NEUNUNDSECHZIG

Mit der Eröffnung den Fives gegenüber geriet ein Stein ins Rollen, der nicht mehr zu stoppen war. Dass dies meine Chance zurück zu einem normaleren Leben war, einem unbeschwerteren Leben, stand außer Frage. Jetzt, wo ich die Tatsache ausgesprochen hatte, dass ich sie nutzen musste und wollte, waren Fakten geschaffen, die nach geradezu hektischer Aktivität schrien. So vieles war zu organisieren, so viele Menschen zu informieren. Ich wusste gar nicht, wo anfangen. Mal abgesehen vom Offensichtlichen. Wo ich schon mal hier im Projekt war, waren Zoe und Nicolai die nächsten, die von der anstehenden Veränderung erfuhren. In diesem Gespräch wurde mir erst wirklich klar, wie unvorbereitet ich auf die nächsten Tage war. Weder hatte ich einen Augenarzt für die Nachsorge, noch eine Kliniktasche, geschweige denn eine konkrete Vorstellung, wie lange ich krankgeschrieben sein würde, oder wie gut ich danach sehen konnte.

Konnte ich allein im Wohnheim zurechtkommen? Wer begleitete mich zur Nachsorge? Wer informierte mich über den Stoff der Vorlesungen und hatte ich in der Bücherei Anspruch auf Krankengeld? Oder wurde ich gar gekündigt, weil ich noch in der Probezeit war? Wer kümmerte sich um mich, falls ich nicht klarkam oder Komplikationen auftraten?

Meine Euphorie über die Tatsache, endlich eine Entscheidung getroffen zu haben, wurde von den Sorgen, die Zoe heraufbeschwor, völlig überdeckt. Vor dem Haus atmete ich zittrig ein. Die Zeit war zu kurz. Sie hatte ausgereicht, eine Entscheidung zu treffen, aber nicht, um mich auf den großen Tag vorzubereiten. Statt einen Schritt nach dem anderen zu machen, stolperte ich gerade in eine ungewisse Situation und das fühlte sich nicht gut an. Überstürzt.

Ich war so planlos, dass ich Leuten mitteilte, was ich vorhatte, bevor der Chirurg davon wusste oder ich geklärt hatte, wie ich in den Stützpunkt kam, ob oder wie lange ich im Krankenhaus blieb und was ich brauchte. Bis auf Davis ahnte noch keiner aus meiner Familie, welche Veränderungen in naher Zukunft auf mich warteten.

Wie konnten der Arzt, Davis und auch Carter nur annehmen, eine Woche würde reichen, um alles vorzubereiten?

Carter reagierte bei unserem Telefonat auf diese Frage mit einem Schnauben.

„Das ist aber Jammern auf hohem Niveau. Du hast noch drei Tage, um dich vorzubereiten. Ich hatte keine drei Sekunden dafür, Anna."

Jetzt war es an mir zu schnauben.

„Der feine Unterschied ist, dass du zu dem Zeitpunkt bewusstlos warst. Du konntest dir also gar keine Gedanken machen."

„Ist ein Argument", gab Carter widerwillig zu. „Versuch dich abzulenken. Damit, dass du dich verrückt machst, wird es nicht besser. Du kannst weder Cal noch die Uni vor Montag informieren und ich würde dir davon abraten, deine Granny oder deine Mum anzurufen. Die machen dich die nächsten zweiundsiebzig Stunden nur kirre."

„Und was soll ich machen?", motzte ich Carter an, weil ich ein Ventil brauchte und er gerade zur Verfügung stand. „Soll ich Socken stricken?"

Carter lachte.

„Ich würde ein Paar nehmen. Bitte Größe 45."

„Gott, im Ernst ,Carter. Ich bin so angespannt, dass ich die ununterbrochen auf und ab tigere. Wie soll ich bis Mittwoch überleben?"

„Tja, Anna, dann weißt du jetzt, warum ich mit dir essen gehen wollte, nicht wahr?" Für den Fall, dass ich es nicht kapierte hatte, fügte er an: „Um dich abzulenken."

