FÜNFUNDVIERZIG

Auf Wunsch einer Leserin gibt es heute ein Extra-Kapitel. Genießt es :)

Ian wackelte erst zweideutig mit den Augenbrauen und fast erwartete ich einen blöden Spruch. Über verborgene Talente oder sowas. Was er tatsächlich sagte, riss mir völlig den Boden unter den Füßen weg.

„Weil ich total in dich verknallt bin."

Weil er... ach du meine Güte!

Seine Hand gleitet von der Motorhaube um meine Taille. Sanft aber nachdrücklich zog er mich zu sich.

„Und ich will mit Dir zusammen sein, Anna."

Vor Überraschung wusste ich gar nicht, was ich zu all dem sagen soll. Ich hatte das Gefühl in einer Seifenblase zu schweben. Jeden Moment konnte Ian den Finger ausstrecken und sie zum Platzen bringen. Für den Moment hielt er mich nur fest und schob mit dem Knie meine Beine auseinander, damit er Platz hatte, näher zu rücken und legte er sein Kinn auf meine Schulter. Sein Atem war leise und trotzdem überdeckte er alle anderen Geräusche, weil wir uns in diesem Moment verdammt nah waren. Nicht nur körperlich.

Und genau diesen Augenblick suchte sich mein zynisches Bauchgefühl aus, um skeptisch zu werden und den Alarmknopf zu drücken. Wie vielen Mädchen hatte er das schon erzählt, um sie ins Bett zu bekommen?

Aber mein Herz wollte ihm glauben und mein Verstand hob zustimmend den Daumen. Jede Beziehung war immer nur ein Versuch. Bis einer von beiden aufgab und aufhörte es zu versuchten. Statt einer Antwort drückte ich meine Lippen auf Ians angespannten Kiefer, woraufhin er sich merklich entspannte. Offenbar reichte ihm das als Signal und er umarmte mich ein wenig fester, was mich in eine zugegebenermaßen unangenehme Situation brachte: meine Blase drückte gewaltig!

Typisch!

Romantischer Moment. Heißer Typ umarmte nicht ganz so heißes Mädchen. Die Szene flimmerte nicht über meinen Fernseher, ich stecke quasi mittendrin, und konnte es nicht genießen. Weil ich aufs Klo musste. Und hier gab es weit und breit nichts als Dünen und die winzigen Häuschen in ihren handtuchgroßen Vorgärten mit den kleinen Büschen darum herum.

Aber es hilft nichts. Ich konnte hier weder weiter rumstehen. Selbst wenn ich Ian drängte, jetzt sofort nach Hause zu fahren, würde es nicht helfen. Zwei Stunden mit voller Blase?! Keine Chance.

Das ist menschlich!

Obwohl ich mir das einredete, kostete es mich dennoch sehr viel Überwindung, Ian mit dem körperlichen Problem zu konfrontieren und nach einer öffentlichen Toilette zu fragen. Denn auf keinen Fall, nie im Leben, würde ich mich in die Dünen hocken, wenn Ian ein paar Meter weiter am Auto lehnte.

„Öffentliches Klo? Ehrlich? Ich habe keine Ahnung!", sagte er unumwunden und meine Hoffnung sank wie ein alter Kahn.

„Aber ich weiß etwas Besseres. Ohne Plastikspiegel, Metallschüsseln und Uringeruch."

Sein Lächeln war verschmitzt, als er mich zu dem Häuschen direkt hinter der Düne zog und das Gartentor öffnete.

Oh Gott!

Das wurde immer schlimmer! Wollte er jetzt auch noch Fremde mit meinen Bedürfnissen belästigen? Der Weg zur Tür war so kurz, dass ich meine Befürchtung noch nicht zu Ende gedacht hatte, als er schon auf die Klingel drückte. Drinnen blieb alles still und ich hatte keine Ahnung, was ich fühlen sollte. Erleichterung, weil niemand zu Hause war? Panik, weil Ian soeben am Knauf drehte, um die Tür zu öffnen?

„Ian, hör auf, das ist Einbruch! Du... du bist schon vorbestraft!", wisperte ich entsetzt. „Hast du Sehnsucht nach weiteren Vorstrafen?"

Grinsend blickte er mich an.

„Entspann Dich!", flüsterte er. „Das ist kein Einbruch!"

„Ist es wohl! In ein fremdes Haus zu gehen, selbst wenn man nur pinkeln will, ist der Definition nach Einbruch!", widersprach ich.

Sein Lächeln wurde breiter. Wäre die Situation eine andere würde ich seinen Gesichtsausdruck als unwiderstehlich beschreiben. Hier und jetzt war es völlig... Unpassend!

Nervig!

