EINUNDSECHZIG
Nach dem Abendessen mit Davis lagen meine Nerven blank. Ich war froh, als ich ihn im vierten Stock bei seinem Gästezimmer abgeliefert hatte und durch überfüllte Korridore zurück zu meinem Zimmer lief. Noch während ich einen Schritt vor den anderen setzte, löste ich den strengen Dutt auf meinem Kopf und rieb über meine schmerzende Kopfhaut, an der die Haare seit Stunden zerrten. Den Haargummi um mein Handgelenk gebunden, griff ich nach dem Türknauf meiner Zimmertür, der sich wie so häufig in letzter Zeit, widerstandslos drehen ließ. Das sichere Vorzeichen, gleich Stella gegenüber zu stehen, wühlte mich nur halb so sehr auf wie am Vortag. Von zwei schlechten Alternativen war sie definitiv die bessere Gesellschaft für den heutigen Abend. Mit ihr musste ich mich wenigstens weder unterhalten noch ihre Sticheleien über mein Betragen, meine Wortwahl, meinen Kleidungsstil oder meinen schlechten Musikgeschmack ertragen. Ich konnte sie getrost ignorieren. Gedankenverloren betrat ich den Raum und blieb wie angewurzelt stehen. Ein breiter Rücken hob sich gegen das Zwielicht ab, das durch das Fenster herein sickerte. Offenbar konnte hier neuerdings jeder kommen und gehen, wie er lustig war. Gestern Davis in meinem Bett, heute war es Ian, der mit vor der Brust gekreuzten Armen vorm Fenster stand und nach draußen starrte.
Der Anblick war nichts, worauf ich gefasst war und ich hatte keine Ahnung, wie ich darauf reagieren sollte. Eine Option wäre gewesen, ihn anzuschreien, er solle verschwinden. Oder ich konnte meine Arme um ihn legen und meinen Kopf in die Mulde zwischen seinen Schultern drücken. Oder ihm in den Arsch treten, sodass er aus dem Fenster flog Tief holte ich Luft und unterdrückte mit Mühe den Drang, die Luft mit einem Seufzen auszustoßen.
„Was machst du hier?", fragte ich möglichst neutral. Immerhin möglich, dass er nur auf seine Schwester wartete.
Allein. Im Dunkeln. Schon klar.
Als Ian meine Stimme hörte, drehte der Angesprochene sich zu mir um. Seine sturmgrauen Augen suchten meine. Tiefe, dunkle Schatten lagen unter seinen Augen und in mir regte sich leise Mitleid. Ohne Zweifel sah er so erschöpft aus, wie ich mich fühlte.
„Können wir reden? Bitte?", fragte er mich, die Hände tief in der Kängurutasche seines Hoodies vergraben.
Das war mal direkt. Seufzend ließ ich meine Tasche neben dem Schreibtisch fallen und rieb mir über die Stirn, die ich ihm jetzt bieten sollte. Nur fehlte mir die Kraft, ihn nach dem nervenaufreibenden Tag mit Davis rauszuwerfen. Auf einen halbherzigen Versuch ließ ich es trotzdem ankommen.
„Mir wäre es lieber, du würdest gehen", entgegnete ich und kreuzte ablehnend die Arme vor der Brust.
„Anna, bitte, lass mich erklären...", begann Ian noch einmal. Abwehrend hob ich eine Hand.
„Da ist nichts zu erklären, Ian. Du hast mein Vertrauen missbraucht."
„Aber du meins auch", konterte er sofort. Mit dieser Aussage erwischte er mich eiskalt.
„Wie bitte? Ich deins?" Bestimmt entgleisten meine Gesichtszüge gerade vor Verblüffung. „Wann hab ich dein Vertrauen missbraucht?"
„Indem du Finn geschrieben hast. Ihm all diese Dinge anvertraut hast, die du mir vorenthalten hast. Ihm hast du viel mehr Raum in deinem Leben gegeben als mir."
Dieser Vorwurf war an Skurrilität nicht mehr zu überbieten. Er konnte wohl kaum Eifersucht auf die Person empfinden, die er selbst erdacht hatte?
