NEUNZEHN
So blieb ich zum zweiten Mal alleine in dem fremden Zimmer zurück. Erschöpft und überfordert, ausgelaugt und aufgewühlt. Ob ich das mit Ians Duft besser nicht erwähnt hätte? Aber es stimmte nun mal. Es war etwas, das ihn von allen anderen, die ich kannte, unterschied und komischerweise mochte ich den Geruch, weil er mich an meine Kindheit erinnerte. An den Geruch in meiner Kleidung, wenn ich mit den anderen Kindern am Strand übernachten durfte. Oder ich mit Granpa bis in die Nacht hinein geangelt hatte.
Diesmal musste ich nicht lange warten, bis sich die Tür wieder öffnete. Partygeräusche wehten dumpf herein.
„Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht", stellte Ian sehr sachlich fest und schloss die Zimmertür hinter sich.
„Was zuerst?" Schritte näherten sich dem Bett.
„Die schlechte, bitte", murmelte ich und versuchte mich auf was auch immer gefasst zu machen.
„Es gab kein Coolpack. Aber im Eisfach war eine Flasche Wodka."
Sanft umgriff Ian meine Hand und legte diese dann um die eiskalte Flasche. Beinahe erwartete ich, dass meine die Finger an der Flasche festfroren. Doch das Gegenteil war der Fall: Eine eigentümliche Hitze blieb dort zurück, wo Ian mich berührt hatte. Dankbar drückte ich das eiskalte Glas auf meine mitgenommene Schläfe und versuchte das Kribbeln in meinen Fingern zu ignorieren. Ian lachte auf. Ein heiseres Geräusch, das diesmal ein Kribbeln tief in meinen Bauch schickte.
„Ich hätte den Wodka als Schmerzmittel getrunken, aber ich glaube, so geht es auch."
Für einen Moment genoss ich die Kälte an meiner Schläfe.
„Ist der Wodka die gute Nachricht?", hakte ich nach, als der Schmerz langsam von der Kälte betäubt wurde.
„Nö, die gute Nachricht ist, dass Finn gegangen ist."
Scheiße! Nicht sein verdammter Ernst? Alarmiert setzte ich mich auf.
„Das nennst du gut?", vergewisserte ich mich. Ich konnte es kaum fassen. Finn ließ mich im Stich!
„Na klar find ich es gut. Du siehst verdammt schlecht. Er ist ein komischer Kauz und stinkt nach Alkohol wie ein Seemann. Du bist verletzt und brauchst Hilfe. Dazu noch deine Mörderabsätze. Am Ende hättet ihr euch an einem Bordstein beide Beine gebrochen!"
„Aber ich will nach Hause!", wimmerte ich voller Verzweiflung und verfluchte Ians Besorgnis. Finn hatte nicht getrunken! Diese Tatsache geriet zu einer Nebensächlichkeit, weil er ohnehin von der Bildfläche verschwunden war. Meine mühsam aufrecht erhaltene Tapferkeit ging langsam den Bach runter. Leichte Hysterie schlich sich in meine Stimme. Um diese zu unterdrücken, war ich viel zu sehr durch den Wind.
„Ich bin müde, Ian! Und ich hab furchtbar Kopfweh!"
Es raschelte leise und Ian ging vor mir in die Knie. Eine Hand legte er auf meinen Oberschenkel. Eine Geste, die bestimmt beruhigend sein sollte. Auf mich hatte sie die gegenteilige Wirkung. Seine plötzliche Nähe machte mich nervös, mein Oberschenkel brannte unter der Hitze seiner Hand.