Eingebildet!

Überheblich!

Etwas Silbernes, das er vor meiner Nase schwang, blitzte kurz auf.

„Nicht, wenn ich einen Schlüssel habe, Rotschopf."

Flüchtig drückte er mir einen Kuss auf die Wange und schloss auf.

„Erste Tür rechts. Der Lichtschalter ist innen. Und du darfst mir später danken, dass ich regelmäßig putze."

Während ich den lächerlich winzigen Flur betrat, hatte ich wieder mal den Wunsch, ihn zu schlagen. Wie konnte man sich zu jemandem hingezogen fühlen und gleichzeitig das Bedürfnis haben, ihn zu erwürgen?

Das kleine Badezimmer war blitzsauber und ich konnte nicht behaupten, dass mir ein öffentliches Klo lieber wäre. Es duftete nach Reinigungsmittel und weder auf dem Boden noch auf den Ablagen der Badewanne lag ein Krümelchen. Selbst auf der Lichtleiste über dem Spiegel lag kein Stäubchen. Das wusste ich, weil ich nicht widerstehen konnte, wenn etwas so offensichtlich perfekt war, einen Haken zu suchen.

Als ich das Bad verließ, kam Ian aus einem Raum, der zu meiner rechten lag.

„Sollen wir gleich fahren, damit du dir die Mitschriften heute noch ansehen kannst, oder bleiben wir noch ein wenig und wärmen uns auf?"

Heute war Montag und ich stand in einem winzigen Haus am Meer und hatte völlig vergessen, ein schlechtes Gewissen deswegen zu haben.

„Ich könnte uns Tee machen", schlug Ian vor und damit hatte er mich am Haken. Ich nickte, folgte ihm in den Raum, aus dem er kam.

Das L-förmige Zimmer war das einzige, das es abgesehen vom Badezimmer gab und ich war sofort verliebt. Der Teil, der die Küche bildete, war durch einen Frühstückstresen abgetrennt, vor dem zwei Barhocker standen. Dahinter befand sich eine Küchenzeile. Auch hier strahlte alles eine elegante Sauberkeit aus, auch wenn die Einrichtung nicht so hochwertig war, wie in Ians Appartement.

Der zweite Teil des Raumes war ein Schlaf- und Wohnzimmer in einem und das Zentrum bildete die Couch, die unter dem offenen Giebel stand. Auf der Empore die sich an der Rückwand des Badezimmers anschloss, konnte ich ein Bett erspähen. Eines dieser praktischen, die über zwei Schubladen für das Bettzeug verfügten und sich in eine Couch verwandeln ließen. Und ich hätte meine restliche Sehkraft dafür verwettet, so sicher war ich, dass man aus dem oberen Fenster einen Blick über die Dünen bis zum Meer hatte.

Obwohl die meisten Menschen das Haus als Puppenstube bezeichnet hätten, weil es so winzig war, wirkte es für jemanden, der in einem Wohnanhänger aufgewachsen war, immer noch geräumig. Und es gab eine große Dusche mit fließendem Wasser aus einem gigantischen Duschkopf. Ein Luxus, der nicht zu verachten war.

„Wem gehört das Haus?", erkundigte ich mich.

„Meiner Mum und mir." Die Antwort war eher frostig.

„Es ist hübsch", stellte ich fest und ging Richtung Terrassentür. Einige Sandkörner knirschen unter meinen Schuhen. Unmittelbar in Strandnähe kein Wunder.

„Vor allen Dingen ist es klein", fügte Ian nach einer Pause an. „Während Dad den Luxus einer Villa genossen hat, mussten wir hiermit auskommen."

Ich schnaubte. Das Vergleichen war schon immer der Anfang aller Unzufriedenheit. Es würde immer und überall Menschen geben, die mehr hatten. Mehr Geld, mehr Ruhm, mehr Schmuck, mehr Autos, einen größeren Pool, teurere Klamotten. Doch das waren nicht die Dinge, um die es im Leben wirklich ging.

„Es kommt nicht auf die Größe einer Behausung an, sondern darauf, dass man sie mit Liebe und Wärme füllt. Was hilft ein großes Haus, wenn es kalt und leer ist?"

Einen Moment musterte Ian mich unergründlich. Auf seinem Gesicht und in seinen Augen spiegelten sich unendlich viele Emotionen. Dann wendete er sich dem Wasserkocher zu, ohne auch nur einen einzigen seiner Gedanken zu äußern. Aus dem Regal über dem Herd nahm er eine Metalldose in sonnigem Gelb und wenig später zog der würzige Duft von starkem Schwarztee durch das Haus. Allein dieser Geruch wärmte mich, je tiefer ich ihn einsog. Von innen heraus, breitete sich das Gefühl vom Herzen durch den Brustkorb bis tief in meine Eingeweide aus. Wie der Hauch einer tröstlichen Umarmung und der Nachhall aufmunternder Worte. Es war wie ein Echo, das nachschwingt, obwohl man die Worte nicht mehr versteht.

