SECHSUNDFÜNFZIG

„Carter, kannst du mich bitte abholen?"

Meine Stimme zitterte vor Anspannung und meine Hand, mit der ich das Telefon umklammere, ebenfalls.

Carters müdes „Klar, Anna", machte mir erst zu hundert Prozent bewusst, wie dämlich und egoistisch meine Idee, ausgerechnet ihn anzurufen, war. Er hatte bis drei im Club gearbeitet. Kaum schlief er, warf ich ihn wieder aus dem Bett und behelligte ihn mit meinem heulenden Elend.

„Ist schon okay", beruhigte er mich, als ich mich das gefühlt hundertste Mal dafür bei ihm entschuldigte, während er durch die Dunkelheit kurvte. Der Motor unter der roten Haube, die so gar nicht zu dem ansonsten schwarzen Auto passte, machte einen Höllenlärm. So höllisch, dass eine Unterhaltung im Inneren ebenso beschwerlich wie Musik hören unmöglich war.

„Der Krieg und die Liebe nehmen keine Rücksicht auf Uhrzeiten. Und ich schlaf sowieso nicht besonders gut, Anna."

Carter schenkte mir ein beruhigendes Grinsen und endlich entspannte ich mich ein wenig auf seinem Beifahrersitz, der nur knapp über dem Boden schwebte. Bei jeder Bodenwelle hatte ich Angst, dass mein Hintern über den Asphalt schleifte und der Bordstein schien auf Kniehöhe zu sein. Das war das erste Auto in dem ich saß, dass so tief auf der Straße lag und so hart gefedert war, dass ich bei jedem Schlagloch meine Wirbelsäule stauchte. Aber es passte zu Carter wie die Faust aufs Auge. Ich konnte ihn mir bildlich vorstellen, wie er am Wochenende an seiner Karre schraubte. Oben ohne, das Shirt zusammengerollt vom Bund seiner tiefsitzenden Jeans baumelnd. Schweiß lief über die Wölbungen seiner gebräunten Muskeln und eine heiße Schnecke beobachtete ihn bewundernd. Eine? Blödsinn! Jede Frau mit Augen im Kopf würde ihn anstarren. Wie in dieser Jeans-Werbung. Oder der von Cola.

Aber behalten würde Carter keine dieser sabbernden Schönheiten. Seine Schreie und seine Alpträume hatten bisher alle vergrault. Bei der Erinnerung an die gellenden Rufe aus seinem Trailer lief es mir kalt den Rücken runter. Trailer waren hellhörig. Es gab keine Geheimnisse. Dan schlug seine Frau. Judy trieb es mit Martin. Da war sie aber nicht die Einzige. Carlos und Rodriguez trafen sich regelmäßig, obwohl beide verheiratet waren. Gloria guckte Pornos und Alice stöhnte wie ein Pornostar, wenn sie Telefonsex für die Agentur hatte. Und Carter, er weinte und schrie zum Gotterbarmen.

Carters Appartement, das er mit Elaine teilte, lag im vierten Stock eines halbwegs gepflegten Blocks. Carter hielt mir die Tür zum Aufzug auf und lehnte sich mir gegenüber an die Metallwand. An seinem breiten Rücken vorbei erhaschte ich einen Blick in den Spiegel. Rotgeweinte Augen, fleckige Wangen, dunkelgraue Augenringe. Ich sah besser aus als ich mich fühlte. Was war ich für ein Glückskind!

Carter ließ mich auf dem Weg nach oben nicht aus den Augen. Bisher hatten wir nicht richtig viel gesprochen. Ich konnte sehen, wie es hinter Carters Stirn arbeitete und er überlegte, was vorgefallen war. Vermutlich musste ich es ihm erklären. Man klingelte Leute, auch wenn es alte Bekannte waren, nicht aus dem Bett, ohne eine halbwegs nachvollziehbare Begründung zu liefern.

