FÜNFZIG
„Warum lässt du deine Augen nicht operieren?", durchbrach Ians Stimme die Dunkelheit.
„Weil ich Angst davor habe, dass etwas schief geht und meine Welt diesmal für immer dunkel bleibt."
Ian stützte seinen Kopf auf den Ellbogen. Ich hatte das Gefühl, er starrte mich an, sicher wusste ich es aber nicht. Vielleicht wünschte ich mir seine Aufmerksamkeit nur so verdammt sehr, dass ich nicht darüber nachdenken wollte, was er sonst tat. Zum Beispiel, von der ängstlichen Anna total gelangweilt, aus dem Fenster sehen und die Sterne zählen.
„Für immer dunkel? War sie es denn schon einmal?"
Da war sie. Die Frage. Die, um die ich vorhin mühevoll herumgeeiert war und von der ich dachte, ich hätte sie erfolgreich umschifft. Aber es war wie mit dem sprichwörtlichen Rom. Es gab so unendlich viele Wege, um nach Rom zu gelangen, wie es sie gab um schlussendlich wieder und wieder und wieder bei dem Unfall zu landen. Es war, als müsste ständig jemand an dem Knoten nesteln, mit dem ich den Sack zugebunden hatte, ich dem ich meine Vergangenheit verstaut hatte. Früher war es Davis, der nicht lockergelassen hatte. Der mich sieben Tage die Woche an den Unfall erinnert hatte und daran, dass das alles nie passiert wäre, wenn ich mein Tagebuch zu Hause gelassen hätte. Jetzt war es Ian, der es nicht gut sein ließ und ich war es leid. Ich war es leid, mich mit dem Mist auseinanderzusetzen und wieder und wieder zu diskutieren.
„Nach dem Treppensturz hatte ich Splitter in beiden Augen. Sie wurden entfernt und ich bekam die Augen verbunden, damit alles heilen konnte. In der darauffolgenden Nacht bekam ich Schmerzen. Nicht besonders stark und ich dachte mir nichts dabei, weil ich ganz frisch operiert war. Außerdem tat mein Körper an so vielen Stellen weh, dass ich es auf den Unfall schob. Am nächsten Morgen konnte der Augenarzt um die Heilung zu kontrollieren. Er nahm den Verband ab und alles blieb dunkel. Also, nicht ganz schwarz, sondern fleckig. Ich wurde ich ein Untersuchungszimmer gebracht und mit kaum mehr als einem einzigen Blick in mein Auge stellte der Arzt fest, dass sich meine Netzhaut in Teilen abgelöst hatte. Unter Narkose wurden die Stellen wo Einblutungen waren verödet. Und ich bekam Gas in das Auge. Damit sollte die Netzhaut gegen die Wände des Auges gedrückt werden und dort wieder verwachsen. Tagelang hatte ich diese Schälchen auf den Augen, durch die nur winzigste Mengen Licht fallen und ich konnte nichts selber machen. Nicht einmal ein Glas Wasser einschenken. Das Mädchen neben mir war seit seiner Geburt blind und lachte mich wegen meiner Ungeschicklichkeiten aus und tröstete mich, dass ich bald wieder sehen könne, wie zuvor. Nur war das nicht so. Das Gas wurde resorbiert, die Netzhaut blieb wo sie sein sollte. Aber meine Linsen konnten sich nicht mehr zusammenziehen. Die Hornhaut auf meinen Augen war vernarbt und ich war vom Grunde her so blind wie zuvor mit dem Verband. Mit dem einzigen Unterschied, dass ich nicht mehr im Dunkeln tappte. Das Mädchen war inzwischen entlassen, aber ihre Tipps, die waren geblieben und so fand ich mich im Alltag einigermaßen zurecht. Mit der ersten Brille wurde es viel besser. Sie glich zumindest die Sehschwäche meiner Linsen aus, die sich nicht mehr so zusammenziehen konnten, wie es normalerweise der Fall ist. Und man glättete meine Hornhaut, so gut es ging, damit die Lichtbrechung besser wurde. Das Endergebnis war so, dass ich damit zurechtkam. Und damit wurde ich entlassen. Aber die Sehkraft ließ nach. Immer wieder benötigte ich neue Brillengläser. Der Augenarzt riet mir zu künstlichen Linsen, wie man sie bei grauem Star einsetzt und zu einer weiteren Operation an der Hornhaut. Sie würden eine Menge des Narbengewebes abtragen, bis nur noch eine hauchdünne Schicht übrigbleibt, die das Licht besser bricht. Zusammen mit den neuen Linsen... würde ich nur noch eine vergleichsweise normale Brille brauchen. Vielleicht käme ich auch mit Kontaktlinsen zurecht. Aber ich wollte nicht. Und ich will es noch immer nicht. Ich will nicht, dass jemals wieder jemand an meinen Augen rumpfuscht und dabei etwas schiefgeht. Ich komme so klar, wie es jetzt ist."