Dankend nahm ich die Tasse entgegen und folgte Ian die steile Treppe nach oben. „Ich hatte das hier nicht geplant. Sonst hätte ich noch das Bett gemacht. Warte kurz, okay?", entschuldigte er sich.

„Kommst du öfter hierher?", erkundigte ich mich, um die Zeit zu überbrücken, die Ian benötigte, um das Bettzeug gegen eine in verschiedenen Blautönen gehaltene Tagesdecke und dazu passende Kissen zu tauschen.

Auf meine Frage hin zuckte Ian mit den Schultern.

„Nicht mehr so oft wie früher. Aber wenn ich nachdenken will, ist es hier perfekt."

„Nachdenken?" hakte ich nach und stupste mit dem Fuß gegen die beiden leeren Whiskeyflaschen, die am Fußende des Bettes standen.

„Würde mich wundern, wenn man mit dem Zeug intus noch klare Gedanken hat."

Mein Ton nur nur halb scherzhaft und Ians Miene überhaupt nicht. Todernst wie in diesem Moment hatte ich ihn noch nie erlebt. Das Schweigen zwischen uns dehnte sich und ich versuchte den Drang zu unterdrücken, unbehaglich auf der Tagesdecke herumzurutschen. Stattdessen umklammerte ich den Teebecher fester.

„Vielleicht komme ich nicht nur zum Denken her. Sondern um wieder etwas zu fühlen."

Meine Reaktion entsprach sehr genau dem Klischee eines überforderten Mädchens. Ich schluckte, starrte Ian an, folgte seinem Blick zum Meer, brachte dabei aber kein Wort raus. Es war als würde zwischen meinem Herzen, das für Ian blutete, meinen Gedanken, die sich Horrorszenarien über Ians Vergangenheit erdachten und meinem Mund, aus dem Worte des Trostes kommen sollten, keine Verbindung bestehen. Eine Schlinge aus Angst schnürte mir die Kehle zu. Angst, das Falsche zu sagen oder zu tun. Gerne hätte ich behauptet, es wäre die Sorge, ihn weiter zu verletzten, die mich schweigen ließ. Dabei war es meine Angst, er könne meine Hilfe zurückweisen und mich mit seiner Ablehnung verletzen. Es war nur mein dummer Selbstschutz der mich mundtot neben ihm sitzen ließ. Ich sah, wie er litt und war unfähig, ihm zu helfen.

„Mit dir ist es leichter zu fühlen", sagte er nach einer Weile. „Wenn du bei mir bist, sind all die Gedanken in meinem Kopf leiser. Als du an meinem Geburtstag mit mir getanzt hast, waren sie zum ersten Mal seit Jahren still."

Ohne nachzudenken, stellte ich die Tasse auf dem Nachtkasten ab und sah ihn an.

„Dann tanz mit mir", flüsterte ich leise und nahm ihm seine eigene Tasse ab.

Seine Augen suchten meine. Voller Dankbarkeit. Und Zuneigung. Ich war sicher, noch nie hatte mich jemand so angesehen wie er.

Er legte seine Arme um mich, zog mich an sich. Seine Hand lag auf meinem Rücken so tief, dass es unanständig war und eine tiefe Sehnsucht weckte, berührt zu werden. Nicht nur körperlich. Leise begann Ian zu summen. Tränen stiegen in meine Augen. Ich kannte dieses Lied. Es war „You look perfect" von Ed Sheeran und wir hatten an seinem Geburtstag dazu getanzt. Während Ian leise den Refrain sang, kullerten Tränen haltlos über meine Wangen. Dass er ausgerechnet diesen Song wählte, tat mindestens so weh wie die Tatsache, dass er den Text perfekt auswendig wusste, auch wenn er nicht alle Töne zu hundert Prozent traf.

„Bringe ich dich etwa zum Weinen?", seufzte er. „Was mache ich nur falsch?"

„Nichts", schniefte ich und lehnte meinen Kopf gegen sein Schlüsselbein. Sein Brustkorb vibrierte an meiner Wange, weil er leise lachte.

„Wenn Stella auf diese Art 'nichts' sagt, bekomme ich jeden Augenblick etwas an den Kopf geworfen. Schuhe, Bücher, alte T-Shirts, einen Globus..."

Gegen meinen Willen musste ich grinsen und sah zu ihm auf.

„Stella hat einen Globus nach dir geworfen? Was hast du angestellt?"