„Das kannst du dir nicht ausdenken", war alles was er zu meiner Erklärung sagte. Sein Kopf wackelte ungläubig hin und her. Wir saßen in der winzigen Küche und Carter nahm einen Schluck von seinem alkoholfreien Bier. Mir hatte er auch eines hingestellt, aber ich hatte es kaum angerührt. Meine Nase war vom Heulen so verstopft, dass mir sogar der Kiefer wehtat und ich kaum Luft durch die Nase bekam. Beim Trinken hatte ich regelrechte Panikattacken, weil es sich anfühlte, als würde ich am Tisch sitzend ertrinken.

„Wenigstens muss ich diesen Ian nicht erschießen, weil er dir was angetan hat", resümierte Carter. Als er meinen konsternierten Blick bemerkte, fügte er, um Schadensbegrenzung bemüht, an: „Also nicht mehr angetan als nur das! Du weißt was ich meine."

„Körperlich unversehrt", seufzte ich geschlagen. „Schon klar."

„Und was hast du jetzt vor?", erkundigte Carter sich. Die Bierflasche wanderte zu seinen Lippen.

„Keine Ahnung?" Gedankenverloren fuhr ich mit dem Fingernagel durch die Kondenswasserpfütze, die sich um mein Bier sammelte.

„Schätze mal, mir ein neues Zimmer suchen und bis dahin versuch ich, Stella aus dem Weg zu gehen. Und Ian."

„Du könntest hier wohnen, bis du was anderes hast. Ich meine, wenn du willst. Wir kennen uns nicht wirklich gut, aber, naja, du weißt schon, unsere Herkunft... die verbindet irgendwie."

Den Kopf auf die Hand gestützt, ließ ich die Idee sacken. Verlockend war sein Angebot schon. Einfach den Kopf in den Sand stecken. Nichts mehr von Ian und seiner Schwester hören oder sehen. Andererseits konnte ich Ian kaum aus dem Weg gehen. Dafür war der Campus zu klein und meine roten Haare zu auffällig. Und dann waren da noch Ians Sozialstunden, die er dort leistete, wo ich Fives coachte. Die Jungs wollte ich keinesfalls hängen lassen.

„Scheiße", murmelte ich leise und ließ meinen Kopf auf den Arm sinken. Was musste denn das Leben immer so kompliziert sein? Es hatte sich verdammt richtig angefühlt mit Ian. Als würde er mich verstehen. Alles verstehen, ohne dass ich was erklären musste. Abgrundtief seufzte ich.

„Weißt du Anna, du brauchst das nicht jetzt entscheiden. Schlaf ein paar Stunden. Danach siehst du klarer, was du willst."

Carters Vorschlag klang furchtbar vernünftig, kein bisschen nach gebrochenem Herzen und Kurzschluss.

Militärisch.

Männlich.

Rational.

Ich war da anders gestrickt.

Weiblich.

Emotional.

„Ist es albern, dass ich meinen Scheiß packen und nach Hause fahren will?"

Geknickt sah ich ihn an. Schon wieder spürte ich ein Brennen in meinen Augen.

„Es ist nicht albern, sich das zu wünschen. Aber es wäre albern, es zu tun. Dieser Ian hat dich verarscht. Na gut. Aber willst du deswegen deine Zukunft wegwerfen? Das Semester abbrechen? Woanders studieren? Das hier ist die Stadt, in der du jetzt lebst. Du hast dir diesen Ort ausgesucht! Zeig diesem Ian den erhobenen Mittelfinger und mach weiter. Und am besten kannst du ihm beweisen, wie gut dein Leben läuft, wenn seine Schwester live in der ersten Reihe sitzt. Raus aus der Opferrolle. Nimm die Sache in die Hand!"

Mit schräg gelegtem Kopf sah ich Carter an. Was er sagte, gefiel mir ausnehmend gut. Raus aus der Opferrolle. Was für eine wunderbare Affirmation. Da war nur ein winziger Haken, nicht viel größer als der Central Park, aber er war da.

„Mein Leben läuft nur gar nicht super. Meine Augen werden immer schlechter. Und dann die Narbe und Geld hab ich auch nicht." Ein weinerlicher Schluchzer stieg in mir auf.