„Ihm hast du dich viel mehr geöffnet als mir", schob Ian noch nach und versetzte mich damit erneut in ungläubiges Staunen.
„Und du? Du hast dich mir geöffnet, ja?", fuhr ich Ian an. „Woher stammt dein Auto? Wofür hast du Sozialstunden bekommen? Du bist bestimmt keine Plaudertasche gewesen, das weiß ich sicher! Du hast mit Sicherheit mehr Geheimnisse als ich!"
Abgrundtief seufzte Ian.
„Ich will nicht streiten, Anna. Ich will das mit uns wieder hinkriegen. Hör mir zu. Bitte, Anna."
Er wollte das wieder hinkriegen. Ich schluckte gegen den Kloß in meinem Hals an. Einerseits wollte ich das auch. Gleichzeitig auch nicht. Gott, ich war völlig durcheinander. Tränen stauten sich in meinen Augen und brannten dort. Alles, aber jetzt nicht heulen!
„Kannst du bitte gehen?", fragte ich zittrig.
„Kann ich, Anna. Aber wenn du mich jetzt wegschickst, dann ist das endgültig. Ich werde dir kein weiteres Mal nachlaufen und versuchen mit dir zu reden."
Leise schnaubte ich.
„Du denkst also, du könntest mich schon wieder manipulieren und ich höre dir zu, nur weil du mir drohst? Das ist lächerlich, Ian! Wenn du das mit uns wirklich hinkriegen willst, dann braucht es ein bisschen mehr, als nur unaufgefordert in meinem Zimmer aufzukreuzen und mich unter Druck zu setzen, damit ich dir zuhöre."
„Was erwartest du denn von mir?" Er fuhr sich in einer Geste der Verzweiflung mit der Hand durch die Haare.
„Als erstes gibst du mal deinen Schlüssel ab. Du kannst hier nicht ein- und ausgehen, wie du lustig bist!"
Auffordernd hielt ich Ian die Hand hin. Erst sah er sehr ablehnend aus, dann griff er in seine Tasche. Schwer seufzend fummelte er den Schlüssel von seinem Schlüsselring und legte ihn mir in die ausgestreckte Hand.
„Wars das? Oder noch was?"
„Ich will einen Platz in deinem Leben, Ian. Ich will den echten Ian kennenlernen, bevor ich entscheide, ob ich dir noch mal vertrauen kann."
„Du kennst den echten Ian. Ich bin Finn. Finn ist... das bin ich. Was musst du denn noch wissen?"
„Ich muss wissen, dass es dir ernst ist, Ian. Dass du mir nichts vormachst und mir keine wichtigen Dinge vorenthältst."
Ian verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.
„Wenn du einem Fremden ohne Vorbehalte dein Herz ausschüttest, ist das deine Sache. Ich werde nicht mehr geben, als ich bereit bin, nur weil du glaubst, es fordern zu können!"
Mit Gewalt zwang ich mich dazu nach der Aussprache ins Bett zu gehen und die Augen zu schließen, still zu liegen und das Thema für heute gut sein zu lassen. Ich hatte Ian nicht überzeugen können. Und umgekehrt konnte ich nicht damit klarkommen, dass er gewissenlos mit meinen Gefühlen gespielt hatte. Gut möglich, dass mein Moralbegriff zu engstirnig war. Aber in diesem Punkt, gab es für mich keine Möglichkeit zu Kompromissen. Noch einmal ermahnte ich mich, ruhig zu atmen. Ich musste morgen funktionieren! Ich hatte Vorlesungen zu folgen und abends musste ich noch in die Bücherei und die Rückgaben in die Regale sortieren. Außerdem war da noch Davis, der sicher auch wieder bespaßt werden wollte. Himmel, ich hatte echt keine Ahnung, wie ich das alles bewältigen sollte, wenn ich obendrein unausgeschlafen war!