„Das kann ich mir gut vorstellen, so blau wie deine Schläfe ist", seufzte er leise. „Aber ich hab schon eine Menge getrunken, Anna. Fahren kann ich dich heute nicht mehr. Tut mir echt leid", entschuldigte er sich. Er klang dabei ehrlich bedauernd und strich er mir sanft ein paar meiner widerspenstigen Locken zur Seite. Die Geste hatte etwas Tröstliches und am liebsten hätte ich meine Augen geschlossen und mich an seine Hand gekuschelt. Was eine fürchterlich schlechte Idee war. Doch der Schaden ließ sich nicht mehr abwenden: Bei der Vorstellung begann mein Herz in der Brust unruhig zu schlagen. Ians nächste Sätze klangen nachdenklich und waren so leise, dass sie schon beinahe als Selbstgespräch durchgingen.
„Und ob du heute Nacht allein sein solltest, bin ich mir auch nicht sicher. Deine Schläfe ist gewitterblau. Was ist, wenn dir nachts schlecht wird? Oder du das Bewusstsein verlierst? Ich glaub, es ist besser, du schläfst hier", überlegte er laut.
Seine Worte verursachten bei mir ein mulmiges Gefühl. Seine Idee, hier zu übernachten, fand ich unter rationalen Gesichtspunkten betrachtet, völlig bekloppt.
„In Nates Zimmer?", erkundigte ich mich, um auszuschließen, dass ich Ian falsch verstanden hatte.
„Der freut sich bestimmt, wenn er ins Bett will und da liegt eine Fremde."
Ian tätschelte mein Knie und diese simple Geste löste eine weitere Welle kribbeliger Gefühle aus, die sich durch meinen Körper zog.
„Der merkt das nicht mal. Der schläft heute bei Nora. Die beiden sind vor einer Weile gegangen."
Ian klang bei seiner Erklärung angespannt und ich konnte nicht sofort zu den Fakten aufschließen.
„Aber ist Nora nicht deine..."
Unwirsch unterbrach Ian mich.
„War! Hab die beiden vorhin beim Rummachen erwischt."
Erstaunt hob ich den Blick, konnte Ians Miene aber nicht ergründen. Scheiße. Hätte ich wenigstens in seine Augen sehen können! Aber jede Schlussfolgerung über seine Gefühle blieb mir verwehrt. Dafür kam mir das Gespräch, dass ich belauscht hatte wieder in den Sinn. Sicher ging es dabei um Nora und Nates niedere Motive, Ian die Freundin auszuspannen.
„Das tut mir leid", äußerte ich betroffen. Mitleid mit Ian schnürte meine Brust enger zusammen als ein Bündel Zeitungen fürs Altpapier. An seinem Geburtstag! Wie konnten die beiden bei einem Freund so ein Ding abziehen? Das war keine Freundschaft, sondern... keine Ahnung. Irgendein perverser Dreck, den ich nicht verstand. Freunde waren da, wenn es einem Scheiße geht, nicht damit es einem Scheiße ging. Da, wo ich herkam, war Freundschaft alles.
Bedingungsloser Zusammenhalt.
Vertrauen.
Ehrlichkeit.
Freunde logen füreinander, aber nie betrogen sie einander auf diese Weise!
„Dir muss das nicht leidtun, Anna", seufzte Ian still. Er hob eine Hand und rieb sich über das Gesicht.
„Ist keine große Sache. Nora war nichts Besonderes, nur hübsch und gut zu vögeln. Mädchen wie sie gibt es an jeder Ecke", behauptete Ian abfällig. Mit dieser Aussage verspielte Ian die gerade gewonnene Sympathie und sank in meinem Ansehen um zwei Oktaven. Wer seine Freundin nach den Qualitäten im Bett auswählte, war in meinen Augen oberflächlich. Bevor ich meinen Respekt vor Ian noch weiter in den Keller schrauben kann, toppte er seine vorherige Geschmacklosigkeit um mindestens drei Autolängen.
„Schade ist halt nur, dass es mit meinem Geburtstagsfick jetzt nichts wird. Du bist für sowas vermutlich nicht zu haben, oder?"
