NEUNUNDZWANZIG
Am Kopf der Treppe versperrte uns eine rote Kordel den Weg zum VIP- Bereich, an deren einem Ende ein Metallständer stand und am anderen ein stiernackiger Typ, der uns grimmig musterte. Er kniff seine kleinen Äuglein zusammen. Sein Blick glitt über unserer Gruppe, als würde er versuchen, jeden einzelnen von uns einzuschätzen. Auf Ian haftete sein Blick geringfügig länger, dann unterzog er mich einer eingehenden Betrachtung.
Eine Hand, die mich an das Blatt eines Spatens erinnerte, hakte das Band aus und mit unbewegter Miene ließ der Sicherheitsmann uns passieren. Felicity und Stella stöckelten in ihren hohen Schühchen an dem Mann vorbei. Kokett warf Felicity ihre langen Haare über ihre Schulter und lächelte ihn an. Den Mann mit der aufgeblähten Brust interessierte ihr Getue nicht die Bohne. Er hatte die Hände vor dem Körper gekreuzt, den Rücken durchgedrückt, den Blick starr geradeaus gerichtet. Sein dunkler Bürstenschnitt war akkurater getrimmt als englischer Rasen. Er erinnerte mich an... „Carter?", fragte ich ihn ungläubig und seine dunklen Augen richten sich wieder auf mich. Kurz runzelte er die Stirn.
„AnnaBanana?", fragte er laut. Seine Stimme war noch genauso tief und angenehm wie früher, das Lächeln breit und herzlich.
„Scheiße, Kleine! Dich hätte ich in hundert Jahren nicht erkannt!" Ohne Vorwarnung breitete er die Arme aus und umarmte mich, als wäre ich in einen Schraubstock geraten. Er roch nach einfacher Seife und einem Hauch Weichspüler. Nach nur ein paar Herzschlägen schob er mich von sich, hielt mich mit einer Armlänge Abstand von sich.
„Hast dich ganz schön verändert, Kleine!", stellte er fest. „Du hast echt noch mehr Arsch und Titten bekommen. Wer hätte das gedacht!", scherzte er. Innerlich wand ich mich unter seinem Blick. Dann wurde Carter ernst, strich mit seinem riesigen Daumen über meine Wange. „Ist sie das?"
„Jepp, meine Kriegsverletzung", antwortete ich übertrieben heiter und zwinkerte ihm zu. Er schien sofort zu verstehen. Ich wollte darüber nicht reden. Nicht hier und nicht jetzt. Vorzugsweise nie.
„Willst du mal meine Narben sehen?" fragte er und automatisch begann ich zu lachen.
„Ne, Mann, lass bloß die Hose an, sonst bist du deinen Job los!"
Sein raues Lachen übertönte problemlos die krachende Musik und sein massiver Arm umschlang mich. „Du hast denselben bösen Humor wie dein Grandpa", grinste er. „Wie geht es ihm?"
Ich presste die Lippen zusammen, warf einen Blick zu Ian, der uns inzwischen argwöhnisch an der Grenze zu drohend beobachtete.
„Als ich das letzte Mal mit ihm telefoniert habe, ging es ihm prima. Wie geht's Elaine?"
Ein viel zu strahlendes Lächeln überzog Carters Gesicht.
„Ihr geht es toll."
Ich glaubte ihm kein Wort. Das kam viel zu schnell, zu glatt über seine Lippen.
„Wie alt ist sie jetzt?"
„Dreizehn."
Genau da lag der Hund begraben. Ich konnte mich gut erinnern, wie sich in dem Alter meine Großeltern auf Trab gehalten hatte. Schadenfroh lachte ich.
„Und? Wird sie langsam so schwierig wie ich es war?"
Er reibt über sein Kinn.
„Langsam? Ich verzweifle. Seit ein paar Wochen trifft sie sich mit so einem komischen Typen. Ich schwör dir, der vertickt irgendwelches Zeug, Annie. Ich hab echt schlaflose Nächte deswegen. Sie ist ein liebes Mädchen, aber Mum fehlt uns. Ist alles schwierig ohne sie."
Wieder blickte ich zu Ian, der uns noch immer beobachtete. Seit wann war der Typ so ein verflucht nerviger Stalker? Da sag nochmal einer, die Beliebten hätten ein eigenes Leben!
„Dein Freund?", erkundigte sich Carter prompt. Ich hatte keine Ahnung, was er genau war. Also reduzierte ich ihn auf die Essenz dessen, was ich sicher wusste.
„Bruder meiner Mitbewohnerin."
Carter hakte die Kordel wieder ein, die unbeachtet auf dem Boden lag.
„Braucht ihr einen Tisch?"
„Keine Ahnung? Ich war noch nie in einem Club. Brauchen wir einen?"
Wieder lachte Carter tief und angenehm.
„Nimm, was du kriegen kannst, Annie. Aber nur, wenn du es willst!"