Genervt strich ich mir meine Locken aus der Stirn. Ich hätte zusagen sollen. Ein Essen unter Freunden. Aber ich Schaf hatte Angst, dass er es anders meinen könnte.

„Vermutlich gilt das Angebot nicht mehr?", erkundigte ich mich kleinlaut.

Einen Moment zögerte Carter und bangen Herzens wartete ich. Mental stellte ich mich bereits auf einen langen Abend und eine noch längere Nacht ein.

„Ich muss vorher noch eine Kleinigkeit erledigen. Aber ich kann um sieben bei dir sein. Mach dich nicht zu schick, okay? Ich kann mir diese Restaurants mit weißen Leinentischdecken und Silberbesteck nicht leisten."

„Mit reicht ein günstiges Diner mit Kunstledersitzen völlig, solange die Burger halbwegs vernünftig sind und die Pommes nicht total labbrig."
„Dann wusste ich das Richtige für uns", versprach mir Carter.

Ob er dieses Versprechen einlösen konnte, blieb abzuwarten und gespannt kletterte ich aus dem tiefen Einstieg seines Wagens, als er behauptete, wir wären am Ziel meiner Träume von knusprigen Pommes angekommen.

Voller Neugier folgte ich Carter um eine Straßenecke. Wirklich vielversprechend sah das mit schwarzer Folie abgeklebte Schaufenster nicht aus. Der ehemals weiße, verschnörkelte Schriftzug war rissig und leicht vergilbt und verkündete, dass dies ein Steakhouse war. Durch die offenstehende Tür blickte man direkt in die Gaststube und auf die wuchtige Theke der Bar. Dort hockten ein paar Leute, die dort vermutlich schon seit Jahren ihre Abende verbrachten. Ihr raues Lachen und die feinen Runzeln um den Mund herum erzählten jedem, der hinsah, von Zigarettenkonsum und durchwachten Nächten.

Carter ging voraus zu einem der Ecktische, wo er mir die Jacke abnahm und an einen Garderobenständer hängte, während ich mich am Tisch vorbei auf die Kunstleder bezogene, aber schon sehr abgenutzte, Sitzbank drückte.

„Hey", begrüßte uns eine Bedienung Anfang fünfzig, die mit Sicherheit schon die eine oder andere Zigarette gemeinsam mit den Kunden von der Bar geraucht hatte. „Heute ohne die Jungs?", erkundigte sich die Blonde anschließend freundlich bei Carter und dieser nickte.

Die Bedienung musterte mich ungeniert. Hinter ihrer Stirn arbeitete es. Schließlich gab sie den Versuch auf, mich in eine Kategorie zu stecken zu wollen.

„Für dich ein Alkoholfreies, wie immer?"

Nachdem Carter dies bestätigt hatte, schrieb sie meine Cola auf einen Block und dackelte zum nächsten Tisch, wo sich gerade drei weitere Gäste niedergelassen hatten.

„Du bist also öfter hier? Mit Jungs?", erkundigte ich mich bei Carter, um ein Gespräch in Gange zu bringen. Nicht meine Spezialität, aber ich versuchte es zumindest.

„Aus ihrer Perspektive sind es nur Jungs. Aber unter uns gesagt, Anna...", er lehnte sich zu mir herüber, als würde er mir etwas Vertrauliches zuflüstern wollen, „Wir halten uns alle bereits seit Jahren für echte Männer." Seine braunen Augen funkelten belustigt bei dieser Eröffnung und ich kam nicht umhin, ihn ein bisschen zu necken.

„Du weißt, was mein Grandpa dazu sagen würde?"

Carter verdrehte die Augen.

„Wenn es nach ihm geht, werde ich nie ein richtiger Mann. Spätestens nach der halben Flasche ist mir jedes Mal so kotzschlecht, dass ich aufgebe", brummte er.

„Du musst mehr üben, Carter! Alles eine Frage des Trainings", stichelte ich weiter.

„Halt die Klappe, okay?" Obwohl seine Worte unhöflich waren, blieb seine Stimme freundlich. Er schob mir die Karte rüber.

