SIEBEN
Nach Stellas Ermunterung überlegte ich nicht lange. Die Sporttasche über der Schulter betrat ich wenig später den Sporttrakt. Der Nieselregen hat erneut eingesetzt. Um dem Wetter zu entgehen, tummelte sich eine Menge Studenten trotz fortgeschrittener Stunde in den Sporthallen, die ich passierte. Meine Augen klebten auf dem Boden und meinen Schuhspitzen, um keine Blicke auf mich zu ziehen. Je weiter ich den Gang hinunterging, desto stiller wurde es. Schließlich begegnete ich niemandem mehr. Ich atmete auf und lauschte dem gleichmäßigen Rhythmus meiner Schritte, die von der niedrigen, mit weißen Platten verschalten Decke zurückgeworfen wurden.
Die Tanzräume lagen nach einer Biegung auf der rechten Seite. Wie ich feststellte, nutzten ein paar andere ebenfalls das offene Abendangebot. Im großen Saal standen einige Mädchen an der Stange und übten. Ein Pärchen arbeitete fast verbissen an einem Pas de deux. Zwei weitere Mädels waren mit ihren Repertoires beschäftigt. Leise korrigierten sich die beiden gegenseitig. Auf Zehenspitzen schlich ich weiter zum nächsten, etwas kleineren Saal und bedauerte dabei es, keinen Tanzpartner mehr zu haben. Jäh befiel mich eine leichte Schwermut und bremste meine beschwingten Schritte.
Beruhigende Leere umarmte mich im nächsten Saal. Der Boden federte leicht unter meine Schritten, als ich ihn durchquerte. In einer Ecke stellte ich meine Tasche ab, schlüpfte in meine Sneakers und grub im Seitenfach nach meinem iPod.
Die rhythmische Musik aus meinen Kopfhörern tilgte jeden Gedanken aus meinem viel zu lauten Kopf und überlagerte sie mit einem klaren Beat. Sofort hatte ich die Choreo im Kopf, an der ich in Florida zuletzt gearbeitet hatte.
Obwohl mir alle Moves vertraut waren, wirkten meine Bewegungen im Spiegel steif und hölzern. Unzufrieden und außer Atem starrte ich auf die Reflexion. Wie magisch angezogen haftete mein Blick an der hellen Vertiefung in meinem Gesicht. Als ob meine Brille, die meine Augen auf den Durchmesser von Reißzwecken verkleinerte, nicht reichte, um mich zu entstellen.
Genervt schnaubte ich, strich mir ein paar rote, dicke Haarsträhnen aus der Stirn. Langsam schritt ich auf die verspiegelte Wand zu. Je näher ich kam, desto klarer zeichnete sich der Makel in meinem Gesicht ab. Die Narbe war über einer Wunde zusammengewachsen, die weit tiefer reichte, als man es auf den ersten Blick vermuten würde. Die Narbe wurzelte tief bis in mein Herz. Bis in meine Seele. Ob diese Wunde unter dem weißen Strich jemals heilte?
Vorsichtig tastete ich links und rechts der verblassenden Linie über meine mit Sommersprossen gesprenkelte Wange. Die Haut war wie immer pelzig. Ich wünschte, mein Herz wäre ebenso taub. Es schlug aber mit schmerzhafter Regelmäßigkeit weiter. Unbeeindruckt davon, dass es aus Scherben bestand, die von purer Willenskraft zusammengehalten wurden. Wenn ich zusammenbrach, hatte Davis gewonnen. Und diesen Sieg gönnte ich ihm nicht. Nicht heute, verdammt! Und auch nicht morgen. Langsam ließ ich meine Hand sinken, straffte meinen Rücken und kratzte den mickrigen Rest eines längst vergessenen Selbstvertrauens zusammen.
Bauch rein. Brust raus. Kopf hoch. Ich war gekommen, um zu tanzen, nicht um Trübsal zu blasen oder Davis Raum in meinem kaputten Herzen zu geben und meine Gedanken durcheinanderwirbeln zu lassen. Das war mein verdammter Neuanfang und aus dem war noch eine Menge rauszuholen.
Ein weiteres Mal startete ich den Son und gestand mir nach der Hälfte ein, dass es heute keinen Sinn hatte, an der Choreo zu arbeiten. Ich war nicht zu hundert Prozent bei der Sache. Meine Gedanken schweiften immer wieder ab.
Zu der Narbe.
Zu diesem nebulösen Projekt, um das ich mich dringend kümmern musste.
Zu Finn.
Als sich dann auch noch wieder und wieder Davis zwischen meine Gedanken mogelte, gab ich auf und zog die Stöpsel aus den Ohren. Ich fand einfach nicht in die Musik hinein. Nicht zu diesem Song. Ich scrollte durch meine Playlists. Suchte nach etwas, dass mich nicht nur berührte, sondern unter die Haut ging.
Und vor allem verabschiedete ich mich von den nervigen Kopfhörern und der Brille, die auf meiner Nase herumrutschte. Wenn ich allein im Saal war, stellte ich keine Unfallgefahr dar und niemand brauchte sich Sorgen zu machen, ob er meinen Ellbogen ins Gesicht bekam.
Ich verband meinen iPod mit der Stereoanlage und Sekunden später vibrierte der Boden unter meinen Füßen von den Bässen.
„Alter, wie krass!", rutschte es mir heraus. Erschrocken schlug ich die Hand vor den Mund und drehte die Anlage leiser. Innerlich darauf gefasst, dass jemand -Grayson?- hereinstürmte und mich zur Sau machte. Aber nichts geschah.
Sorgfältig legte ich die Brille neben die Anlage und sofort verlor alles um mich herum seine scharfen Kanten und begann ineinander zu verschwimmen. Ich schloss die Augen. Genoss, die Musik, die wie eine Droge durch meine Venen bis in mein Herz kroch. Schlag für Schlag schraubte es seine Geschwindigkeit hoch, bis es im Einklang mit den Beats hämmerte. Und endlich gelang es mir, mit der Musik zu verschmelzen und mich ein bisschen vollständiger zu fühlen.
Eine halbe Stunde später saß ich völlig aus der Puste auf dem Boden und nippte an eiskaltem Wasser, das ich an einem der Flaschenautomaten im Keller gekauft hatte. Mein graues Shirt klebte unangenehm feucht am Körper. Schweiß sammelte sich zwischen meinen Brüsten und wurde von meinem Sport-BH verschluckt. Trotz nasser Flecken unter den Armen und auf dem Rücken ging es mir viel besser. Meine Gedanken waren für eine Weile still, als hätte jemand die Stummtaste gedrückt. Eine echte Wohltat! Ich wünschte, Finn könnte die Euphorie empfinden, die meinen Körper beim Tanzen befiel und die noch Stunden danach anhielt. Mein Körper war vollgepumpt mit positiver Energie.
Nachdem das Wasser leer und mein Atem ruhiger geworden war, erarbeitete ich mir den Rückweg zur Stereoanlage, wo meine Brille lag und steckte meinen iPod in die Tasche.
Das stetige Nieseln war in kräftigen Regen übergegangen, als ich mich im Dunkeln auf den von kleinen altertümlich anmutenden Laternen beleuchteten Rückweg zum Wohnheim machte. Regentropfen sammelten sich auf meiner Brille und das gelbliche Licht, das sich in ihnen brach, erschwerte mir die Sicht.
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