprägt? Nein, das konnte nicht sein. Ich war so sicher!
„Komm bitte rein. Ich bin fast fertig", schwindelte ich und fand mich innerlich jaulend und winselnd damit ab, dass ich noch ungeschminkt war.
„Ich brauch nur noch meine Brille, dann..."
„Anna, nein, bitte. Hör mir nur zu." Er klang komisch. Geknickt und drängend.
„Ich hab dir gesagt, ich will mich nicht mit Ian anlegen. Das war mein Ernst."
„Aber..."
„Nein, Anna. Ich hab euch gestern gesehen. In der Stadt vor dem Shannon's. Er hatte dich untergehakt und später hat er dich nach Hause gefahren. Ich will keinen Stress mit ihm. Echt. Spiel deine Spielchen mit einem anderen. Nicht mit mir. Mach es gut, Anna."
Plötzlich wurde es heller, er war offenbar zur Seite getreten? Und dann entfernten sich seine Schritte.
„Finn... bitte... lass mich erklären", begann ich matt. Doch die Schritte stoppten nicht und ohne Brille konnte ich ihm schlecht nachlaufen.
Auf dem Absatz machte ich kehrt, tastete über den Schreibtisch. Irgendwo zwischen den Pinseln und Döschen, da musste sie liegen. Gott, wie ich diese Brille hasste! Da! Endlich!
Sofort stürzte ich zur Tür. Der Gang war bereits leer. Nur die Pendeltür schwang noch sanft nach. Barfuß rannte ich den Gang hinunter, durch die Tür und prallte gegen eine Wand.
„Wow, langsam Anna!", Ian hielt mich an den Schultern fest und verhinderte so, dass ich das Gleichgewicht verliere.
„Lass los. Ich muss..." Kurz rang ich nach Luft. Wegen des Sprints und des Aufpralls an Ians Brustkorb. „Finn folgen."
„Okay. Dann beeil dich besser. Er hat einen deutlichen Vorsprung."
Ians graue Augen lagen voller Mitgefühl auf mir, wanderten dann mein Kleid hinunter zu meinen nackten Füßen.
„Pass auf der Treppe auf", mahnte er mich und trat zur Seite. Ich raffte mein Kleid und stürmte die Stufen hinunter, dann aus dem Eingang. Zu sehen war dort niemand mehr. Mein Date war über alle Berge.
All die Mühe, die Stella sich gemacht hatte, war umsonst. All meine Vorfreude für nichts. Eine Weile stand ich da und starrte auf den Ahorn und die Bank, auf der ich saß, als ich den Brief an Unknown geschrieben hatte. Langsam begannen meine Füße auf dem feuchten Sandweg vor Kälte taub zu werden und mit einem bitteren Gefühl der Enttäuschung wendete ich mich ab, raffte den langen Stoff auf Kniehöhe und stieg wieder hinauf zu meinem Zimmer.
Meine Enttäuschung wich mit jeder Stufe einem anderen Gefühl. Wut wurde gefolgt von Ohnmacht, wechselte wieder zu Zorn, dann zu Traurigkeit. Dann eroberte Erleichterung mein Inneres, dicht gefolgt von Schuldgefühlen und Unglauben. All diese Gefühle vermischten sich mit jedem Schritt den Gang hinunter und als ich die Tür zum Zimmer aufstieß, knallte diese mit viel Schwung gegen die Wand.
„Was für ein Schlappschwanz!", fauchte ich und blickte in die überraschten Augen von Stella und Ian.
„Ähm, was hat er gesagt?", wollte Stella wissen und drängte sich an mir vorbei. Leise schloss sie die Tür zum Gang.
„Er hat mich und Ian gestern zusammen gesehen. Er will sich nicht mit ihm anlegen!", äffte ich Finn gehässig nach und verzog höhnisch mein Gesicht.
Die Geschwister wechselten einen schnellen Blick. Ian rieb mit der Hand über seinen Nacken.
„Tut mir leid, wenn ich dir dein Date verkackt hab, Anna. Das war nicht meine Absicht."
„Nicht schlimm. Jetzt weiß ich zumindest, woran ich bei ihm bin", seufzte ich und wunderte mich, dass das die Wahrheit war. Klar, ich fühlte mich gekränkt, aber ich war nicht am Boden zerstört.
„Mir tut es nur leid um all die Mühe, die du dir gemacht hast, Stella."
„Es müsste nicht umsonst gewesen sein, oder?" Stella sah ihren Bruder forschend an. „Ich meine, wir könnten sie heute Abend mitnehmen, oder? Sie sieht toll aus. Sie würde kein bisschen aus dem Rahmen fallen."
Unsicher sah ich zwischen den beiden hin und her. Mal wieder fehlten mir Details. Ich hatte keine Ahnung, worum es hier ging.
„Was? Nein! Auf keinen Fall! Sie steht nicht auf der Gästeliste. Am Ende kommen wir dann alle nicht in den Club rein."
Club. Adrenalin schoss bei diesem Wort wie eine Droge durch mein Blut. Clubs waren etwas, was bisher nur Davis vorbehalten war. Es war etwas, dass ich beinahe noch dringender erleben wollte als den obligatorischen Sex auf der Rückbank nach dem Abschlussball der High-School. Ich konnte nur hoffen, dass mein erster Clubabend befriedigender verlief als das Gefummel mit Mathew. Wobei dieser im Vergleich zu meinem allerersten Mal keinen schlechten Job gemacht hatte.
Still verfolgte ich, wie Stella Ian weiterbearbeitete.
„Ach komm schon, Ian! Wir behaupten, sie ist unsere Cousine aus Irland. Sie sieht phantastisch aus. Kein Türsteher der Welt lässt so ein hübsches Mädel draußen stehen!"
Ian warf mir einen Blick zu, checkte mich wie im Treppenhaus ein zweites Mal von oben nach unten ab, strich sich durch die Haare. Noch bevor er was erwidern kann, legte Stella nochmal nach: „Ian, du hast ihr den Abend versaut. Bring das bitte wieder in Ordnung!"
Dabei traf Stellas Bruder keine Schuld. Finn hatte es selbst vermasselt.
„Verdammt", fluchte Ian ungehalten. Ihm kam die Entwicklung nicht gelegen
„Sie sieht wirklich umwerfend aus. Probieren wir es eben." In einer komisch verzweifelten Geste warf er die Hände in die Luft.
„Aber beeilt euch. Wenn ihr nur eine Minute zu spät seid, lass ich euch hier, Mädels!", drohte er, hob aber einen Mundwinkel und zwinkerte mir zu, als er an mir vorbeiging.
Als die Tür hinter Ian zufiel, blickten Stella und ich uns nur kurz an, dann fielen wir uns kreischend um den Hals.
„Oh mein Gott! Er hat ja gesagt!", quiekte Stella.
Kurz öffnete sich nochmal die Tür.
„Ich kann das hören, Mädels", brummte Ian und ging.
Peinlich. Aber... Oh. Mein. Gott.
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