„Wenn ich saufen muss wie ein Loch, um ein Mann zu sein, oder mich benehmen soll wie ein Vollarsch, dann bin ich lieber ein Weichei."

Vermutlich machte ihn diese Einstellung mehr zu einem Mann als alles andere, was ich bisher zu dem Thema gehört hatte, aber ich verkniff mir den Kommentar. Stattdessen guckte ich mir die Auswahl an Burgern und Frittiertem an. Schließlich entschied ich mich für einen simplen Rinderburger mit Pommes und gemischtem Salat. Carters Bestellung fiel gegen meine deutlich üppiger aus und staunend hörte ich mir an, was er alles bestellte.

„Ich nehme die Chicken Wings und das Round House Steak. Einen großen Cesars Salat mit Extradressing und eine von den Ofenkartoffeln. Bitte mit Sourcream, kein Joghurt. Das Baguette zum Steak bitte ohne Knoblauch."

„Das kannst du im Leben nicht essen", behauptete ich felsenfest überzeugt, als die Bedienung Richtung Küche marschierte. „Davon könnte ich eine Woche zehren!"

Als Antwort spannte Carter lediglich die Muskeln an, die sich daraufhin deutlich wölbten und seinen Körper in eine Buckelpiste verwandelten. „Das will alles erhalten werden", erklärte er mir zwinkernd. Stolz schwang in seiner Stimme mit. „Da brauch ich schon ein paar Kalorien extra."

Ratlos sah ich ihn an. Unter ein paar Kalorien extra hätte ich mir was anderes vorgestellt, aber nicht, dass unser Tisch aussieht, als würden die zuvor erwähnten Jungs mitessen.

„Also, was sind das für welche, mit denen du sonst hierherkommst?", fragte ich Carter beim Essen.

Einen Moment kaute Carter schweigend, legte in aller Ruhe sein Besteck zur Seite und spülte sein Essen gemächlich mit einem Schluck Bier runter.

„Leute die ich während der Grundausbildung kennengelernt hab und danach im Krankenhaus. Manchmal ein Kollege von Sicherheitsdienst. Cal ist auch öfter dabei. Wir treffen uns normalerweise Freitag hier. Nichts Festes. Wer Zeit hat kommt, wer nicht lässt es. Hinterher gehen wir meistens noch Billardspielen oder zum Bowling. Darten. So Zeug halt."

Der Bissen in meinem Mund bekam einen faden Beigeschmack nach Versteckspiel.

„Und heute hatte keiner Zeit?", lote ich die Situation aus und Carters Gesicht wirkte plötzlich schuldbewusst, als hätte ich einen Dreijährigen beim Naschen ertappt.

Mein ohnehin schon angegriffenes Nervenkostüm kam mit der Miene nicht klar. Wütend schmiss ich mein Besteck auf den Teller. Dann knüllte ich die Serviette zusammen und feuerte sie in Carters Richtung. Ohne Treffer, denn er hatte tadellose Reflexe und fing mein Geschoss noch in meinem Teil des Luftraums ab.

„Also wolltest du nur nicht, dass sie deinen kleinen Sozialfall kennenlernen, ja?", warf ich ihm vor und kämpfte mich den Weg zwischen Bank und Tisch und Bank zurück in den Gang. Unelegant zugegebenermaßen, aber flink genug, um Carter zu entwischen und in Richtung des Ausgangs zu fliehen. Tränenblind drückte ich die Tür auf, rempelte eine Frau an, die gerade das Lokal betreten wollte. Zu gleichen Teilen schämte ich mich für meine Rücksichtslosigkeit und meine Tränen.

Im Gegensatz zu Ian, dem ich mühelos entwischen konnte, fing mich Carter keinen Häuserblock später bereits wieder ein. Ohne auch nur außer Atem zu sein, packte er mich um die Taille und stoppte meine Flucht damit sehr effektiv. Schluchzend trat ich um mich und strampelte wie verrückt. Alles was ich damit erreichte, war, dass er fester zupackte.

