FÜNF

Am nächsten Morgen klingelte mein Wecker zwanzig Minuten eher. Mein Bedarf, zu spät zu kommen, war für dieses Semester gedeckt.
Diesmal ging mein Plan auf: Ich saß in keinem Hörsaal weiter hinten als in der dritten Reihe und kein nerviger Ire machte mir meinen Platz streitig. Ian tauchte nämlich in keiner Vorlesung auf und dafür schlug ich drei Kreuze.
Nach dem Unterricht ließ ich mich auf das Bett fallen und öffnete den Umschlag, der im Erdgeschoss in meinem Postfach gelegen hatte. Bevor ich mehr als die ersten Zeilen las, setzte ich mich erstmal wieder auf. Im Liegen konnte ich den Inhalt nicht verdauen.

Liebe Brianna,
bitte verzeih mir meine Neugier. Obwohl er nicht an mich gerichtet war, habe ich Deinen Brief gelesen. Sei versichert, dass mich Deine Worte sehr berührt haben und sie bei mir sicher sind. Ich werde ohnehin nicht mehr viel Gelegenheit haben, jemandem davon zu erzählen, bevor ich dem Leben, das ich führe ein Ende setze.
Mir war es nur ein großes Anliegen, Dir vorher zu schreiben und Dich zu ermutigen, dort Wege aus der Dunkelheit zu suchen, wo ich immer wieder scheitere.
Kämpfe für Dich. Kämpfe für das, was Dir wichtig ist und was Dir am Herzen liegt. Erwarte nicht, das andere Deine Kämpfe für dich ausfechten. Erwarte nicht, das andere Licht in Dein Dunkel tragen. Ich habe mich in meinem Leben viel zu sehr von anderen und deren Urteil leiten lassen. Habe nicht auf meine innere Stimme gehört und wenn sie noch so laut geschrien hat. Bis sie heiser wurde und schließlich vollends verstummte.
Heute wünsche ich mir diesen emotionalen Kompass zurück, den ich aufgegeben habe für ein wenig Anerkennung anderer. Ich dachte, wenn ich beliebt bin, würde ich mich weniger einsam fühlen. All meine Sorgen würden sich in Luft auflösen, wenn ich nur die richtigen Freunde finde.
Freunde habe ich mittlerweile viele. Bin beliebter als je zuvor. Weniger einsam hat mich das nicht gemacht. Ich fühle mich leer. Ausgebrannt.
Wenn Du Dir nur immer treu bleibst, dann hast Du den stärksten Verbündeten in Dir. Andere brauchst du nicht. Hab keine Angst. Vor nichts. Vor niemandem.
Wenn Du tanzen willst, Anna, dann tanze. Auch für mich, wenn ich es nicht mehr kann.
Wenn Du träumen willst, dann träume. Auch für mich, wenn ich es nicht mehr kann.
Wenn du lieben willst, Anna, dann liebe aus vollem Herzen. Auch wenn ich es nicht mehr kann.
Sei glücklich, Anna, wann immer Du es kannst. Für Dich. Und vielleicht ein wenig auch für mich.

Finn

Langsam ließ ich den Brief sinken. Was zur Hölle! Ein zweites Mal überflog ich die Zeilen.
Finn.
Kein Absender.
Keine Erklärung, woher er mich kannte.
Das war schon ein bisschen unheimlich. Auf eine stalkermäßige Art.
Ob er gesehen hatte, wie ich den Brief in den Kasten warf? Oder...
Keine Ahnung! Nachdenklich rieb ich über meine Stirn. Es war nebensächlich, woher er mich kannte. Wichtiger erschien mir, rauszubekommen, um wen es sich bei dem Schreiber handelte. Immerhin kündigte er an, seinem Leben ein Ende zu setzen. Oder war das nur eine Metapher?
Falls nicht, war es existentiell, zu verhindern, dass Finn etwas tat, das sich nicht mehr umkehren ließ!
Nachdenken, Anna. Denk nach!
Warum war ich ausgerechnet jetzt, wo ich funktionieren sollte, wie blockiert!
Okay. Mal sehen.
Er hieß Finn. Er schien beliebt zu sein. Er wusste, wer ich bin. Er hatte Zugang zur Post und mir geantwortet. Naheliegend, dass er bei in der Poststelle der Uni arbeitete. Hektisch guckte ich auf die Uhr. Eine Stunde, bis zur Postkastenleerung!
Das musste jetzt flott gehen!

