FÜNFUNDDREISSIG
Diese Frage begleitete mich durch meinen kompletten Sonntag und lenkte mich zugegebenermaßen von meinen Verpflichtungen ab: Im optimalen Falle meine Mitschriften der vergangenen Tage nachholen und bei der Gelegenheit auch gleich lernen. Nur hatte ich gar keinen Kopf dafür. Ständig schweiften meine Gedanken ab zu dem Traum, der meine übelsten Erinnerungen an Davis wachgerufen hatte.
Am Nachmittag warf ich genervt meinen Stift weg und stopptte die Mitschnitte aus der Vorlesung. Ich brauchte eine Pause. Eine Auszeit, um meinen Kopf frei zu bekommen. Noch dringender benötigte ich saubere Wäsche und einen Job, damit ich meine Schulden abtragen konnte.
Das Beste wäre, statt mich in einen der Tanzsäle zu flüchten und Einsamkeit zu suchen, das Gegenteil zu tun und mich unter Leute zu wagen. Nach einem kurzen Umweg über die Waschküche.
Nach der langen Sitzerei am Schreibtisch protestierte mein Rücken erstmal dagegen, in Kleidung zu schlüpfen und den Wäschekorb unter dem Bett hervorzuziehen. Nach ein paar Metern den Gang hinunter merkte ich schon, wie gut mir Bewegung tat. Eindeutig hatte ich zu lange im Stück an meinem Schreibtisch gesessen. Wenn ich mir viel Mühe gab, schaffte ich es vielleicht sogar, mir einzureden, dass mein Mangel an Konzentration damit zusammenhing, dass ich mir zu wenige Pausen gegönnt hatte. Wenn ich ehrlich war, lagen die Dinge völlig anders. Ian blockierte meine grauen Zellen. Seufzend stopfte ich meine Kleidung in eine der Waschmaschinen, die gerade frei war und startete das Programm. Dann verließ ich den Campus ohne ein wirkliches Ziel zu haben. Was in meinem Hinterkopf lauerte, war eher eine verschwommene Vorstellung, die Stella mir eingeflüstert hatte, als sie vorschlug, mich im Shannon zu bewerben.
Auf das Geratewohl steuerte ich eines der Cafés in der näheren Umgebung an. Als ich die Tür öffnete, empfing mich ein blechernes Klingeln, und eine kühle moderne Einrichtung. Nichts was mir gefiel, trotzdem fragte ich die Bedienung, die meine Bestellung aufnahm, ob noch Mitarbeiter gesucht wurden. Kaugummikauend musterte mich die Dunkelhaarige aus ihren starkgeschminkten Augen.
„Nä, glaub eher nich. Aber komm morgen noch mal. Dann is die Chefin da."
Dankend nickte ich und hinterließ für diese Information ein extra Trinkgeld, das meine Barschaft weiter schrumpfen ließ. Wenn ich nach der Methode weiter vorging, war ich am Ende des Tages pleite und vollgepumpt mit Koffein.
Also änderte ich meine Taktik, betrat die folgenden Cafés, begab mich direkt zum Tresen, holte meine Ablehnung ab und verließ den Laden wieder. Nach dem zehnten Versuch gab ich mich geschlagen. So verlockend die Idee war, meine Kasse als Bedienung mit Gehalt und Trinkgeld aufzubessern: ich war keinen Schritt näher an meinem Ziel und zusätzlich zur Sorge, was Ian wegen des Kusses über mich dachte, plagten mich Existenzängste.
Langsam schlenderte ich zurück zum College, verdrängte das bedrohliche Gefühl des nahenden Bankrotts und genoss bewusst die Strahlen der tiefstehenden Sonne. Auf dem Campus steuerte die Waschküche an, wo ich meine Wäsche in den Trockner stopfte und das wenige, das aufgehängt werden musste, lustlos über bereitstehende Wäscheständer warf. Buchstäblich stand ich wieder dort, wo ich am Nachmittag gestartet war: den Kopf voller Sorgen und mit leeren Taschen in der Waschküche.
On Top war jetzt auch noch mein Magen leer, was einen Zwischenstopp an der Küche unumgänglich machte. Viel gab mein Fach im Kühlschrank nicht her, was über ein Omelett mit ein paar Scheiben Toast und leicht welke Salatblätter hinausging. Doch es machte einigermaßen satt und war bereits bezahlt. Somit gewissermaßen ein Hauptgewinn.
Nach einem schnellen Kontrollblick, dass ich nach dem Essen alles sauber hinterließ, kehrte ich sehr wenig motiviert in das Wohnheimzimmer zurück.
Vom Bett her blickte mir eine aufgekratzte Stella entgegen.
„Du hast Post, Anna!", flötete die Blonde noch bevor ich wirklich „hallo" sagen konnte. Vieldeutig sah sie zum Bett, wo auf meinem Kissen ein weißer Umschlag lag.
