DREIZEHN
„Angeschnallt?", erkundigte sich Ian, nachdem ich diesmal ohne Drohgebärden seinerseits in sein Auto gestiegen war. Ich nickte und ließ mich gegen die bequeme Lehne sinken. Schweigend starrte ich aus der Seitenscheibe, wo sich feiner Nieselregen niederschlug. In Florida hätte ich jetzt in kurzen Hosen am Strand gesessen. Im Norden der Staaten war es schon ungewohnt herbstlich, aber ich fühlte mich noch nicht für die kalte Jahreszeit bereit, obwohl ich dem ersten Schnee mit Aufregung entgegensah.
„Das Video ist noch immer online. Hast du deinem Finn nicht mitgeteilt, er soll es löschen?"
Die Phantasie unberührten Schnees zerstäubte vor meinem inneren Auge.
„Doch", druckste ich. „Hat aber keinen Effekt gehabt."
Kälte breitete sich in mir aus bei dem Gedanken, wie lange es dauern mochte, bis Davis Wind von der Sache bekam.
„Vielleicht bin ich die Sache aber nur falsch angegangen."
„Gut möglich. Was hast du ihm denn geschrieben?"
Nachdem er den Wortlaut meines Briefes gehört hatte, schüttelte er den Kopf.
„Das ist wirklich knappgehalten. Vielleicht wäre eine kurze Erklärung, warum es für dich wichtig ist, eine gute Sache gewesen."
„Das wollte ich auch. Aber das ist nicht so leicht."
Damit beendete ich das Thema schaute stumm aus dem Fenster. Ian erwies sich als hartnäckiger, als gedacht und führte das Gespräch energisch fort.
„Das Leben ist nie einfach, Anna. Es fickt uns an jeder Ecke, wenn wir es zulassen. Wenn du etwas erreichen willst, dann musst du dafür kämpfen. Darauf zu warten, dass dir alles in den Schoß fällt, bringt dich nicht weiter."
Aufmerksam sah ich ihn an.
„Mir ist noch nie etwas in den Schoß gefallen."
Erst als der Satz raus war, merkte ich, wie verbittert und zynisch meine Worte klangen. Ian sagte nichts weiter dazu. Schweigend steuerte er durch die anbrechende Dunkelheit.
„Du bekommst Ärger mit deinen Eltern deswegen, oder?", rät er aufs Blaue hin.
Hellhörig wende ich Ian den Kopf zu. In seiner Stimme schwang etwas, das verdächtig nach Besorgnis klang.
„Nein. Aber mit Davis", gab ich zurück.
Ian runzelte die Stirn.
„Was ist sein Problem? Du wurdest beim Tanzen gefilmt, nicht beim Fremdgehen!"
Befremdet sah ich ihn an und spürte leichte Röte auf meinen Wangen, wie immer, wenn das Thema in diese Richtung ging. Dann fiel mir auf, Ian konnte nicht wissen, wer Davis war. Also klärte ich ihn auf.
„Davis ist mein Stiefbruder, nicht mein Freund."
Ian grinste.
„Hätt ich mir fast denken können, dass du keinen Freund hast", stichelt Ian und ich war dankbar, dass es im Wagen dunkel war und Ian nicht sah, wie peinlich mir das Gespräch langsam wurde.
„Das hab ich nicht behauptet. Ich hab nur gesagt, dass Davis..."
Ian lachte nur über meine lahme Verteidigung.
„Also hast du einen Freund?", bohrte er gnadenlos weiter in der Wunde, die er aufgetan hatte.
„Nein", knurrte ich wie ein gereizter Hund. Wieder lachte er.
„Dann hast du was mit deinem Stiefbruder? Du bist aber wild." Mit großen Augen starrt er mich an. Ich wünschte, er würde das lassen und auf die Straße sehen!
„Nein!", dementierte ich erneut und klang ein wenig hysterisch dabei. Mein Kopf blinkte bestimmt inzwischen wie ein Feuermelder.
„Aber warum glaubst du, hat er dann ein Problem mit dem Film?"
„Weil er mich hasst! Und er jede Kleinigkeit nutzt, um mich fertig zu machen. Er wird das Video mit jedem in der Stadt teilen und dann werden sich wieder alle über mich lustig machen! Sie finden immer irgendwas!"
Meine Augen begannen zu brennen und meine Nase kribbelte verdächtig.
„Kannst du mich hier aussteigen lassen?", bat ich. Das Letzte, was ich wollte, war vor Ian in Tränen auszubrechen. Wer weiß, was sich daraus für Komplikationen ergaben.
Er schüttelte den Kopf und fuhr unbeirrt weiter.
„Wir sind gleich da", erklärte er.
„Bitte, lass mich hier aussteigen. Ich möchte den Rest zu Fuß gehen."
An der Ampel zog ich am Türöffner, ohne Erfolg. Die Tür ging nicht auf. Das Einzige, was geschah, war, dass Ian mich prüfend musterte.
„Bitte", wiederholte ich flehentlich. Was immer Ian in meinen Augen sah, es reichte, damit er sich erbarmte und seufzend nachgab. Er entriegelte die Tür. Den Tränen nahe, flüchtete ich aus der erdrückenden Enge des Wagens.
Kühle Feuchtigkeit benetzte dank des stetigen Nieselns meine brennenden Wangen und ich war froh über die abendliche Luft, die mein Gesicht kühlte.
