NEUN

Um diese Zeit nutzten viele Studenten die Rechercheplätze. Kein einziger war frei, dabei war ich mir sicher, dass die meisten der Studenten einen eigenen Laptop besaßen oder zumindest ein Tablet. Ein großer Bildschirm war aber offensichtlich selbst dann nicht zu verachten, wenn man bessere Augen hatte als ich.
Zu meinem größten Verdruss arbeitete diese Nora, Ians bildhübsche Freundin, an einem der Computer. Ihre Gegenwart zu meiden, schien mir in jedem Falle eine gute Idee. Wo sie saß, war Ian nicht weit. Eine Rechnung, die so simpel war, dass ein Erstklässler auf die Lösung kam. Entsprechend meiner Risikoanalyse und meiner akuten Unlust, mich mit nervigen Typen mit rauchgrauen Augen herumzuplagen, drückte ich mich zwischen den Regalreihen in der Nähe der PCs herum.
Zwischen den Büchern hindurch behielt ich die Arbeitsplätze im Auge und gab mir den hoffentlich glaubwürdigen Anschein, an irgendwelchen klassischen Werken der Literatur interessiert zu sein. In Wahrheit konnte ich aber weder mit Shakespeare noch mit Austen etwas anfangen. Trotzdem zog ich den einen oder anderen Roman heraus, blätterte ihn durch und beobachtete dabei ein klein wenig neidisch diese Nora. Ich konnte durchaus nachvollziehen, dass Ian sie anziehend fand. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit großen, ausdrucksvollen Augen, die von ihrem dunklen Pony betont wurden, breite Hüften und eine schmale Taille, über der Brüste thronen, die knapp an meine Oberweite heranreichten. Dazu ein superknackiger Hintern und ein Lächeln, das problemlos über ihre überhebliche Art hinwegtäuschte. Sie war ein wahrgewordener feuchter Männertraum.
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass ausgerechnet der Platz frei wurde, der Noras PC gegenüberlag. Einen Moment zögerte ich, wägte ab, wie wichtig dieses FSDP war und ob es das Risiko wert aufwog, Ian zu begegnen. Seufzend schob den Wälzer mit Charles Dickens' gesammelten Werken wieder in seine überdimensionale Lücke auf dem Holzregal. Ich brauchte ein Projekt und dieser PC war der erste Schritt in diese Richtung.
Zügig strebte ich auf den freiwerdenden Platz zu und ließ mich mit einem leisen „Hey, Nora!" auf den freien Stuhl fallen.
Bisher lief alles gut, stellte ich mit einem wahren Hochgefühl fest. Jedenfalls wenn man davon absah, dass Nora keine Antwort gab und mich ansah, als hätte ich versucht, ihr die Butter vom Brot zu lecken. Ihr Schweigen störte mich aber auch nicht groß, ich wollte mich nicht zwingend mit ihr unterhalten, wenn sie mich oberflächlich als „so eine" bezeichnete. Lieber konzentrierte ich mich auf meine Internetsuche.

Was in Langform „Free Social Dancing Project" hieß, war ein Angebot der Jugendhilfe und wurde von verschiedensten Trägern und Prominenten unterstützt. In sage und schreibe vierzig Großstädten boten Tanz- und Gesangskünstler kostenlosen Unterricht an. Je nach Ausrichtung des lokalen Projektleiters lagen die Schwerpunkte auf Rap, Hiphop und Breakdance, manchmal auf Gesellschaftstanz oder Jazz-Dance. Überraschend oft wurde Modern Dance oder klassisches Ballett unterrichtet. Das Gesangsrepertoire reichte von Klassik über Pop bis zu Gangsta-Rap. Einige namhafte Platten-Labels nutzten das Projekt und die regelmäßig stattfindenden Battles und Contests, um Nachwuchs zu rekrutieren. Weil der Unterricht kostenlos war, finanzierte das Projekt sich im Wesentlichen über Spenden und das ehrenamtliche Engagement der Lehrer. Doch auch straffällige Jugendliche leisteten ihre Sozialstunden ab.
„Für so krassen Scheiß bist du zu weich, Anna", erklang eine rauchige Stimme hinter mir.
„Du ziehst schon den Schwanz ein, wenn Grayson dich nur schief anredet! Wie will eine wie du mit Härtefällen klarkommen?"
Ian schaffte es, „eine wie du" auszusprechen, als sei ich eine ansteckende Krankheit wie Tripper oder Chlamydien.
Um Geduld bemüht schloss ich meine Augen. Langsam drehte ich mich auf dem Stuhl zu ihm um. Er hatte keine Ahnung, was er da für Mist redete! Meine Finger verschränkte ich auf meinem Schoß, damit Ian das Zittern nicht bemerkte.
„Ich kann mich nicht erinnern, dich nach deiner Meinung gefragt zu haben, Ian. Sollte ich mich jemals für etwas interessieren, das du zu sagen hast, erfährst du es als Erster. Versprochen!"
Er zog ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen.
„Wollt dich nur warnen, dass dieses Projekt eine Nummer größer ist als du, Rotschopf", brummte er, dann legte er die restlichen Schritte um den Tisch herum zu seiner Freundin zurück. Während ich damit beschäftigt war zu begreifen, wie Ian auf die Idee kam, mich vor was auch immer zu warnen, legte er Nora die Arme um die Mitte und zog sie von ihrem Stuhl.
„Lass uns gehen, Baby. Nate ist heute unterwegs. Ich hab sturmfrei", raunte er seiner Freundin wenig diskret ins Ohr. Dann küsste er sie, als würde er sie am liebsten an Ort und Stelle vernaschen.
Der Zungenkuss, den die beiden tauschten, hätte als Lehrvideo dafür durchgehen können, wie man einen Partner antörnte und unfreiwillige Zuschauer in Verlegenheit brachte.
Ausblenden, einfach ausblenden, die beiden!
Auf keinen Fall sah ich Ian und seiner Freundin nach, wie sie die Bibliothek verließen. Und ich war nicht eifersüchtig darauf, wie vertraut die Hand des Iren auf Noras Hintern ruhte. Trotzdem spürte ich einen Stich Neid in meiner Brust. Auf die Zweisamkeit, die die beiden teilten. Ich hatte diese verfluchte Einsamkeit so satt!

Zeile für Zeile scrollte ich durch die aufgeführten Projektadressen, bis ich auf die richtige stieß. Der hiesige Leiter war ein Nicolai Sokolow seine Vertreterin eine Zoe Oliveira. Der Straßenname sagte mir gar nichts, aber die auf der Homepage genannte Buslinie hatte einen Halt auf der Rückseite des Campus.
In Ermangelung eines Stiftes fotografierte ich die Daten ab und loggte mich aus, bevor ich die Bibliothek verließ.
Eine aufgeregte Anspannung hatte mich befallen, die ich den ganzen Weg zurück zum Wohnheim nicht abschütteln konnte. Ein Tanzprojekt. Ein soziales Tanzprojekt. Wenn das kein Glücksfall war. Und alles, was ich noch tun musste, war diesen Mr. Sokolow anrufen und zu fragen, ob sie eine Praktikantin annahmen. Das war ein Kinderspiel.
Für andere.
Nicht für mich.
Das fing schon damit an, dass ich nicht gerne telefonierte und mich nur äußerst ungern mit Unbekannten unterhielt. Die Kombination aus beidem war für mich mit der Kernschmelze in einem Reaktor vergleichbar. Der Super-GAU!

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