Die Handschrift war eindeutig als die von Finn zu identifizieren. Seufzend hängte ich meine Jacke auf. Keine Ahnung, was ich nach diesem nervenaufreibenden Tag davon halten sollte, dass Finn mir schrieb. Er hatte mir eine Stunde vor unserem Date abgesagt. Was wollte er also jetzt noch von mir? Um genau das in Erfahrung zu bringen, pirschte ich mich an den Brief heran. Mein Bauchgefühl schaukelte offenbar selig in der Hängematte und pennte. Es gab nicht den leisesten Hinweis ab, ob ich das Kuvert überhaupt öffnen sollte.
Im Grunde konnte ich ein paar nette Worte vertragen. Das Kuvert konnte aber genauso gut Vorwürfe enthalten, weil Finn rausgefunden hatte, dass ich Freitagabend mit Stella und Ian im Club war, statt Trübsal zu blasen.
„Jetzt komm schon! Willst du denn gar nicht wissen, was er schreibt?", bohrte meine Mitbewohnerin, stand auf und warf sich auf mein Bett, dabei riss sie mir den Brief aus der Hand und presst ihn dramatisch gegen ihre Brust.
„Geliebte Anna", faselte sie mit gesenkter Stimme. „Ohne dich kann ich nicht sein. Verzeih mir den Frevel und werde meine Frau, bis dass der Tod uns scheidet!"
Genervt von ihrem blöden Getue riss ich ihr meine Post aus der Hand.
„Gib schon her", murrte ich und sah zu, wie sich meine Mitbewohnerin auf meiner Tagesdecke ausbreitete und mich voller Spannung beim Lesen beobachtete.
Liebe Anna,
schon seit Freitagabend grüble ich und frage mich, wie ich so zu dir sein konnte. Was ich getan habe, ist unverzeihlich und es tut mir unendlich leid. Glaube mir, wenn ich könnte, ich würde es ungeschehen machen.
Vielleicht ist es Dir wenigstens ein Trost oder eine kleine Genugtuung, zu wissen, dass auch ich keinen schönen Abend verbracht habe, sondern ununterbrochen mit Schuldgefühlen gekämpft habe und es auch jetzt noch tue.
Ich wollte Dich nicht verletzen, das musst du mir glauben, Anna. Mein Verhalten hatte auch nicht im Geringsten mit Dir zu tun, sondern damit, dass ich zu feige bin, mich offen zu Dir zu bekennen und der Welt dort draußen zu zeigen, wie sehr ich Dich mag, obwohl wir uns nicht wirklich kennen.
Nenn mich ruhig einen Feigling oder ein rücksichtsloses und berechnendes Arschloch. Du hast jedes Recht der Welt dazu. Und dass Du nach meiner Aktion nichts mehr mit mir zu tun haben willst, verstehe ich nur zu gut. Ein nettes und freundliches, lebenslustiges Mädchen wie Dich hat jemand wie ich nicht verdient.
Finn
Mit klopfendem Herzen ließ ich den Brief sinken, legte ihn auf dem Kopfkissen ab. Minuten lang starrte ich auf das Papier und die schnörkellose, energische Schrift. Obwohl ich Finn bereits dreimal begegnet war, wusste ich rein gar nichts über ihn. Weder wie er wirklich aussieht, noch was für ein Leben er führte. Diese Briefe lasen sich wie verdammte Horoskope. Sie blieben immer allgemein und oberflächlich, trotzdem schaffte er es mit wenigen Worten, dass ich mir vorkam wie ein Miststück. Ich hatte mir einen Cocktail nach dem anderen reingehauen -vermutete ich- und die Nacht über gefeiert, während er sich Vorwürfe gemacht hatte. Dann musste ich auch noch ausgerechnet bei Ian aufwachen, dem Auslöser für dieses Drama mit Finns Absage.
„Was ein Scheiß!", murmelte ich und hielt Stella den Brief entgegen. Matt platzierte ich mein Kinn in meiner Hand und starrte auf die Decke, während Stella ihrerseits las.
Nachdem Stella geendet hatte, sah sie mich fragend an.
„Und was willst du jetzt machen? Ihm antworten?"
Unschlüssig zupfte ich an meinem Daumennagel.
„Er scheint es ehrlich zu bereuen. Vielleicht können wir, keine Ahnung, einen zweiten Versuch wagen?"
Sicher, ob ich das wollte, war ich mir aber keinesfalls. Umso sicherer war ich mir, dass ich nicht bis ans Ende meiner Tage Single bleiben wollte.
„Und was ist mit Ian?" Die Frage verwirrte mich komplett. Was wusste sie? Hatte er mit ihr über Freitagnacht geredet?
„Was soll mit ihm sein?", fragte ich mit einem leichten Anflug Panik in meiner Stimme.
