EINUNDZWANZIG

Ian und ich in einem Bett. Bei Tageslicht betrachtet, war die Konstellation wirklich mehr als merkwürdig. Wenn ich nicht völlig falsch interpretierte, was ich sah, und das war ohne Sehhilfe leider absolut möglich, lag besagter Typ zusammengerollt auf dem Bett. Oben ohne, aber er trug seine Jeans noch. Gestern Abend hatte ich mir darüber wenig Gedanken gemacht. Im Augenblick fand ich den Umstand jedoch beruhigend.

Vorsichtig setzte ich mich auf und verzog das Gesicht. Besser als gestern fühlte sich meine Schläfe nicht an. Gott, dieser Tanzlehrer, dieser Grayson, hatte den richtigen Riecher: Ein Blindenhund wäre eine Überlegung wert. Aber erst, wenn ich angezogen war. Am Fußende ertastete ich meine Jeans und schwang die Beine zur Seite. Klirrend zersprang eine Flasche und beißender Alkoholgeruch verteilte sich im Zimmer.

Ian fuhr hinter mir auf.

„Was zur Hölle!", brüllte er erschrocken.

„Die Wodkaflasche. Ich hatte sie gestern neben das Bett gestellt", versuchte ich zu erklären.

„Wie kann jemand, der solch ein Tollpatsch ist, so gut tanzen wie du?", grummelte Ian hinter mir.

„Keine Ahnung, ich..."

Weiter kam ich nicht, denn Ian packte mich an den Hüften und zog mich mit Schwung zurück ins Bett. Mit einem erschrockenen Kreischen landete ich halb auf Ians Brustkorb und bevor ich wusste, wie mir geschah, drehte er mich herum und stellte mich auf seiner Seite neben das Bett, wo ich etwas belämmert -und um einen klaren Eindruck von seinem Körper reicher- stehen blieb. Muskulös, aber nicht übertrieben.

„Zieh Dich an. Ich fahr dich heim", brummte er im Vergleich zu gestern sehr kurzangebunden und drückte mir meine Jeans in die Hand.

„Und der Wodka?", wendete ich ein.

„Ist nicht mein Problem. Ich wohn schließlich nicht mehr hier."

„Nicht mehr?", fragte ich dümmlich. Dann fiel mir wie aus dem Nichts ein, dass er mal zu Nora was von sturmfrei gesagt hat.

„Nein. Bin wegen der Sozialstunden aus der Verbindung geflogen."

Nicht nur wegen der Sozialstunden, sondern wegen der Sache die zur Verurteilung geführt hatte, mutmaßte ich insgeheim und beglückwünschte mich, klug genug zu sein, um das nicht laut zu äußern.

„Und wo wohnst du jetzt? Auch im Wohnheim?"

„Nein."

Stumm pfriemelte ich die Knöpfe meines provisorischen Nachthemdes auf, wartete vergeblich auf einen Nachsatz. Als ich begriff, dass Ian mir offenbar nicht verraten wollte, wo er wohnte, drehte ich ihm den Rücken zu und zog schweigend meine Tunika über. Anschließend tastete ich mich an der Kante des Bettes entlang auf der Suche nach meinen Schuhen.

Als ich sie fand, schickte ich einen stummen Fluch zum Himmel. Gott, warum blieb mir nichts erspart? Wie sollte ich die Verschlüsse jemals zubekommen?

Meine langwierigen Versuche quittierte Ian mit einem mürrischen „Na endlich!"

Der Weg die Treppe runter und durch das Haus erwies sich als Höllentrip. Überall lag Zeug auf dem Boden: leere Dosen, Chipstüten, Pizzaschachteln und Flaschen. Alles Dinge, die Ian elegant umging. Die Treppenstufen vorm Haus waren uneben und der Weg bis zur Straße holprig. Allmählich bekam ich Schweißausbrüche.