Er zwinkerte mir zu und durchquerte im Stechschritt die Empore.
Am Geländer blieb er stehen, blickte kurz runter, dann schüttelte er den Kopf und zog weiter.
„Tanzt du noch immer, Kleine?", fragte er mit stechendem Blick.
„Manchmal. Ja."
„Dann ist dieser Tisch perfekt. Beste Aussicht für dich, Süße"
Carter deutete über die Brüstung, wo sich in der Halle unter uns eine Meute Feiernder auf die Tanzfläche drückte. Neugierig blickte ich über das Geländer aus Stahl, das unter meinen Händen im Takt vibrierte und nahm die kleine Bühne in Augenschein, die im Dunkeln lag. Lediglich die weißen Positionskreuze reflektierten das Schwarzlicht.
„Heute Abend treten ein paar echt coole Acts auf. Also genieß die Show." Kurz umarmte er mich.
„Ich muss jetzt leider weiter machen. Weißt schon. Bisschen wichtig sein. Aber wenn du Lust hast, können wir später noch quatschen."
„Unbedingt!", stimmte ich sofort zu.
Zu sagen, dass die „anderen" mich blöd ansahen, war überflüssig.
„Himmel, Anna!", flüsterte Stella, oder sie tat das, was bei der Geräuschkulisse einem Flüstern entsprach.
„Was kennst denn du für krasse Typen?"
Kurz sah ich zu Carter, der wieder an seinem Posten stand. Krass, die Beschreibung trifft ihn sehr gut. Und auch seine Vergangenheit.
„Was wollt ihr denn trinken, Mädels?", erkundigte sich Ian und schob mir und Stella die Getränkekarte zu.
„Cosmopolitan", bestellte ich ohne nachzudenken. Fuck. Davis würde mich jetzt töten. Ich war achtzehn. Was ein Cosmopolitan war, sollte ich, wenn es nach ihm ging, noch nicht mal wissen. Aber Davis war nicht hier. Nur ein paar Leute, auf deren Gesellschaft ich nicht scharf war. Was die über mich dachten, konnte mir vollkommen schnurz sein.
„Nehme ich auch", stimmte Stella meiner Wahl zu und Ian sah uns besorgt an.
„Übertreibt es nicht!", brüllte er über die Musik hinweg. Und das schon vor unserem ersten Drink. Er war total unentspannt, würde ich behaupten.
„Wisst ihr, wer heute Abend hier auftritt?", erkundigte ich mich und sofort hatte ich die Aufmerksamkeit aller. Ups. Das war jetzt nicht geplant. Meine Frage richtete sich eher an Stella und Ian.
Felicitys Augen leuchteten, als sie meine Frage beantwortete.
„Drei Tanzgruppen, die in ganz Oregon schon Auftritte hatten. Man munkelt, eine der Gruppen hätte einen Vertrag mit einem bekannten Rapper geschlossen. Sie sollen in einem seiner Videos auftreten. Wir hoffen, dass wir uns ein bisschen was abschauen können, was die Choreos angeht."
„Die meisten, die mittanzen sind von irgendwelchen Colleges. Also quasi unsere direkte Konkurrenz", ergänzte Ian und sein Blick zuckte nervös zur Tanzfläche.
„Aber das sind bestimmt Colleges, die eine künstlerische Ausrichtung haben. Da kann euer Workshop nicht annähernd mithalten."
Dass ich das Falsche von mir gegeben hatte, wurde mir klar, als mich zur Abwechslung mal alle böse anguckten, nicht nur Nora.
„Es kommt alles auf die Choreo an", behauptete Felicity und Nora nickte.
„Wir müssen was bieten, das aus der Masse heraussticht. Wir dachten, wir stellen einen Battle nach. Je Zwei Jungs und ein Mädchen. Und eines der Mädchen wechselt die Fronten, weil sie in einen der Jungs verliebt ist, oder so."
„Wow. Sehr einfallsreich. Gab es bestimmt noch nie", ätzte ich und biss mir im nächsten Moment auf die Zunge.
„Du hast sicher bessere Ideen?", schoss Nora zurück.
„Klar", behauptete ich und lehnte mich entspannt gegen die Brüstung links von mir.
Alle Augen ruhten auf mir. Aber im Ernst! Jede Idee war besser als das! Wenn es eine Geschichte zu erzählen gab, dann bitte keine, die aus der Konserve kam. Theatralisch verschränkte ich meine Arme vor der Brust.
„Nur bin ich nicht in eurem Workshop. Deswegen geht mich das nichts an, was für einen Mist ihr tanzt."
Dankbar nahm ich meinen Cosmopolitan entgegen, den die Bedienung gerade servierte und wich bewusst Ians forschendem Blick aus. Statt ihn zu beachten, nippte ich an meinem Cocktail und genoss die Aussicht auf all die sich windenden und stampfenden Körper unter uns.
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