SIEBENUNDSECHZIG
„Du?“ Mein spitzer Schrei hallte von den Wänden wider. Um Fassung ringend umrundete ich den Tisch.
„Hast du Idiot etwa wieder gespielt?“ Mit den Fäusten schlug ich auf den Brustkorb meines Stiefbruders ein, was er hilflos über sich ergehen ließ, nachdem er merkte, dass er mich mit einer Hand nicht zur Seite schieben konnte.
Der Doc ging sofort dazwischen um den Gipsarm zu schützen.
„Hast du nichts dazugelernt, du verdammtes Arschloch?“ In mein Schluchzen wegen der Enttäuschung mischte sich die Anspannung des Tages und wie von Sinnen traktierte ich Davis, bis Carter meinem Treiben einen Riegel vorschob. Gegen dessen Arme war ich machtlos. Er musste mich nicht einmal wegziehen. Er hob mich hoch, drehte sich mit mir um hundertachtzig Grad und stellte mich wieder ab.
„Beruhig dich“, wisperte er mir zu. Sofort fühlte ich mich wie ein bockiges Fohlen. „Alles wird gut. Wenn du sein Geld nicht willst, dann leihe ich dir was. Ich war im Einsatz versichert, Anna. Es ist sauberes, anständiges Geld und bis Elaine aufs College will, vergeht noch genug Zeit, um eine Lösung zu finden.“
Carters ruhige, kühle Art ließ meinen glühenden Zorn ins Leere laufen und langsam stellte ich das Toben ein.
„Ich lass dich jetzt los, okay? Versprich mir, ihn nicht umzubringen.“
„Okay.“
„Das reicht nicht! Versprich es, Anna!“
„Ja, Carter“, fauchte ich ihn an. „Ich verspreche es.“
Ein Grinsen mischte sich in seine Stimme.
„Braves Mädchen. Geht doch.“
Plötzlich wurde mir die Nähe zu Carter unangenehm bewusst. Mein Rücken schien zu brennen, wo er mich gegen seinen Brustkorb drückte. Flammende Röte schoss in mein Gesicht, als mir klar wurde wie eindeutig er auf meine Nähe reagierte. Auch ihm schien das verdammt unangenehm zu sein und schlagartig ließ er mich los.
Davis, der nichts von all der Peinlichkeit bemerkte, ließ die Arme und den Kopf hängen.
„Ich habe meinen Lektionen gelernt, Anna. Das Geld ist das, was du mir für meine Schulden gegeben hast. Ich habe es damals gelogen, was die Höhe meiner Schulden anging und deine Kohle beiseitegeschafft, weil du dich für ein so günstiges College entschieden hast. Ich dachte mit dem Stipendium und ein bisschen Arbeit würdest du locker über die Runden kommen und es wäre schade gewesen, wenn du das Geld für Schuhe oder anderen Schnickschnack ausgegeben hättest, obwohl du es vielleicht mal für was Wichtiges brauchen kannst.“
„Du hast… was? Dein Ernst jetzt? Ich fasse es nicht!“
Der Doc blickte fragend zwischen uns hin und her.
„Die Männer in deinem Leben sind echt eine Sache für sich“, stellte Carter knochentrocken fest. „Spieler, Lügner, Betrüger. Solltest du mal drüber nachdenken. Ich meine, dieses Schema kann nicht gesund sein, oder?“
„Ach fick dich, Carter!“, schnauzte ich ihn an. Am liebsten hätte ich ihm sein süffisantes Grinsen aus dem Gesicht geschlagen. Nur war Carter dafür definitiv der Falsche. Mit einem Ex-Marine sollte man sich nicht anlegen, auch wenn er nach zwei Monaten in Afghanistan wieder nach Hause ausgeflogen wurde.
„Ladies und Gentlemen, wenn wir uns dann jetzt alle mal wieder beruhigen? Das Geld scheint vorhanden zu sein, dann können wir uns jetzt um das Organisatorische kümmern.“
Überrumpelt setzte ich mich. Mein Bauchgefühl hatte mich gewarnt. Ich wurde hier gegängelt und gedrängelt.
„Wusstest du, dass dieser Spezialist bald weg ist?“
Carter sah mich bei seiner Antwort nicht einmal an.
