SECHSUNDDREISSIG
Eine Entscheidung, ob ich Ian aus dem Weg gehen wollte oder nicht, musste ich in den nächsten Tagen gar nicht treffen. Ian nahm mir das ab, indem er zu keiner der Vorlesungen erschien, die wir gemeinsam hatteen. Bis Freitag fand ich das auch noch in Ordnung. Vorlesungen schwänzen war nicht unüblich. Dass er aber Samstag nicht beim Projekt war und Zoe behauptete, er hatte sich schon Freitag krankgemeldet, stimmt mich bedenklich. Er war mit seinen Stunden ohnehin schon im Verzug. Zwei weitere Tage verpassen, löste bei Zoe sicher keine Jubelstürme aus.
Als ich sie nach meiner Stunde vorsichtig deswegen ansprach, wirkte sie tatsächlich angefressen.
„Keine Ahnung, was er sich einbildet", grunzte sie. „Er ist mit einem blauen Auge davongekommen. Hat dann auch noch das Glück, dass er nicht in der Armenküche gelandet ist und den lieben, langen Nachmittag Kartoffeln schälen muss. Aber er macht nichts draus. Ich hab das Gefühl, ihm ist das alles egal."
Nachdenklich klopfte Zoe mit den Fingern auf den Schreibtisch. Dann hob sie in einer geschmeidigen Bewegung ihre Schultern.
„Ich versteh ihn nicht. Er zeigt keine Einsicht. Manchmal glaube ich, er legte es darauf an, seine Bewährung gegen die Wand zu fahren. Dabei hat Biscuit ihm oft genug geschildert, was vom Leben übrig ist, wenn man mal saß. Da bleibt nicht mehr viel an Perspektive."
„Ich weiß", flüsterte ich und Zoe lachte.
„Du weißt? Nein Anna, du hast nicht die leiseste Ahnung, was das Gefängnis aus den Menschen macht, sie ohnehin schon am Rande der Gesellschaft stehen. Sie tun Buße für ihre Tat. Viele bereuen ehrlich und aufrichtig. Dann kommen sie zurück, haben den Anschluss verloren an alles. An ihre Freunde und ihre Familien. Haben keinen Job. Sie werden gemieden und isoliert, ausgegrenzt und stehen ständig unter Verdacht. Sie stoßen auf wenig Verständnis und landen schließlich in einem Sammelbecken derer, denen es ebenso geht. Und damit beginnt der Spaß erst richtig."
„Ich weiß das besser, als du glaubst", wiederholte ich stoisch.
„Ich kenne das Getuschel, wenn die Cops in die Siedlung fahren, still und leise ohne Sirenen. Ich kenne das ungute Gefühl, das man hat, wenn sich das Blaulicht in den umliegenden Scheiben spiegelt und der Tritt von Stiefeln durch die Nacht halt. Man fragt sich, wen sie diesmal holen kommen. Und zum wievielten Male. Man fragt sich wie lange er oder sie diesmal weg sein werden und was aus den Familien wird. Aus den Kindern. Oder den Alten, die unversorgt zurückbleiben. Trotzdem bleibt jeder still und hält sich von ihnen fern, als wäre Kriminalität ansteckend. Niemand will in krumme Dinge hineingezogen werden. Und trotzdem steht man in bestimmten Gegenden erstmal unter Generalverdacht. Weil man wohnt, wo man wohnt. Weil man ist, wer man ist. Weil man kennt, wen man kennt."
Zoe nickte bedächtig.
„Ich nehme mal an, dein Wissen stammt nicht aus einem Film", kam es traurig von ihr.
„Nö, aber ich gehöre zu den Glücklichen, aus deren Familie schon lange niemand mehr abgeholt wurde."
Zoe drückte kurz meine Schulter.
„Gut, Anna. Dann hoffen ich mal, dass du weißt, was gut für dich ist und es weiterhin so bleibt."
Mit ihren schlanken, dunklen Händen schob sie mir einen Stapel Unterlagen zu.
„Die müssten heute gebucht werden. Nicolai und ich trainieren. Wenn du Fragen hast, findest du uns im kleinen Saal. Biscuit kommt später mit ein paar Jungs vorbei. Die wollen im großen Saal was probieren. Wenn du mal echt guten Breakdance sehen willst, dann sag mal hallo zu ihnen."
In der Tür blieb sie stehen und musterte mich aus ihren dunklen Augen.
„Aber wenn ich raten soll, hast du schon mal Breakdance von der Straße gesehen."
Ihre Annahme entlockte mir ein Lächeln. Ich war quasi Breakdance von der Straße.
Als ich mit der Buchhaltung fertig war und den Schreibtischstuhl zurückschob, war es draußen bereits stockfinster und ich hatte einen Bärenhunger. Keine Ahnung, wo die Zeit geblieben war.
Mit meiner Tasche in derHand suchte ich Zoe und Nicolai um ihnen Bescheid zu geben, dass ich fertig war,dann nahm ich mir noch ein paar Minuten um Biscuit und den Typen zuzusehen, dieer angeschleppt hatte.
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