Mit meinem kindischen Ausbruch hatte ich Ians Vermutung, ich sei zu weich, mit Sicherheit nur bestätigt. Mit schleppenden Schritten betrat ich den Campus und steuerte auf das Wohnheim zu. Der Briefkasten an der Wand neben dem Eingang verhöhnte mich mit einem Grinsen seiner roten Klappe und raubte mir meine letzte Energie. Ich ließ mich kraftlos rückwärts aufs Bett fallen. Meine Füße standen auf dem Boden und mein Rücken protestierte gegen die Stellung.
Wir werden alle nicht jünger!
Ich stützte die Ellbogen auf die Matratze und fixierte den Schreibtisch.
Jetzt, wo ich vor Ian meine Angst einmal ausgesprochen hatte, fühlte es sich nicht mehr so schlimm an, Finn zu schreiben, warum das Video verschwinden musste. Egal wie gut die Choreo war, ich war keine Profitänzerin. Davis würde Schwächen finden und er würde mich an den Ohren durch den Kakao ziehen. Wie immer.
Ich schälte mich aus der feuchten Jacke und warf sie über die Stuhllehne zum Trocknen, dann setzte ich mich an den Schreibtisch und fasste das in Worte, was ich Ian erzählt hatte. Nur formulierte ich es ein wenig sorgfältiger und viel ausführlicher.
Lieber Finn,
Ich hoffe, Du bist wohlauf. Seit dem letzten Brief von Dir ist eine Weile vergangen und habe ich nichts mehr von dir gehört. Das macht mir Sorgen. Nicht nur, weil ich keine Reaktion auf meine Bitte, das Video zu löschen bekommen habe, sondern vor allem, weil ich gerne wüsste, wie es Dir geht.
Wie kurz ich Dich in meinem letzten Brief abgefertigt habe, war nicht richtig und es tut mir schrecklich leid. Meine Worte waren viel zu fordernd. Ich hoffe, du verstehst: ich war in Panik und wusste nicht, was ich wegen des Videos tun soll. Ich dachte, wenn ich meine Bitte schnörkellos und möglichst direkt formuliere, verstehst Du am ehesten, wie brisant die Sache ist. Es sieht jedoch aus, als habe ich mich geirrt, was die Form angeht.
Oder Deinen aufrichtigen Charakter.
Ich glaube fest daran, dass ich meine Bitte nicht im Geringsten rechtfertigen muss. Ich habe jedes Recht der Welt, das zu verlangen. Das musst Du verstehen- auch ohne lange Erklärungen.
Weil Du offenbar nicht begriffen hast, wie wichtig die Sache für mich ist, versuche ich es dieses Mal ausführlicher zu erklären.
Mein Stiefbruder Davis und ich haben kein gutes Verhältnis. Er hasst mich an den meisten Tagen mehr, als sich in Worte fassen lässt. Er lässt keine Möglichkeit aus, um mich zu verletzen und mein Leben in meine eigene Hölle zu verwandeln, nur damit er nicht der Einzige ist, der leidet. Aber manchmal braucht er mich so sehr, dass es wehtut; uns beiden.
Das Schlimme daran ist, dass ich selbst nicht begreife, wie alles so schieflaufen konnte.
Es ist nämlich so: ich habe mir immer Familie ersehnt. Einen Dad, der nicht seinen Träumen nachjagt, sondern zu Hause ist. Eine Mum, die Zeit für mich hat. Geschwister zum Lachen, Spielen und Streiten. Ich habe die anderen Kinder immer um ihre Brüder und Schwestern beneidet und mir einen älteren Bruder gewünscht.
Und bekommen habe ich Davis. Das Problem ist folgendes: er ist quasi der Maserati Levante unter den Brüdern und ich der Fiat 500 der Schwestern. Stell uns beide auf eine Rennbahn, oder in diesem Falle in den Schulkorridor, und du brauchst nicht zu fragen, wer der Verlierer sein wird.
Trotzdem habe ich gekämpft um einen Platz in seinem Herzen. Obwohl ich wusste, dass der Platz der Schwester bereits besetzt ist und er nie einen Hehl daraus gemacht hat. Er hat mir von Anfang an reinen Wein eingeschenkt und mir gesagt, dass wir weder Geschwister sind noch jemals sein werden.
Manchmal hat er es nur selbst vergessen. Und das sind die Augenblicke, die Hoffnungen geweckt haben und tiefe Wunden geschlagen. In meinem Herzen. In seinem. Und in unseren Seelen. Aber auch in meinem Gesicht.
Davis kann das Glück anderer nur sehr schwer ertragen, weil sein eigenes Leben für immer in Scherben liegt. Wenn er das Video sieht, wird er mir die Freude am Tanzen wieder kaputtmachen wollen. Dazu ist ihm jedes Mittel recht. Und schlussendlich wird er wieder selbst verletzt werden, wenn er feststellt, dass ich mir das nicht nehmen lasse.
Daher noch mal meine Bitte: lösch das Video im Netz. Für dich selbst kannst Du es gerne behalten. Nur bitte stell es nicht länger online.
Ich hoffe, zu Dir durchgedrungen zu sein und wünsche mir von ganzem Herzen, das Video spätestens morgen nicht mehr auf YouTube zu finden.
Liebe Grüße, Anna.
Drei Mal las ich den Brief. Einmal sogar laut. Selbst dann fand ich ihn gelungen. Beschwingt warf ich mein Werk in den Briefkasten.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top