„Okay, dann ist es eben nicht super. Aber es könnte super sein. Wenn du es dir nicht aus der Hand nehmen lässt. Wenn du dir überlegst, wie du die Dinge löst, statt zu jammern. Weißt du Anna, nachdem ich angeschossen wurde, war auch nichts super. Ich hatte Schmerzen. Bei jedem verfluchten Schritt. Hab ich aufgegeben? Bin ich im Rollstuhl sitzen geblieben? Nein. Ich habe gekämpft. Um jeden Meter. Damit ich rauskomme. Damit sich was ändert."

Tief in meinem Inneren wusste ich, Carter hatte Recht. Zu hundert Prozent. Aber gleichzeitig winkte mein Unterbewusstsein mir zu und lieferte mir die perfekte Ausrede. Carter war ein Marine. Er war schon vor seinem Einsatz ein Kämpfer. Er hatte immer Sport gemacht, wollte immer mehr als alle anderen. Und naturgemäß wollte er schneller mehr Schritte machen, als andere in derselben Situation. Der Wettbewerb mit anderen, vor allem mit sich selbst, lag ihm in den Genen. Mir nicht.

„Was schlägst du mir also vor? Saufen und kiffen, wie du damals? Den Schmerz und die Angst betäuben, um Ian hinter mir lassen zu können?"

Carter hob einen Mundwinkel.

„Dann hast du das mitbekommen? Obwohl du noch ein kleines Mädchen warst?"

Er rieb sich über die kurzen Haare. Dabei wirkte dieser große starke Mann plötzlich verlegen und unglaublich verletzlich. Leise seufzte er, schüttelt den Kopf.

„Den Umweg würd ich an deiner Stelle auslassen. Nein, Anna, ich meine, nimm die Sache endlich in die Hand. Wenn du Schiss hast, deine Augen richten zu lassen, dann fang eben hiermit an."

Er fuhr mit dem Daumen über mein Gesicht.

„Ein guter plastischer Chirurg kriegt das bestimmt besser hin als die in der Unfallchirurgie. Du würdest dich wundern!"

„Dafür braucht man eine Menge Geld. Und das habe ich nicht."

Nachdenklich sah Carter mich an. Einen Goldesel hatten wir beide nicht im Keller und selbst mit dem Geld, das meine Großeltern gespart hatten, dem Geld, das Davis den Arsch gerettet hatte, hätte ich eine Schönheits-OP nicht bezahlen können. Für mich gab es nur die Option meine Augen richten zu lassen, denn daran beteiligte sich die Krankenversicherung -Granny sei Dank hatte ich schon sehr lange eine!- großzügig. Wär da nur nicht diese verdammte Angst gewesen. Angst, dass es schiefging. Angst nichts mehr zu sehen.

Vielleicht war das albern. Tausende, ach was hunderttausende, Menschen weltweit lebten ohne Augenlicht. Ich konnte es mit Sicherheit auch, wenn ich musste. Wahrscheinlich war die Vorstellung, die ich mir davon machte, weitaus schlimmer als die Realität. Nur wollte ich es nicht. Ich wollte nicht nach der Narkose aufwachen und mich mitten in einem Nichts befinden, umgeben von Erinnerungen an all die kleinen und großen Wunder dieser Welt, die ich nicht mehr sah.

„Okay, ich sag dir, wie wir es machen. Wenn ich das nächste Mal zum Stützpunkt fahre, nehme ich dich mit. Die Jungs in der Chirurgie dort sind top. Sonst würde jeder Soldat nach zwei Einsätzen den Dienst quittieren. Lass dir mal die Möglichkeiten erklären. Unverbindlich. Ohne den hoffnungsvollen Blick deiner Granny. Ohne den Druck deiner Mum oder die Scheißkommentare von Mr. Arschloch-Davis. Und wenn du dich für irgendeine Sache entscheiden kannst, schauen wir was es kostet und wo die Kohle herkommt. Ein Schritt nach dem anderen."

Ein Schritt nach dem anderen.

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