„Möglicherweise.“
„Ja, du hast recht. Das Schema sollte ich dringend durchbrechen!“, warf ich ihm seine eignen Worte vor. „Nur Lügner und Betrüger um mich herum!“
„Also Anna. Es sieht folgendermaßen aus“, begann Dr. Unterwäsche sehr leise, ohne auf den Tumult, den wir verursachen, zu achten. Seine Taktik wirkte. Davis, Carter und ich verstummten wie dressierte Affen. Wir wollten keine Silbe dessen verpassen, was er zu sagen hatte.
„Beide Linsen müssen raus und deine Hornhaut wird abgetragen, sodass das Narbengewebe keine oder kaum unerwünschten Krümmungen mehr verursacht. Durch die Wahl der passenden Linse können wir einen Teil deiner Fehlsichtigkeit ausgleichen und vermutlich wirst du danach nur noch eine sehr leichte Brille oder, wenn Dir das lieber ist, Kontaktlinsen brauchen.“
„Oder ich bin danach völlig blind, weil etwas schiefläuft! Oder tot!“, warf ich ein.
„Das ist unwahrscheinlich, aber ich kann nicht leugnen, dass du, wenn du die Narkose nicht überstehst, tot sein könntest. Aber die Sache ist die.“
Der Doc lehnte sich vor und stützt sich mit beiden Unterarmen auf der Tischplatte auf.
„Bei einer Narkose zu sterben, ist kein wirklich übler Tod. Dein Herz bleibt stehen und du gehst im Schlaf. Keine Panik. Keine Schmerzen. Für die Hinterbliebenen, den Arzt, vor allem den Anästhesisten blöd, aber für dich ist es nur … vorbei. Und was die Blindheit anbelangt, kann ich dich trösten. Deine Augen werden immer schlechter. Spätestens mit dreißig helfen dir Sehhilfen nichts mehr. Dann musst du dich sowieso mit einer OP arrangieren. Oder mit deiner Blindheit, was in fortgeschrittenem Alter viel schlimmer wäre, als in deinem heutigen Alter. Jetzt bist du noch jung. Also lieber in einer Woche blind als später.“
Nach dieser Ansprache war ich ohne Worte. Lieber jetzt erblinden als später?
„Das ist gequirlter Mist!“
Dr. Calvin grinste.
„Stimmt. Deswegen machen wir auch erstmal nur ein Auge, Anna. Das zweite dann in ein paar Monaten. So ist sicher, dass du dein Augenlicht nicht von heute auf morgen verlierst.“
Energisch schüttelte ich den Kopf.
„Nein. So läuft das nicht. Ich brauch Bedenkzeit. Ich kann nicht … Nein.“ In meiner Aufregung verhaspelte ich mich völlig und fand nicht die passenden Worte, obwohl ich sicher war, der Zeitplan war zu knapp.
„Anna, überleg mal“, begann Davis mit seiner über Jahre ausgefeilten Überzeugungstechnik.
„Genau das tue ich, Davis. Ich überlege!“, fuhr ich ihn an. „Und dafür brauche ich Zeit!“
Sofort mischte sich Carter ein, um mich zu beruhigen.
„Die hast du. Beinahe eine Woche. Ich bin überzeugt, wenn du bis Dienstag Bescheid gibst, dass du abspringen willst, findet der Doc zusammen mit Dr. Eisenhower jemanden, der sich über deinen Termin freut. Hab ich Recht, Cal?“
Nachdenklich kratzte der über seinen dezenten Bartschatten.
„So geht das nicht, Wir sind hier nicht auf dem Basar, wo man beliebig schachern kann“, murmelte er. „Ich meine, also für andere Patienten ist das etwas sehr spontan, nicht wahr?“
Carter lehnte sich vor.
„Ach komm schon, Cal. Ihr habt hier genug Patienten rumliegen, damit euer Operationssaal nicht leer steht. Und sonst geht euer Experte eben mal nach vierunddreißig statt sechsunddreißig Stunden nach Hause.“
„Du stellst dir das ein wenig zu einfach vor!“
„Und du würdest dir nichts mehr vorstellen, wenn die Jungs und ich euer Krankenhaus nicht mit Klauen und Zähnen geschützt hätten. Trag deine Schuld endlich ab, Cal.“ Mit der flachen Hand schlug Carter auf den Tisch. Die Tassen klirrten nur so.
Die Stimmung war mehr als unangenehm und ich hielt den Blick gesenkt und die Luft an, während Carter und der Doc sich ein Blickduell lieferten.