Am Ende hatte ich Glück im Unglück: als ich am folgenden Morgen aufstand, schüttete es wie aus Eimern und Davis zog sich nach dem Frühstück mies gelaunt in sein Zimmer zurück. Gerne wäre ich seinem Beispiel gefolgt und hätte mich wieder ins Bett gekuschelt. Doch nichts von dem, was ich zu tun hatte, war geeignet aufgeschoben zu werden.
Nach dem Unterricht raffte ich meine Jacke vorne zusammen und drückte mein Gesicht fest in den Schal, dann rannte ich über das Gelände in Richtung Bushaltestelle. Obwohl ich in einem Affenzahn sprintete, bis meine Lunge brannte, war ich patschnass, als sich die Tür des Busses öffnete. Wasser tropfte aus meinen Haaren, auf meiner Sporttasche hatte sich eine Pfütze gebildet. Wie ein nasser Hund schüttele ich mich. Es war zum Gott erbarmen! Konnte ich bitte zurück nach Hause? Dort war der Regen wenigstens warm!
In der Bücherei schlüpfte ich aus meiner nassen Jacke und trocknete meine Haare notdürftig mit Papierhandtüchern aus einem Spender in der Damentoilette. Trotz meiner Bemühungen sah ich aus wie eine getaufte Maus. Selbst meine Schuhe machten schmatzende Geräusche, wenn ich lief und meine Socken waren patschnass.
An der Theke nahm ich mir eine der Plastikwannen, in der die zurückgegebenen Bücher gesammelt wurden, schnappte mir das Desinfektionsspray und eine Rolle mit Einmalpapiertüchern. Einigermaßen lustlos sortierte ich die Bücher, die ich desinfiziert hatte, nach Genre und Alphabet vor und klemmte sie mir anschließend unter den Arm, um sie zu den entsprechenden Regalen zu tragen. Bis auf meine schmatzenden Schritte, war es still in der Stadteilbibliothek.
Linda vom Empfangs- und Ausleihtresen war in ein Buch vertieft. An ein paar Tischen saßen Leser, die Köpfe tief über ihre Bücher gebeugt und hier und da raschelte eine Zeitung. Genug Zeit und Ruhe, um in Gedanken immer wieder das Gespräch mit Ian durchzugehen und zu dem Ergebnis zu kommen, dass seine gestrigen Vorwürfe das Tüpfelchen auf dem i waren. Bis vor ein paar Stunden wollte ich noch verstehen, was ihn bewegt hatte, mich unter falschem Namen zu täuschen, wollte herausfinden, wer dieser Ian war, der gleichzeitig Finn sein konnte. Ihm eine Chance zu geben, sich zu erklären, erschien mir nur gerecht.
Inzwischen war ich an einem Punkt, wo ich auf Gerechtigkeit keinen Dollar mehr gab und auf seine Beweggründe pfiff. Mich interessierte nicht einmal mehr, warum er vorbestraft war und Sozialstunden bekommen hatte. Mir erschien nur noch eins wichtig: Ian endgültig aus meinem Leben zu verbannen. Dazu musste ich nur noch ein letztes Mal mit ihm in Kontakt treten, um ihm sein Geld zurückzubezahlen. Innerlich machte ich drei Kreuze, dass Davis mir den Betrag überwiesen hatte und es keinen Grund gab, länger als notwendig in der Schuld eines gewissen kriminellen Iren zu stehen.
Dank des Regens war die Bücherei den Tag über nicht besonders gut besucht gewesen und mir blieben heute nur wenige Bücher, die eingeräumt werden mussten, worüber ich wirklich froh war. Meine Oberschenkel fühlten sich kalt an in der nassen Jeans und auch meine Füße waren inzwischen Eisklötze, gefangen in durchweichten Schuhen.
Nur widerwillig schlüpfte ich nach der Arbeit in meine noch immer triefnasse Jacke. Den Schal wickelte ich nicht nur um mein Gesicht, sondern bedeckte damit auch meine Haare gegen den Regen und den auffrischenden Abendwind. Selten hatte ich mich so sehr nach einer Wärmflasche und einem heißen Tee gesehnt wie heute.
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