DREIUNDZWANZIG

Leises Rascheln weckte mich, riss mich aus einem Traum, den ich kein Blinzeln später nicht mehr entsinnen konnte. Wie erstarrt lag ich da und öffnete orientierungslos die Augen. Mein Herz raste, in meinem Nacken kribbelte es warnend.

Jemand stand mitten in meinem Zimmer.

Dort, wo sonst nichts war, ragte plötzlich eine Silhouette empor. Nicht zierlich wie Stella. Eher wie ein Schrank.

Davis.

Ich schlucke und hielt eine Hand vor meinen Mund, um ein panisches Schluchzen zu verhindern. Ich hätte ihn nicht provozieren sollen. In der Hoffnung, dass er verschwand wie ein böser Traum, kniff ich die Augen zu. Statt sich zu entfernen, kamen leise Schritte näher. Um meine Situation besser einschätzen zu können, öffnete ich die Augen wieder.

Langsam wich der Schlaf und mein Gehirn realisierte, dass Davis unter Umständen die beste Alternative war. Im Vergleich zu Einbrechern, Vergewaltigern und Entführern.

Geh weg! Bitte, geh weg! flehte ich lautlos. Wie es bei meinen Wünschen üblich war, wurden sie nicht erhört. Die dunkle Gestalt überbrückte die letzten Schritte zum Bett und ragte wie eine riesige Statue über mir auf.

„Anna? Bist du wach?"

Rau und dunkel floss die Stimme zu mir herab und im gleichen Augenblick in dem der Schatten sich hinkniete, umfing mich der Geruch nach Zigaretten und Lagerfeuer.

Ian.

Ich nahm die Hand vom Mund und noch bevor ich antwortete, fühlte ich wie sich ein Schluchzer der Erleichterung aus meiner Kehle kämpfte, dann noch einer. Ian, nicht Davis, kniete an meinem Bett.

„Geht es dir nicht gut? Anna, was hast du?" Ians Stimme kippte in eine besorgte Tonlage, ein Wort folgte auf das andere wie aus einem Schnellfeuergewehr, während er versuchte herauszufinden, was los war.

„Hast du Schmerzen?"

„Nein", hauchte ich. Ich war so aufgewühlt, dass ich kaum die nächsten Worte herausbringe.

„Ich dachte nur, du wärst jemand anders. Was machst du hier?", presste ich schwach hervor.

Sanft strich Ian meine Haare zur Seite.

„Stella hat mich angerufen, weil sie heute nicht nach Hause kommt. Sie hat sich Sorgen gemacht und mich gebeten nach Dir zu sehen."

Obwohl Ian sehr sanft sprach, fast wie mit einem scheuen Pferd, flatterten meine Finger noch immer. Ian bemerkte es und nahm meine Hände zwischen seine viel größeren. Die Wärme seiner Haut war tröstlich.

„Du zitterst, Anna", stellte er scharfsinnig fest.

„Vor wem hast du solche Angst? Belästigt dich jemand? Etwa Finn?", erkundigte er sich grimmig. Von seinem Standpunkt aus eine logische Schlussfolgerung. Finn war der einzige Student, den ich außer ihm und seiner Schwester näher kannte.

„Nein, nicht Finn. Er war zwar heute hier. Aber vor ihm hab ich keine Angst. Er ist... nett. Er hat mir Kaffee gebracht."

Ein belustigtes Schnaufen später sagte Ian: „Kaffee ist also nett? Gut zu wissen, falls ich mal ein Mädchen richtig beeindrucken will." Sein Daumen streichelte über meinen Handrücken, bevor er meine Hände losließ.

„Und hast du inzwischen eine Täterbeschreibung für mich?", neckte er mich, aber da klang noch etwas anderes mit, das ich nicht einordnen konnte.

„Er hat braune Augen, dunkle Haare, im Nacken sehr kurz und an oben etwas länger. Kleine abstehende Ohren und breiten Kiefer", begann ich und zählte alles auf, was ich herausgefunden hatte. Mit seinen weichen Lippen schloss ich meine Beschreibung.

„Dir ist schon klar, dass ich das weiß, Anna? Im Gegensatz zu dir hab ich ihn wirklich gesehen. Ich frage mich nur, wie du das urplötzlich rausgefunden hast? Sag bloß du hast ihn gefragt!"

