SECHSUNDSECHZIG

Die Augenärztin war eine agile Frau in den späten Fünfzigern, die mich mit ihrem Tatendrang verunsicherte. Sie wirkte, als würden wir schnell ein paar Untersuchungen machen und dann kriegte ich eine über den Kopf gezogen, damit sie mich operieren konnte. Vielleicht tat ich ihr auch unrecht, aber ihre übermotivierte Art und ihr übertriebener Optimismus, was meine Sehschwäche anging, machten mir Angst. Es war genauso schrecklich, wie ich es mir vorgestellt hatte und mit jedem Buchstaben, den ich aufzählen sollte, jedem Blitzen der Gesichtsfeldmessung und jedem ihrer eingespielten Handgriffe, wenn sie meine Netzhaut betrachtete oder meinen Augendruck maß, wuchs die Sorge, sie könnte mich mit ihrer Art überrumpeln und zu etwas drängeln, das ich hinterher mein Leben lang bereute.

Zum Glück wich Carter keine Sekunde von meiner Seite. Den schweigsamen Begleiter im Hintergrund zu wissen, gab mir die Sicherheit, die ich brauchte, um all das Gewese um meine Augen zu ertragen. All diese Untersuchungen und die Fragen meiner Vorgeschichte waren ohnehin ein rotes Tuch für mich. Dazu kam auch noch die Anspannung, was die Ärztin und Doc Unterwäsche mir vorschlagen würden. Inzwischen hatte ich tierische Kopfschmerzen, mein Nacken war hart wie ein Brett, weil ich abwehrend alle meine Muskeln versteifte und in meinen Achselhöhlen sammelte sich Schweiß. Schon die Vorstellung, wie weit eine OP über das hier hinaus ging und dass ich unter Narkose wäre und keine Kontrolle über die Situation hätte, verursachte mir intensive Übelkeit. Mein Puls raste inzwischen. Meine Lippen kribbelten und meine Hände waren seltsam taub. Kleine schwarze Pünktchen sammelten sich vor meinen Augen und hüpften wie Flöhe herum.

„Bitte", presste ich angestrengt heraus. „Ich brauch eine kurze Pause." Hektisch schnappte ich nach Luft. Sehen konnte ich die Ärztin nur verschwommen, aber ich wette, sie wechselte gerade einen Blick mit Carter. Vielleicht verdrehte sie auch die Augen. Wäre nicht das erste Mal, das sich ein Arzt über mein Unvermögen lustig machte, ein paar Kontrollen über mich ergehen zu lassen.

Carters etwas unregelmäßige Schrittlänge verriet mir, dass er sich näherte. Sonst wäre ich sicherlich erschrocken, weil sich seine Hand auf meine Schulter legte. „Kein Problem, oder Doc?"

Das Zögern der Ärztin war nicht zu überhören. Sie wollte fertig werden und ihre lästige Patientin loswerden.

„Okay", stimmte sie schließlich zu. „Obwohl ich diese Angst irrational finde."

Peinlich berührt verließ ich an Carters Seite das Zimmer. Meine Knie waren so weich, dass Carter mir den Arm anbot, damit ich nicht herumeierte wie eine alte Frau.

„Lass sie reden, Anna. Du weißt wie ich drauf war, als ich zurückkam. Ich war ein Wrack. Dienstunfähig. Kann sein, dass sie es irrational fand. Ich finde ja, nach einem solchen Zwischenfall und mit unseren Verletzungen dürfen wir Angst haben. Soll sie sich ihre abgeklärte Art in den Arsch stecken! Sie hockt hier, wo es sicher war. Die Patienten, die es erwischt hat, werden ihr in das Zimmer gerollt und sie redet davon, was wir fühlen sollen und dürfen?"

Wutschnaubend stieß Carter eine Tür auf und trat mit mir an die frische Luft. Kurz sah er sich um, dann riet er mir an, mich auf ein nahes Fensterbrett zu setzen.

„Atme erst mal durch. Ich finde, Du hast das toll gemacht." Er fummelte an seiner Jackentasche und förderte Zigaretten und eine Schachtel Streichhölzer ans Licht. „Auch eine?", bot er mir an.

Fast war ich versucht zu nicken, entschied mich dann aber dagegen. Mir war ohnehin schon schwindelig.

„Später vielleicht", gab ich zurück und sah Carter zu, wie er einen tiefen Zug nahm. Nachdem er den Rauch ausgeblasen hatte, nahm er mich wieder ins Visier.

„Mir war nicht klar, wie schlimm es für dich ist. Vielleicht ist das hier eine Scheißidee." Sein Blick wanderte in die Ferne. „Wenn du willst, können wir wieder fahren. Am besten lassen wir diesen Kasper Davis gleich hier. Mit Glück erschießen sie ihn aus Versehen."

Carters harsche Worte entlocken mir ein Lächeln.

„Du kannst ihn echt nicht abhaben, was?"

Carter hob spöttisch einen Mundwinkel.

„Er hat sich von Anfang an für was Besseres gehalten und jetzt sieh dich mal an! Er hat es nicht mal geschafft auf seine kleine Stiefschwester aufzupassen. Wir haben immer alle aufeinander geachtet, weißt du noch? Und kaum warst du ein Jahr weg, dann sowas!"