Lieber Finn,
ich muss schon zugeben, Dein Brief hat mich überrascht. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie Du herausfinden konntest, wer ich bin. Ich hatte meinen Brief an „Unknown" nicht einmal mit meinem Namen unterschrieben.

Unschlüssig kaute ich auf meinem Stift. Sollte ich Finn ansprechen auf seine Worte, die für mich klangen, als würde er sich etwas antun wollen oder es übergehen? Irgendwo hatte ich gelesen, dass man solche Ankündigungen immer ernst nehmen musste. Es stellte quasi einen Hilferuf dar. Ich legte meinen Kopf auf die Unterarme und schloss die Augen. Warum passiert ausgerechnet mir sowas? Ich habe die Sozialkompetenz aktuell nicht auf meiner Seite. Schließlich nehme ich meinen Stift wieder zur Hand.

Natürlich mache ich mir große Sorgen um Dich, weil Du schreibst, dass Du das Leben, das Du führst, beenden willst. Ich bin mir nicht sicher, ob Du damit meinst, dass Du Dir etwas antun wirst. Ich weiß nicht, wie ich Dich davon abhalten könnte, da ich nicht die leiseste Vorstellung habe, wer Du bist.
Trotzdem hoffe ich, diese Zeilen erreichen dich auf welchem Wege auch immer, damit du weißt, dass ich durchaus glaube, das andere Licht in unser Leben bringen können. Bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr habe ich in einem Trailerpark gewohnt, weil meine Mum so wenig verdient hat, dass wir uns kein richtiges Haus leisten konnten. Wenn Wirbelsturmwarnungen ausgegeben wurden, mussten wir jedes Mal unseren Wohnwagen verlassen und in einer Turnhalle Schutz suchen. Ich hatte als kleines Mädchen große Angst davor, dass ich mein Zuhause nicht mehr wiedersehen würde.
Aber es gab da diesen älteren Mann, der uns Kinder in der Turnhalle zusammengeholt hat und dann hat er mit uns getanzt. Das hat uns beschäftigt. Uns abgelenkt. Er hat uns ein Licht in dunklen Stunden geschenkt, wenn um uns der Sturm toste und Regen gegen die vernagelten Fenster schlug.
Wenn ich tanzen will, dann soll ich tanzen? Finn, ich WERDE tanzen. Für mich. Und für Dich.
Tu bitte nichts Unüberlegtes. Finde Dein Licht. Tanze auch Du durch Dein Leben. Für mich.
Auch wenn jeder für sich allein tanzt, können wir so vielleicht die Einsamkeit in unseren Herzen vertreiben.
Alles Liebe,
Anna.

Einen Moment ließ ich den Brief wirken. Brillant war er nicht. Aber absolut ehrlich und besser als nichts zu unternehmen. Blieb zu hoffen, dass meine Worte Finn erreichten. Nicht nur körperlich, sondern auf anderer Ebene.
Ich stopfte den Brief in einen Umschlag und schrieb „Finn" darauf. Mit dem Kuvert in den Händen rannte ich die Treppe runter. Atemlos stand ich am Briefkasten und warf den Brief ein. Kurz vor knapp. Die Leerung war in zehn Minuten.
Nervös wartete ich auf den Postdienst und stellte enttäuscht fest, dass eine grauhaarige Frau mit einem großen braunen Sack in der Hand auftauchte und kein Finn.
Dennoch nahm ich allen Mut zusammen, was etwa der Menge entsprach, die in einen hohlen Zahn passte, und sprach die Fremde an. „Entschuldigung. Sie arbeiten in der Poststelle, oder?"
Sie schmunzelte und hob den Postsack hoch. „Offensichtlich!"
„Dürfte ich sie fragen, ob in der Poststelle ein Finn arbeitete?"
Einen Augenblick überlegte sie. „Und das möchte wer wissen?"
„Anna. Mein Name ist Anna Sullivan."
„Was soll ich sagen, Anna? Es gibt so etwas wie Datenschutz. Aber falls es einen Finn gibt, dann werde ich ihm gerne ausrichten, dass du nach ihm gefragt hast und ihn bitten, sich bei dir zu melden.

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