Auf einmal war es mir unglaublich peinlich, darüber zu sprechen, wie ich Finn berührt hatte. Das war eine Privatangelegenheit. Etwas nur zwischen Finn und mir, das uns verband. Und ich woltte, dass dieser Augenblick nur mir allein gehörte.

„Ist doch egal wie. Du wolltest eine Beschreibung. Jetzt hast du sie. Merk sie dir gut, falls ich Freitag nicht nach Hause komme."

„Freitag?" Ian klang verwirrt.

Ich konnte mir ein glückliches Grinsen nicht verkneifen. Wahrscheinlich sah ich total dämlich aus. Nur gut, dass es dunkel war.

„Genau. Freitag. Er hat mich nach einem Date gefragt", erzählte ich Ian nicht ohne Stolz.

„Ein Blinddate mit einem Unbekannten? Auf so was stehst du, Anna?", witzelte Ian und entlockte mir ein Lachen. Langsam fühlte ich mich ruhiger. Ein wenig zuversichtlicher.

„Ich hoffe schwer, dass meine Brille bis dahin fertig ist. Sonst muss ich mir doch Kontaktlinsen besorgen."

„Mir wäre es lieber, wenn du nicht ohne Brille gehen würdest", ließ Ian zu meiner Verwunderung verlauten und stand auf. „Du solltest dir diesen Typen genau ansehen, damit du weißt, worauf du dich einlässt. Glaub mir Anna, der ist..." Er brach ab und schüttelte den Kopf.

„Ich gebe Stella Bescheid, dass sie sich keine Sorgen machen muss und alles okay ist. Mal abgesehen von deiner kurzen Panikattacke", informierte er mich und ich war ehrlich erleichtert, dass Ian das Thema fallen ließ. Ich wollte jetzt nicht über Ians Bedenken sprechen. Ich wollte noch ein wenig in dem Gefühl schwelgen, dass sich jemand sich für mich interessierte und mich interessant genug fand, um mich einzuladen. Kurzfristig stolperte ich über ein nicht unerhebliches Detail, das mir bisher entgangen war.

„Danke, dass du dir meinetwegen solche Mühe gemacht hast", sagte ich kleinlaut.

„Bild dir mal nichts ein, Rotschopf. Hab ich für Stella gemacht."

Blicklos starrte ich an die Decke. Für Stella. Was auch sonst? Obwohl dieser Umstand sonnenklar war, seit er mir erzählt hat, sie käme heute nicht nach Hause und mache sich Sorgen, frustrierte mich seine Erklärung. Warum musste er denn die Tatsache, wie nebensächlich ich war, extra unterstreichen? Das war wie nachtreten, wenn jemand bereits am Boden lag.

Andererseits sollte ich nicht undankbar sein. Ian wäre nicht hier aufgekreuzt, wenn ich Stella egal wäre. Dass ich eine so aufmerksame Mitbewohnerin hatte, die sich um mich Gedanken machte, war schön. Ein warmes Gefühl breitete sich bei der Erkenntnis in mir aus und ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Womöglich war ich auf dem Weg, eine Freundin zu finden?

Am nächsten Morgen fiel mir mein Lächeln nach kurzer Zeit aus dem Gesicht. Alles, was ich anfasste, ging schief, selbst so alltägliche Dinge wie Bröselkaffee mit Wasser zu übergießen oder Toast mit Marmelade zu bestreichen. Meine Frustschwelle war kurz nach Mittag bereits um Längen überschritten und mir wurde klar, wie hart die nächste Woche werden würde. Was mich daran am meisten ärgerte, war, dass ich selber schuld war. Ich hatte gewusst, wie dringend ich eine neue und stärkere Brille brauchte, aber hatte alle Folgen, die ein Verlust meiner Sehhilfe mit ich brachte, gewaltsam verdrängt. Nicht nur das. Ich hatte auch keinerlei Vorkehrungen getroffen, die mir im Fall der Fälle mein Leben erleichterten. Zum Beispiel die Nummern von Lieferdiensten ins Handy einspeichern. Oder meine Kleidung bereits in passenden Sets auf den Bügeln aufzuhängen. Oder mir die Anzahl der Schritte bis zum Klo oder in die Küche einzuprägen. Von den verwirrenden Wegen über den Campus wollte ich gar nicht erst anfangen. Ich saß bis zum Hals in der Scheiße, würde mein Granpa sagen. Und das nur, weil ich Davis aus meinem Leben tilgen wollte und neu anfangen. Da sah man mal, wie hervorragend meine Pläne waren! Ich musste Davis sogar anrufen, weil ich lieber eine Tagesdecke als ein Brillengestell erworben hatte. Vor lauter Frust biss ich in meine Faust, um mich davon abzubringen zu heulen und die besagte Decke über den Kopf zu ziehen.