„Zwei Jahre, Carter. Es ist passiert, nachdem ich zwei Jahre weg war. Und es war ein Unfall, okay?" Es war das erste Mal, dass ich das Wort „Unfall" in diesem Zusammenhang flüssig über die Lippen bekam.

Carter seufzte.

„Ein Jahr, zwei Jahre. Da geb ich einen Fick drauf. Er hat es verkackt, Anna. Du hättest bleiben sollen, wo du hingehörst, dann wär der Mist nicht passiert."

„So siehst du mich? Ich gehöre bis an das Ende meiner Tage in einer Wohnwagensiedlung?"

Carter brachte zumindest den Anstand auf, nach diesem Konter zerknirscht zu sein.

„Nein, das meine ich nicht. Ich wollte ... also ... du warst da zu Hause. Deine Großeltern haben dich zehn Jahre aufgezogen, und plötzlich kommt deine Mum mit ihrem neuen Stecher und zack bist du weg. Von heute auf morgen. Das war echt Scheiße von dir. Weißt du, wie allein deine Großeltern plötzlich waren? Du hast eine verfluchte Lücke hinterlassen, Anna. In der Tanzschule. Im Park. Beim Break-Dance und bei den anderen Kids. Dann kam der Unfall. Wir alle wussten davon. Wir dachten, du würdest endlich zurückkommen. Jeder hat gewartet, dass du heimkehrst. Wir wären für dich dagewesen. Und was machst du? Bleibst bei diesen Spackos, verleugnest deine Herkunft und deine Vergangenheit und verpisst dich dann nach der Schule endgültig. Und das Ganze wofür? Um allein in einer fremden Stadt zu hocken, um die Freundschaft von Typen zu buhlen, die du nicht brauchst und dich mit Leuten rumzutreiben, die ein Vorstrafenregister haben! Großartig gemacht, Anna!"

Dass die Kippe in seinen Fingern runtergebrannt war, kam Carter sehr gelegen, denn so konnte er sie voller Dramatik zur Seite schnippen. Trudelnd flog sie über den Hof und landete dann mit einem kleinen Funkenregen und rollte noch ein Stückchen, bevor sie qualmend ihr Leben aushauchte.

„Bist du fertig?"

„Ja. Nein. Ach Mann, Scheiße. Tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen. Sorry." Zerknirscht sah er mich an.

„Woher weißt du von Ians Vorstrafe?"

„Das ist alles, worüber du dir Gedanken machst?" Er blickte um Hilfe flehend zum Himmel und rieb sich über seinen Buzz-Cut.

„Dir ist nicht mehr zu helfen, oder?", seufzte er dann.

„Doch, vielleicht schon. Immerhin bin ich hier und versuche Ordnung in all das hier zu kriegen."

„Aber nur, weil ich dich hergeschleppt habe", brummte Carter. „Na komm, gehen wir rein. Cal wartet sicher schon."

Der Arzt blickte von seinen Papieren auf, als wir eintraten. Davis, der bis eben gemeinsam mit dem Doc in Unterlagen vertieft war, blickte mich strahlend über die Kaffeetassen und eine Kanne Filterkaffee hinweg an. Discounter-Kekse standen vor den beiden auf dem Tisch, flankiert von Milch und Zucker.

„Anna, stell dir vor! Der Orthopäde sagt, man kann die Brüche mit Metallzeugs so fixieren, dass ich zwar nicht sofort trainieren kann, aber den Arm nach einer kurzen Schonfrist im Alltag belasten darf. Heißt, ich kann zumindest Laufen gehen und das Krafttraining für die unteren Extremitäten und Rumpf mitmachen und würde nicht so viel Muskulatur abbauen, als wenn der Arm ruhiggestellt bleibt."

Wieder wurde mir schwindelig. Diesmal vor Erleichterung.

„Das klingt großartig!", pflichtete ich ihm bei und wunderte mich, warum er mich so bedrückt ansah.

„Da ist nur ein Haken, Anna. Der Arzt würde mich in Florida an einen Kollegen überweisen, damit der übermorgen die OP vornimmt."

„Und was ist das Problem dabei?"

Ich konnte nicht ganz zu dem aufschließen, was ihn gerade bewegte.

„Ich wäre nicht mehr hier, wenn du deine Augen-OP hast."

„Meine Augen-OP? Aber ich habe mich doch noch gar nicht dazu entschlossen?"

„Ich fürchte, du hast dich bereits entschieden und weißt es nur noch nicht", sprang Doc Unterwäsche meinem Stiefbruder bei. „Unser Spezialist wird Ende des Monats zu einem Afghanistan-Einsatz abgerufen. Wann er zurückkommt, ist noch völlig unklar. Donnerstag in einer Woche bist du im OP."

„Nein." Mehr brachte ich nicht raus. Fieberhaft überlegte ich, um eine Ausrede zu finden, die alles, was gegen die Behandlung spricht, kaschieren konnte. „Ich habe das Geld dafür nicht!" Perfekt.

„Du vielleicht nicht, aber ich", widersprach Davis mir.

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