„Hör auf mit dem Scheiß, Anna", fluchte er wütend, als ich ihn voll am Knie erwischte. „Ich schlag echt keine Frauen aber noch so ein Ding und ich werde dir wehtun", drohte er mir an. Der Ernst in seiner Stimme ließ mich zur Besinnung kommen und zu dem Gefühl eine Aussätzige zu sein, gesellte sich Scham und die Erkenntnis, dass ich mich wie eine Irre aufführte. Carter rieb über sein Knie und unter weiteren Schluchzern stammelte ich eine Entschuldigung nach der anderen, bis Carter sich endlich wieder aufrichtet.

„Wirklich, ich wollte dich nicht verletzen", setzte ich noch mal an. Er wischte meine Worte mit einer abfälligen Bewegung weg.

„Glaubst du wirklich, ich würd dich in meine Stammkneipe mitnehmen, wenn ich versuchen würde, was zu verbergen? Denkst du, ich kann behaupten, du wärst meine Freundin, um eine Zivilistin in ein Militärkrankenhaus schleusen, ohne dass jeder, der mich kennt, davon erfährt? Wie blöde bist du denn? Elaine fliegt in ein paar Wochen mit dir über Weihnachten nach Florida. Meinst du nicht, die Jungs fragen, wer das Mädchen ist, dem ich meine Schwester anvertraue? Du bist das Letzte, was ich verstecken könnte! Oder wollte!"

Carter war so wütend, dass seine Gesichtsfarbe unter seiner gebräunten Haut einen rötlichen Ton annahm und seine laute Stimme – sein massiver Brustkorb war ein ganz schöner Resonanzkörper - hallte von den umliegenden Hausmauern wider.

„Alles was ich wollte, war ein ruhiger Abend für dich, Anna! Ohne dass wir jedem erklären müssen, dass eine Freundin nicht das gleiche ist wie meine Freundin. Aber bitte, wenn es das ist, womit du diesen Abend verbringen willst, dann kannst du es später gerne bekommen!" Zu herrisch für meinen Geschmack streckte er seinen Zeigefinger in Richtung Eingang. „Und jetzt beweg deinen Arsch wieder rein und iss deinen Scheißburger, bevor er eiskalt ist und ich hier draußen verhungere."

Sekunden verstrichen, in denen Carter mich anstarrte und ich starrte zurück. Wie kam es, dass im Augenblick jeder glaubte, mir sagen zu können oder sagen zu müssen, was ich zu tun oder lassen hatte? Wer zog denn all diese nervigen Alpha-Männchen groß, die annahmen, ich bräuchte ihre Führung, ihre Hilfe, ihre ganze Kraft und Aufmerksamkeit?

Und dann dämmerte es mir langsam: ich stand am unteren Ende der Nahrungskette, kaum Ellbogen, kein Rückgrat und immer allein. Es war wie Davis gesagt hatte: ich zog Jungs an, die sich besser fühlten, wenn sie mich wie ein Haustierchen verhätscheln und Rumkommandieren konnten. Wenn sie den Beschützer raushängen lassen konnten, ohne sich groß anstrengen zu müssen oder emotional viel zu investieren, weil ich dankbar jedes Fünkchen Zuneigung annahm, um mein Defizit zu füllen.

Es war wie dieses Schlüsselprinzip: Ich war ein riesengroßes, gähnendes emotional bedürftiges Schlüsselloch, in das selbst die größten Arschlöcher passen.

„Nein."

Verwirrt runzelte Carter die Stirn. Er war groß wie ein Berg. Und wütend wie ein Stier. Mein gerechtfertigter Zorn wandelte sich in Sorge. Vielleicht hätte ich mich fügen sollen?

„Nein?", wiederholte er ungläubig und starrte mich weiter durchdringend an.

„Nein", gab ich zurück, obwohl es langsam albern wurde. Vielleicht brauchte meine Weigerung etwas mehr Nachdruck. „Muss ich es buchstabieren?"

Mein Ton hätte ruhig etwas ätzender sein dürfen, aber der Satz an sich gefiel mir schon mal. Ob mir die möglichen Konsequenzen, Carter ernstlich zu verärgern, gefielen, war ich mir nicht sicher. Niemand reizte Carter folgenlos.


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