In der anschließenden Stille war nur mein schneller Atem zu hören. Ich hatte ohne Punkt und Komma geredet und war aus der Puste, als wäre ich die Treppe zu Ians Wohnung hinaufgesprintet, obwohl ich noch immer im Bett lag. Jeder meiner Muskeln war abwehrend verkrampft und ich wartete darauf, dass Ian unweigerlich anfing, mich davon zu überzeugen, wie kindisch meine Weigerung war und um wieviel leichter mein Leben sein könnte, wenn ich einer OP zustimmte.
„Tut mir leid, Anna. Ich hätte nicht noch einmal davon anfangen sollen. Du hast klar signalisiert, dass du nicht darüber reden willst." Ian klang zerknirscht, als er sich nach hinten auf sein Kissen fallen ließ. Langsam lockerte ich meine Muskeln.
„Ich wollte nur... Keine Ahnung." Er schwieg, leises Reiben ertönte rechts von mir, als würde er gedankenverloren mit der Handfläche über seine nackte Brust fahren.
„Es könnte mir egal sein. Wie so viele andere Dinge auch. Aber ich glaube... ich will, dass du es leichter hast. Dass Arschlöcher wie Grayson dir nicht wehtun. Ich will, dass du glücklich bist und tun und lassen kannst, was du willst, ohne dass dir jemand Steine in den Weg legte. Und ich will, dass du einen Führerschein haben kannst. Dass du an Meer fahren kannst, wenn dir danach ist. Ich will, dass du schwimmen gehen kannst, ohne dass ich Angst haben muss, dass du im Wasser die Orientierung verlierst."
Ich presste meine Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Ian war manchmal unheimlich, wenn er es schaffte, meine geheimsten Wünsche auszusprechen. Wünsche, die so geheim waren, dass ich sie nicht einmal selber erahnte.
„Aber es ist am Ende deine Entscheidung. Was immer bei der OP rauskommt, musst du dein Leben danach weiterleben. Und wenn du vor der Sache mit der Hornhautabtragung Angst hast, dann könntest du es trotzdem mit dem Austausch der Linsen versuchen."
Gequält schloss ich die Augen.
„Ian, ich bin kein Auto, wo man mal eben die Zündkerzen tauscht. Linsen tauschen heißt operieren. Sie werden Instrumente benutzen um die Linsen in mein Auge einzusetzen und die alten herauszuangeln. Das kann ich nicht. Allein die Vorstellung, Unmengen Geld zu bezahlen damit jemand in meinen Augen popelt!" Abwehrend schüttelte ich den Kopf. „Nein, danke!"
„Hm. Klingt echt verdammt gruselig, wenn man so darüber nachdenkt." Ian schüttelte sich neben mir wie ein Hund. „Aber falls du es dir anders überlegst, muss es nicht am Geld scheitern, Anna."
„Wie kommst du darauf, dass Geld ein Problem sein könnte?"
Ich hörte das Lächeln in seiner Stimme.
„Deine Kreditkarte war nicht gedeckt. Du hast dir einen Job gesucht, obwohl du studierst."
Ich versuchte unbeschwert zu lachen.
„Viele Studenten arbeiten nebenher."
„Vielleicht hat Stella was erwähnt", seufzte er.
„Ich habe genug Geld", sagte ich patziger als nötig.
„Hm. Klar", gab Ian von sich.
„Ja! Ich kann nur gerade nicht darüber verfügen."
„Schon gut, Rotschopf. Ich dachte nur, ich sag dir vorsichtshalber mal, dass es kein Problem sein muss, wenn du mir beim Sex ohne Brille in die Augen sehen willst, wenn wir kommen."
Meine Kehle wurde staubtrocken bei dem Gedanken, Ian dabei in die Augen zu sehen. Ich konnte mir nicht mal vorstellen, mit ihm Sex im Hellen zu haben. Geschweige denn das andere.
„Gute Nacht, Ian!"
Mein Versuch zickig zu klingen, scheiterte kläglich, denn meine Zunge klebte vor lauter Nervosität am Gaumen fest und verursachte bei jeder Silbe ein klebriges Geräusch. Ian lachte leise und küsste meine Schulter.
„Gute Nacht. Träum schön, Rotschopf."
Ein unwilliges „Hmpf", mehr bekam er nicht als Antwort.
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