Dann raffte ich mich auf, betrat den Schrank und versuchte mit viel Aufwand, meine Outfits für die folgenden Tage zusammenzustellen. Auf allen vieren beugte ich mich schließlich über meine Schuhe, um zu erkennen, welche die waren, die ich Montag zu meiner schwarzen Jeans anziehen wollte.

In dieser Position traf mich Stella an. Mein Hintern ragte steil in die Höhe und mein Nase klebte beinahe auf dem Boden, während ich ertastete, was ich vor mir hatte.

„Kann ich helfen?", erkundigte sich die Blonde und ihre Stimme bebte von ihrem unterdrückten Lachen.

Ich ließ meinen Hintern auf die Fersen sinken und sah zu ihr hinauf.

„Jepp. Kannst du. Schick deinen Bruder nie mehr nachts in unser Zimmer. Ich bin fast gestorben vor Schreck!", wies ich sie zurecht.

Sie sank neben mir zu Boden.

„Mir erschien die Idee gut", erklärte sie zerknirscht. „Vor allem, weil er einen Schlüssel hat. Für den Fall, dass du bewusstlos bist oder so."

Sie legte mir einen Arm um die Schulter und drückte mich kurz.

„Wie soll ich ahnen, dass du Ian für einen Axtmörder hältst!", verteidigte sie sich belustigt.

„Aber jetzt sag mal, was wird das hier? Warum krabbelst du über den Boden?"

Geduldig erklärte ich ihr, dass ich morgens zu lange brauchte, um alles zusammenzusuchen, was ich zum Anziehen brauchte und gleichzeitig sicherstellen wollte, dass ich am Freitag noch ein Outfit für mein Date hatte, das nicht nur aus einem Hoodie und einer Leggins bestand. Waschen, wenn man nicht sah, was man in die Maschine legte, gehörte zu den schwierigeren Aufgaben. Und Bügeln war vollkommen ausgeschlossen, bis ich die neue Brille hatte.

„Echt clever, Anna", lobte Stella mich und ich hörte, wie sie die Bügel über die Stange schob, um meine Kreationen zu begutachten.

„Auf die Idee muss man mal erst kommen."

„Ich hatte eine Weile gar kein Sehvermögen. Da muss man sich anders behelfen. Man kann nicht wegen jedem Mist nach der Schwester klingeln."

„Verstehe", kam es von ihr. Ich glaubte ihr auch, dass sie meinte, es zu begreifen, selbst wenn sie mein Problem nicht wirklich ermessen konnte.

„Das ist für Freitag?", wollte sie wissen und ich nickte beklommen.

„Zu viel des Guten?", erkundigte ich mich nervös.

„Nein, gar nicht. Es ist unglaublich hübsch. Finn wird sabbern, wenn er dich sieht. Das dunkle Grün passt perfekt zu deiner hellen Haut und deinen Haaren. Ich glaube, ich habe sogar noch Lidschatten in dem Ton. Fast völlig unbenutzt. Ist leider gar nicht meine Farbe. Wenn du magst, kannst du ihn gerne haben."

„Das wäre toll", behauptete ich, obwohl ich befürchtete, dass es verschwendete Mühe war. „Und falls du irgendein Wundermittel

hast, mit dem man das verschwinden lassen kann..." Mit dem Zeigefinger tippe ich auf meine Wange.

„Wir können es mal versuchen. Versprechen kann ich aber nichts. Ich besorge bis Freitag mal Camouflage-Makeup in deiner Farbe, meine Farbtöne sind für dich viel zu dunkel."

„Vielleicht können wir vom Hausmeister weiße Wandfarbe bekommen?", schlug ich vor und Stella lachte kurz auf.

„Ian hat recht. Manchmal bist du einfach zu ulkig!"

Dass Ian und seine Schwester über mich gesprochen hatten, war mir sofort unangenehm. Tatsächlich fragte ich mich, was Ian genau über mich erzählt hatte. Zu fragen traute ich mich nicht, selbst wenn ich fast sicher war, dass Stella mir das eine oder andere verraten hätte. Nur war ich nicht sicher, ob es sich dabei um Dinge handelte, die ich hören wollte.

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