„Ich hol das Auto", informierte Ian mich. Schon stand ich allein an der Straße, mir meiner Hilflosigkeit mehr als klar bewusst. Wie ging es weiter, nachdem Ian mich am Wohnheim abgesetzt hatte? Wie fand ich mein Zimmer? Wie die Adresse eines Optikers ohne mein Handy oder einen PC zu benutzen und wie kam ich in das betreffende Geschäft?

Die Vorstellung, über Tage ohne Brille klarzukommen, trieb mir neuerlichen Angstschweiß auf die Stirn. Zu Hause in vertrauter Umgebung würde ich über die Runden kommen. Aber keinesfalls hier, nicht ohne Mum. Das war völlig ausgeschlossen.

„Na, komm, steig ein", forderte mich Ian auf. Behutsam umfasste er meinen Ellbogen und dirigierte mich zum Auto, das er in zweiter Reihe geparkt hatte. Blind für meine Umgebung musste ich mich darauf verlassen, dass ein plötzlich wieder mürrischer Ire mich zum Wohnheim brachte. In diesem Moment machte es bei mir Klick.

„Du hast ihn weggeschickt", stellte ich meinen Vorwurf in den schweigenden Raum zwischen Ian und mir.

„Absolut korrekt, Sherlock", murrte er trocken und ohne jede Gefühlsregung.

„Warum?"

Die Antwort auf die Frage blieb Ian mir schuldig.

„Wir sind da", sinde er lediglich und ich fühlte wie mir flau wurde.

Du schaffst das.

Egal wie oft ich diesen Satz im Geiste wiederholte, während ich nach dem Türöffner des Wagens suchte, glaubte ich mir selbst kein Wort. Es war unmöglich.

„Randstein", warnte mich Ian und umfasste wieder meinen Ellbogen. Nach all den knappen und beinahe unhöflichen Antworten war er überraschend sanft, was das anging.

„Nach rechts", dirigierte er mich. Dann öffnete er die Wohnheimtür und ein leises Glöckchen erklang.

Moment.

Glöckchen?

„Wo sind wir?", fragte ich Ian argwöhnisch.

Seine launige Antwort darauf: „In einem Motel. Im Verbindungshaus wollte ich es nicht mit dir treiben."

In meinem Bauch begann es zu glühen und zu brodeln vor Wut.

„Ian!", zischte ich und schüttle seine Hand ab. Ich hoffte, ich starrte ihn böse an und nicht auf blöd unelegant an ihm vorbei. „Hör auf mich ständig mit den Scheißsprüchen in Verlegenheit zu bringen. Reicht es nicht, das ich nichts sehe? Musst du dich über meine Hilflosigkeit wirklich lustig machen?"

Wie so oft in den letzten Tagen war ich von jetzt auf gleich den Tränen nahe. Ian schwieg.

Nachdenklich.

Betroffen.

Vielleicht verbiss er sich auch das Lachen. Was wusste ich schon!

Ian seufzte schwer.

Schwer! Eine Unverschämtheit!

Wenn hier jemand seufzen und schnauben durfte, dann ich. Schließlich musste ich seine Hänseleien ertragen und nicht umgekehrt.

„Wir sind bei einem Optiker, Anna. Was sonst?"

Klar. Was sonst. Ich verdrehte die Augen. Warum sagte er das dann nicht?

„Du brauchst eine neue Brille", fügte er dann an, als wüsste ich das nicht schon längst selbst.

Ein freundlicher Herr begrüßte uns und fragte nach unseren Wünschen. Dann bat er uns, Platz zu nehmen. Nachdem ich von meinem Dilemma berichtet hatte, nahm er mich mit in ein Hinterzimmer und testete meine Augen.

„Wenn ich einen Vorschlag machen darf?", fragte der Optiker und pirschte sich an welches Thema auch immer heran.

„Bitte", antwortete ich schicksalsergeben.

„Da sie jetzt kein Gestell aussuchen können, das ihnen gefällt, würde ich vorschlagen, sie nehmen das Günstigste, das es gibt und kommen dann noch einmal wieder, und suchen sich etwas Hübsches aus, wenn sie klare Sicht haben. Das erste Modell können sie dann im Notfall als Ersatzbrille nutzen, falls ihre wieder zu Bruch geht oder sie diese verlegen."