„Naja ich mein bloß. Willst du ihm dann Finn zu Liebe aus dem Weg gehen?"
Konsterniert sah ich Stella an.
„Wenn dann gehe ich deinem Bruder nicht Finn zu liebe aus dem Weg, sondern mir zu liebe!"
„Natürlich, weil Ian auch sooo schrecklich ist. Wer hat dich am Freitag nach Hause gebracht, als du lattenvoll warst? Ian oder Finn? Denk mal darüber nach!", gab sie schnippisch zurück.
Stellas Augen funkelten mich an und wenn ich mal raten sollte, dann vermutlich, weil sie gerade stocksauer auf mich war. Die Art, wie sie mir den Brief in den Schoß fallen ließ, bestätigte die Vermutung. Dass sie dann auch noch mit mürrischer Miene aufstand, drängte mich vollends in eine Verteidigungsposition.
„Jetzt sei nicht sauer. Ich sage nur, dass ich..." Was denn? „Ich hätte eben auch gerne jemanden", brachte ich meinen Wunsch genau auf den Punkt.
„Na meinetwegen, dann schreib ihm eben!", resigniert warf Stella die Hände in die Luft. „Ich finde, du solltest den Kontakt einfach beenden! Aber wenn ein selbstmordgefährdeter Drückeberger der Mann deiner Träume ist, steh ich dir sicher nicht im Weg!"
Tief atmete sie durch, dann rang sie sich eine freundlichere Miene ab und wechselte abrupt das Thema.
„Ich geh übrigens mit Feli essen. Drüben in der Pizzeria. Kommst du mit?"
Ich brauchte einen Augenblick, bis ich kapierte, dass Stella mit Feli Felicity meint. „Ne, hab grad schon gegessen. Danke. Außerdem bin ich noch immer knapp bei Kasse."
Angefressen sah mich Stella an. Offenbar hatte ich schon wieder etwas Falsches von mir gegeben. Wo der Hund begraben lag, unterbreitete sie mir sofort und ohne zu zögern.
„Das Thema wäre Geschichte, wenn du Ian nach einem Job fragst. Ach, nein. Mist. Das hab ich völlig vergessen! Dem willst du dir zu liebe aus dem Weg gehen!"
Verständnislos schüttelte sie den Kopf und ihre blonden Haare rutschen ihr ins Gesicht. Mit einer energischen Handbewegung schob sie den Vorhang wieder zur Seite.
„Du bist wirklich selten dämlich, Anna. Dir ist doch nicht zu helfen! Erklär mir bitte jemand, warum Ian trotzdem immer wieder versucht, dir näher zu kommen?"
Auf diese Frage hatte ich keine Antwort parat, weil ich bislang nicht den Eindruck hatte, er würde etwas in der Art bezwecken. Ich hatte mehr das Gefühl, er würde es darauf anlegen, mich konfus zu machen mit seinen pausenlosen Stimmungswechseln. Er war mal hilfsbereit und nett, nur Augenblicke später kühl und ablehnend, dann machte er wieder den Eindruck, als würde er nur wegen Stella oder zum eigenen Vorteil mit mir zu tun haben wollen. Dann brachte er mich auch noch ständig mit anzüglichen Kommentaren durcheinander oder verwirrte mich mit unvorhergesehenen Berührungen - wie im Shannon's und im Club - oder, wenn er die Füße stillhielt, brachte ich mich selbst durcheinander, indem ich ihn küsste. Dann durchfuhr es mich wie ein Blitz und wie vom Donner gerührt sah ich Stella an. Wenn meine Erinnerung nicht so verwaschen wäre. Wenn ich genauer wüsste, wo die Linie von Traum und Wirklichkeit verlief. Hatte er auf der Treppe wirklich behauptete, er würde mich gerne küssen?
„Er macht das nur deinetwegen, Stella", zitierte ich Ian und hielt mich damit an Dinge, die ich sicher wusste.
„Weil er glaubt, dass du mich magst und er deswegen nett sein will."
„Den Müll hat mein Bruder von sich gegeben?" Stella riss die Augen auf. „Euch beiden ist nicht mehr zu helfen!"
Nun setzte sie sich wieder neben mir auf das Bett. Eindringlich sah Stella mir in die Augen.
„Jetzt mal im Ernst, Anna. Ian tut nichts, was er nicht will. Nicht der Ian, den ich kenne. Bevor du etwas entscheidest, was du nicht mehr ändern kannst, denk erstmal kurz nach."
Ergeben nickte ich und Stella drückte mein Knie.
„Dann ist ja gut. Warte nicht auf mich. Es kann später werden."
Sie gab mir einen Kuss auf die Wange und wischte zur Tür hinaus. Mich ließ sie maximal verwirrt zurück. Was diesen Aspekt anging, waren die O'Briens sich überraschend ähnlich.
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