Obwohl ich wegen seiner Anspielung wieder mal feuerrot anlief und vermutlich verärgert sein sollte, lachte ich über die absurde Frage. Dass diese geschmacklos aber ohne Zweifel ein Scherz war, war selbst mir sonnenklar und sein neckender Tonfall nahm der Bemerkung die Spitze.
„Hast du etwa gerade über eine unanständige Bemerkung gelacht, Anna?", frotzelte Ian. Seine Stimme klang belustigt
„Auf gar keinen Fall!", versicherte ich ihm noch immer schmunzelnd.
„Und du meinst wirklich, ich soll hier schlafen?", kam ich auf das ursprüngliche Thema zurück. Mir schien die Idee plötzlich verlockend: Entspannt hinlegen, die Augen schließen, den Schmerz in meinem Kopf vergessen.
„Anna, denk nicht so viel nach. Du bist müde. Du bist verletzt. Schlaf lieber!"
Genau Anna! Nicht immer denken! Das war viel schneller gesagt als getan. Ein paar Probleme galt es für mich zu bedenken.
„Aber was ist, wenn ich mal aufs Klo muss? Oder mir wirklich schlecht wird? Ich find vermutlich nicht mal das Bad!"
„Dann weck mich", bot Ian gähnend an. „Ich helf dir."
Mein Gehirn hatte einen heftigen Schlag abbekommen auf der Treppe, fürchtete ich, denn ich benötigte einen sehr langen Augenblick, um zu kapieren, worauf Ians Bemerkung rauslief. Er und ich in einem Zimmer? Stopp! Schlimmer noch! In einem Bett! Und er wollte mir helfen, wenn mir schlecht wurde? Meine Gesichtszüge entglitten mir und vor lauter Schreck vergaß ich die Flasche weiter an meine Schläfe zu pressen.
„Du denkst nicht im Ernst, dass ich dich in einem Haus voller betrunkener Studenten allein in einem Zimmer schlafen lasse? Kannst du voll vergessen, Anna! Und jetzt steh mal auf, damit ich die Decke zurückklappen kann."
Seine Aufforderung löste bei mir nichts aus. Mein interner Speicher war noch beschäftigt, die vorherige Aussage zu verarbeiten.
„Soll ich dir helfen beim Aufstehen?", bot Ian an, weil ich völlig erstarrt war und reglos in seine Richtung guckte.
„Nein, geht schon", behauptete ich, war mir aber nicht sicher, ob ich unwissentlich log.
„Ist dir schwindelig?", fragte Ian mich fürsorglich, nachdem ich mich aufgerappelt hatte. „Oder schlecht?" Eine Hand lag an meinem Ellbogen, wo er mich sanft stützte, während ich auf meinen Absätzen balancierte.
„Nein, alles gut, wirklich! Nur ein bisschen wackelig auf den Beinen", beschrieb ich meinen Zustand in der Senkrechten.
„Wie viele Finger siehst du?", fragte Ian und ich sah eine kurze Bewegung vor meinem Gesicht. Ich konnte beinahe nicht glauben, dass er mir ausgerechnet diese Frage stellte! Was glaubte er denn, was ich außer sich verschiebenden Schemen sah?
„Scheiße", stellte er trocken fest. „Das war jetzt blöd. Sorry!" Er klang zerknirscht, was süß war. Für Ians Verhältnisse. Dann fragte er sofort, um den unangenehmen Moment zu überbrücken: „Willst du zum Schlafen ein Hemd von Nate?" Bei seinem Tempo kam mein durchgeschütteltes Gehirn gar nicht mit.
„Nein, ich schlaf wie ich bin", haspelte ich. Mich vor Ian ausziehen stand nicht unbedingt auf meinem Plan.
„Ich geh noch Wasser aus der Küche holen. Falls du heute Nacht Durst hast", informierte mich Ian im Weggehen. Eine Schranktür klappte zu meiner rechten.
„Ich leg dir mal ein Hemd von Nate ans Fußende. Für den Fall, dass du es dir anders überlegst."
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