Über die gestelzte Ausdrucksweise des Verkäufers musste ich beinahe schmunzeln und inhaltlich war sein Vorschlag toll. Nur finanziell nicht. Ohne ihn über dieses nicht unwesentliche Detail zu informieren, stimmte ich pro forma zu. In Ians Beisein wollte ich nicht über meine dünne Kapitaldecke diskutieren.

Nachdem ich meine wackelige Unterschrift unter den Auftrag gesetzt hatte, erkundigte sich Ian, ob ich nicht zur Überbrückung der Zeit bis meine Brille geliefert wurde, Kontaktlinsen kaufen wollte. Seine Idee war charmant und es ehrte ihn, dass er sich über mein Schicksal Gedanken machte. Gleichzeitig waren seine Worte ein Tritt in die Magengrube, ohne dass er es ahnte.

„Das bringt nichts", gab ich ihm matt als Antwort. „Es gibt keine Linsen, die stark genug wären."

„Selbst wenn es nicht perfekt ist, dann ist es wenigstens besser als nichts?" Ich konnte Ian seine Verwirrung anhören.

„Im Falle ihrer Freundin ist besser leider ein Synonym für nichts, Sir", sprang mir der Herr zur Seite, der mich so nett beraten hatte.

„Selbst mit den stärksten Linsen, die ich aktuell auf Lager habe, könnten wir ihre Sichtigkeit nicht so sehr bessern, dass sie vernünftig im Alltag zurechtkäme."

Einen Moment senkte sich Stille über den Laden. Selbst die anderen Kunden schienen die Luft anzuhalten, während Ian die Worte des Optikers langsam verdaute.

„Dann bist du aktuell quasi wirklich blind?"

„Ne, nur massiv sehbehindert. Blind bedeutet ... nicht hell, nicht dunkel. Da ist dann ... nichts", antwortete ich unwirsch.

„Könntest du mich jetzt bitte ins Wohnheim bringen?", würgte ich Ian mit meiner nachgeschobenen Frage ab, als ich hörte, wie er Luft holte, um weitere Informationen zu sammeln.

„Natürlich, Anna. Wie du willst", stimmte er zu und klang dabei betroffen.

„Warum hast du keine Ersatzbrille? Ich meine, wenn du dich ohne nicht zurechtfindest, gehört sowas zur Grundausstattung, oder?", erkundigte Ian sich, kaum dass ich meinen Hintern auf den butterweichen Sitz geparkt hatte. Die Frage fand ich äußerst lästig. Beantworten wollte ich die keinesfalls.

„Anna, ich fahre nicht einen Meter, bevor ich keine Antwort habe!"

Wenn Ian nur halb so stur wie mein Stiefbruder war, dann hatte ich ein riesiges Problem. Oder ich antwortete ihm und hatte meine Ruhe.

„Das, was ich getragen habe, war meine Ersatzbrille. Es war das Vorgängermodell, das ich aufgehoben habe, als ich die stärkere Brille bekommen habe. Ich wollte mir eine neue besorgen, sobald ich genug Geld dafür zusammen habe."

Das ich meine Prioritäten bei der Mittelverteilung auf eine Tagesdecke, Kleidung und Bettwäsche verlegt hatte, unterschlug ich an dieser Stelle.

„Deswegen konntest du den Lageplan nicht richtig lesen?"

Matt nickte ich.

„Können wir dann fahren?"

Statt einer Antwort ließ Ian den Motor an, was ich mal als seine Art der Zustimmung interpretierte. Schweigend fuhr er mich zum Campus zurück. Die kurze Schonfrist bis ich mich wie auf rohen Eiern durch mein Leben tasten musste, genoss ich. Auch das kurze Stück vom Parkplatz zum Wohnheim in Ians schweigender Begleitung zurücklegen zu können, erwies sich als große Erleichterung. Ab dort war ich auf mich allein gestellt.

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