Die Rückfahrt über hüllte ich mich in eisiges Schweigen. Weder Carter noch Davis schienen sich daran zu stören. Letzterem fiel es wahrscheinlich nicht einmal auf, denn er hatte das Mobiltelefon in der Hand und war eifrig am Schreiben. Wenn ich raten sollte, dann informierte er per Mail alle möglichen Verantwortungsträger über die bevorstehende Operation und seine Rückkehr ins Training. Ich freute mich für ihn. Aus vollem Herzen und mit aller Ehrlichkeit. Zu gleichen Teilen bewunderte und beneidete ich ihn für seine Unbekümmertheit. Ihm schien die Aussicht, mehrere Stunden unter dem Messer zu liegen, nichts auszumachen. Ich dagegen zitterte vor Angst, wenn ich das Wort Skalpell oder Laser nur dachte. Meine Nerven lagen völlig blank, wenn ich mir vorstellte, diesen Operationshorror zweimal durchmachen zu müssen.
Zu meiner Anspannung wegen der anstehenden Entscheidung gesellte sich jedes Mal, wenn ich zu Carter sah ein schlechtes Gewissen. Er wirkte niedergedrückt und mein Bauchgefühl sagte mir, dass das mit dem Besuch im Stützpunkt und mit der Konfrontation mit Doc Klein zusammenhing. Vielleicht hatte sie Erinnerungen an den Einsatz und seine Verwundungen geweckt. Oder Carter war sauer, weil ich nicht sofort zugestimmt hatte, den Eingriff machen zu lassen, Davis aber schon. Gut möglich, dass all diese Gründe an den Haaren herbeigezogen waren und ich keinen Schimmer hatte, was in ihm vor ich ging. Konnte gut sein, dass Carter nur müde war, weil er nach einer zu kurzen Nacht zu früh aufstehen musste und seit Stunden am Steuer saß.
Als Carter schließlich vor dem Wohnheim anhielt, verabschiedete Davis sich sehr herzlich von Carter und bedankte sich bei ihm für die Chance, die dieser ihm eröffnet hatte, obwohl Carter ihm zu nichts verpflichtet war. Tatsächlich behauptete mein Stiefbruder sogar, er würde sich für den Gefallen zu gegebener Zeit gerne revanchieren. Mit der äußerst passablen Begründung, er müsse sich jetzt sofort um den Rückflug kümmern, verschwand Davis dann im Gebäude und ließ Carter und mich auf dem Bürgersteig zurück.
Verlegen malte ich mit dem Schuh Kreise auf dem Boden. Wortgewandt wie Davis zu sein, hatte einen gewissen Charme, das war nicht zu leugnen. Er wusste immer genau, was man sagen sollte.
Während ich noch nach den richtigen Worten kramte, war Carter mir schon eine ganze Länge und mehrere Tage voraus.
„Lust am Samstag mit mir essen zu gehen?“ Zwei oder dreimal blinzelte ich vor lauter Überraschung. Dann schüttelte ich den Kopf.
„Vielen Dank, aber lieber nicht. Ich bin nach der Sache mit Ian noch nicht so weit.“
Carter lachte amüsiert.
„Keine Sorge. Nur ein Essen unter Freunden, weil dein Bruder ab Freitag weg ist und dich bestimmt viel beschäftigt.“
Dass ich zu viel in die Frage interpretiert hatte, war mir äußerst unangenehm und ich fühlte sie wieder aufsteigen; diese blöde Röte, die mich aussehen ließ, als hätte ich zu lange in der Sonne gelegen.
„Entschuldige, ich wollte nur klarstellen… also für den Fall…“
Klappe jetzt.
Einfach Klappe halten.
Die Röte vertiefte sich trotzdem noch ein wenig. Das Lächeln auf Carters Gesicht ebenfalls.
„Du hast schon recht. Man sollte das von Anfang an klarstellen. Aber mach dir keine Gedanken. Seit der Sache mit Irina date ich nicht mehr.“
„Irina? War das dieses Nacktmodell oder die Stripperin?“, platzte es auf mir heraus.
Mit schräggelegtem Kopf musterte er mich.
„Mädchen bekommen mit dreizehn wirklich viel mehr mit, als ich dachte. Ich sollte wirklich etwas vorsichtiger sein, was Elaine angeht“, überlegte Carter laut. „Und um deine Frage zu beantworten: weder noch.“
Er beugte sich vor und umarmt mich kurz.
„Dann mach es gut. Wir sehen uns Samstag, wenn ich Elaine zum Projekt bringe, okay?“
Leise seufzte ich und nickte.
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