Ians Lächeln war wie immer umwerfend.

„Sagen wir, ich hatte es verdient." Mit dem Daumen wischte er eine Träne fort.

„Du bist wunderschön, Anna. Selbst dann, wenn du weinst." Sanft küsste er meine Stirn. „Ich wünschte nur, es wäre nicht ich gewesen, der dich dazu gebracht hat. Willst du mir nicht sagen, was dich bedrückt?"

Einen Augenblick zögerte ich. Wenn ich ihm offenbarte, was mich störte, dann machte mich das verletzlich. Sich zu öffnen bedeutete immer ein Risiko. Ein Wagnis, das er eingegangen war, als er preisgab, dass er zum Nachdenken herkam. Oder als er mir gestand, er würde mich mögen. Oder zugab, dass er gerne mit mir getanzt hatte. Er hatte mich hinter seine Schutzmauern blicken lassen und nun war es Zeit, einen Teil meiner eisernen Rüstung ebenfalls fallen zu lassen. Nicht gleich das Kettenhemd, aber zumindest den Brustpanzer.

„Es ist nur... wegen dem Lied. Du hast es an deinem Geburtstag für Nora ausgesucht und jetzt zum zweiten Mal dazu zu tanzen, fühlt sich nicht richtig an."

Ian hielt mit dem Summen inne.

„Du glaubst, ich hatte geplant, mit Nora an meinem Geburtstag zu tanzen? Dann hältst du mich für einen besseren Kerl, als ich es bin, Rotschopf."

Mit dem Zeigefinger hob er mein Kinn und sah mir tief in die Augen.

„Nein, dieses Lied habe ich für dich ausgewählt. Weil du an diesem Abend perfekt ausgesehen hast in Nates Hemd. Am liebsten hätte ich es dir ausgezogen und dir mein eigenes übergestreift, weil es mich verrückt gemacht hatte, dass es seins war. Ich war eifersüchtig, Anna. Auf ein Van-Laack-Hemd!"

Er grinste mich ein bisschen schief an.

„An dem Abend ist es passiert. An dem Abend habe ich mich in dich verliebt. In dem Moment, als deine Augen nicht mehr durchs Zimmer gehuscht waren, sondern bei mir geblieben sind. Auch wenn du mich nicht gesehen hast, hatte ich das Gefühl, dass du mich erkennst."

Inzwischen umschlossen seine Hände mein Gesicht und seine Lippen näherten sich. Sein Atem mischte sich mit meinem. Zumindest dachte ich es. Vielleicht hatte ich aber auch aufgehört zu atmen, als er gesagt hatte, er hätte sich verliebt. Leicht legte er seine Lippen auf meine, küsste mich. Erst sanft, dann heftiger. Seine Hände vergräbt er in meinen Locken, seine Zunge teilte meine Lippen und strich langsam und zurückhaltend über meine Zunge.

Dass Küsse so sein können, hatte mir niemand verraten. Oder unsere waren etwas Besonderes. Vielleicht fühlten sich Küsse nicht bei allen an, als wäre man mit einer riesigen Gefühlswelle direkt in Paradies gespült worden. Nichts an dem was Ian tat, fühlte sich schmutzig oder lüstern an. Seine Küsse waren seelenvoll und rein. Nackt. Pur. Ehrlich. Und schmerzlich zu gleich. Ians Küsse ergaben auf so viele Arten Sinn, dass es mich erschreckte. Sie raubten mir den Atem und hauchten mir gleichzeitig Luft zum Leben ein. Luft, um mich zu trauen, wieder zu lieben. Als wir uns voneinander lösten, fühlte ich mich etwas benommen und Ians Augen spiegelten mein seltsames Gefühl der Entrücktheit.

„Ich wünschte, wir könnten noch länger bleiben. Nur du und ich und das Meer. Nur noch ein paar Stunden..."

Mir ging es genauso und als Ian mich bat, die Nacht mit ihm hier zu verbringen, in diesem winzigent Haus voller Erinnerungen, an was auch immer, konnte ich fast nicht widerstehen.

„Ich habe aber nichts zum Anziehen dabei", wendete ich schwach ein. Faktisch trug ich seit über vierundzwanzig Stunden dieselbe Unterwäsche und langsam wurde mir das ein wenig unangenehm.

„Es ist okay, wenn du nacktrumläufst", neckte mich Ian. Seine Augen und das Begehren darin verrieten, dasser das ernster meinte, als sein scherzhafter Ton vermuten ließ und machtenmeinen Körper kribbelig. Nicht nur ein anzüglicher Witz. Er würde es mögen.Trocken schluckte ich, weil ich es ebenfalls mögen würde.

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