DREIUNDSIEBZIG

Montag stand ich mit einem etwas erleichterten Gefühl auf. Gerne hätte ich mir etwas anderes eingeredet, aber die Wahrheit war, mich nicht weiter zu sperren und wieder mit Stella zu reden hatte gutgetan. Nach einer viel zu kurzen Nacht quälten wir und am Morgen aus dem Bett, machten uns fertig. Im Gegensatz zu meiner Mitbewohnerin machte ich mich jedoch nicht auf den Weg in die Vorlesung, sondern überquerte den Campus mit dem Ziel, das Büro aufzusuchen. Nicht als einzige, musste ich feststellen. Zähneknirschend reihte ich mich hinter den Wartenden in der Schlange ein. Unaufhörlich verrannen die Minuten, die ich viel lieber bei Dr. Whigs im Unterricht verbracht hätte. Als ich endlich an den Tresen trat, war bereits eine geschlagene halbe Stunde dahin.

„Guten Morgen", wünschte ich der Sekretärin, die daraufhin ein mürrisches Gesicht zog.

„Eher kein guter Morgen. Grippe, Magen-Darm, Beerdigung, Husten, Bronchitis, Hochzeit. Und das alles Montagmorgen um kurz nach acht."

Sie seufzte.

„Was hindert sie, den Unterricht zu besuchen?"

„Ich möchte mich ab Mittwoch für zehn Tage krankmelden."

Ein weiteres Seufzen, dann ein prüfender Blick durch ihre Brille.

„Das geht nicht."

„Aber ich bin ab Mittwoch für vier Tage im Krankenhaus und kann im Anschluss die Vorlesungen noch nicht sofort besuchen."

„Das verstehe ich Miss. Aber Krankwerden mit Ansage, sowas gibt es nicht. Wenn sie im Voraus bereits wissen, dass sie sich in Behandlung begeben, müssen sie sich nicht krankmelden, sondern befreien lassen. Ihr Name?"

„Sullivan. Anna Sullivan."

Die Sekretärin nickte, tippte, dann schüttelte sie den Kopf.

„Ich bedaure, Mrs. Sullivan. Aber ich kann sie nicht für zehn Tage befreien. Das wären dann acht versäumte Unterrichtstage plus drei Unterrichtstage, die sie vergangene Woche wegen Erkältung gefehlt haben summieren sich auf elf Fehltage. Erlaubt sind pro Semester aber nur insgesamt zehn, sonst gilt es als unbelegt."

„Aber ich fehle nicht. Ich bin im Krankenhaus und werde krankgeschrieben. Und die Grippe war auch keine Jugendfreizeit, sondern Krankentage?"

„Krank sind sie dann, wenn sie krankgeschrieben sind. Für die drei Fehltage haben sie kein Attest vorgelegt. Somit sind sie eben nicht krank, sondern fehlend. Und wenn sie für einen Notfall ins Krankenhaus müssen, dann gilt das selbstverständlich als Krankheit. Geplante OPs sind im Vorfeld zu genehmigen und gelten als Fehltage, denn es ist ihre freie Entscheidung, die OP nicht in die Semesterferien zu legen."

„Aber der Arzt ist dann im Ausland. Ich kann mich nur am Donnerstag operieren lassen."

„Mrs. Sullivan, es mag sein, dass sie beinahe einzigartig sind, weil sie in einem Zirkuswagen aufgewachsen sind und ständig in diesem Hippieoutfit rumlaufen. Aber glauben sie mir, in Amerika gibt es tausende Ärzte, die ihr Handwerk bestens verstehen. Und mit Verlaub: Sie, Mrs. Sullivan, sind nicht so einzigartig, dass es ein anderer nicht auch könnte."

„Sie verstehen das nicht. Es ist für mich..."

„Mrs. Sullivan. Ich glaube eher, sie verstehen mich nicht. Ich kann sie nicht für zehn Tage beurlauben."

„Dann beurlauben sie mich eben für drei Tage und dann lasse ich mich vom Augenarzt krankschreiben."

Die Frau nahm ihre Brille ab und wischte über ihre Augen.

„Mrs. Sullivan, das Problem ist, dass ich weiß, dass sie einen Eingriff planen. Somit sind mir jetzt die Hände gebunden. Ich kann ihnen sieben vorlesungsfreie Tage genehmigen. Mehr nicht. Wenn das nicht reicht, empfehle ich Ihnen dringend, die Sache zu verschieben."

Wütend warf ich die Hände in die Luft.

„Gott, dann eben nur neun Tage. Das muss eben reichen!"

Nerven tat es mich jedenfalls gewaltig. Hätte ich mich nicht erkältet... hätte ich den Schirm geholt... dann wäre all das nicht passiert.

„Stimmt", bestärkte mich Stella in der Mittagspause. „Hättest du nicht mit Ian gestritten, hätte Carter dich nicht nachts abgeholt und dir nicht vorgeschlagen, dich zu diesen beiden Ärzten zu bringen."

Leise stöhnte ich und schlug mir gegen die Stirn.

„So weit hatte ich die Sache nicht zurückverfolgen wollen. Ich dachte eher an... ach, egal, was ich dachte. Sag mir lieber, was ich jetzt mache. Das ist ungerecht. Andere schwänzen ständig und rennen wegen Krankschreibungen zum Arzt und ich war wirklich krank, bin jetzt aber gearscht."

Stella schwieg dazu und tunkte Brot in die Reste ihrer Tomatensoße. Sie gehörte auch zu den Dauerschwänzern.

„Tut mir wirklich leid, dass dir das jetzt auf die Füße fällt. Ich meine, du lässt dir nicht die Brüste machen oder Fett absaugen. Die OP ist definitiv medizinisch nötig."

„Dachte ich auch. Aber selbst die Dekanin, mit der ich telefoniert hab, ist der Ansicht, es sei kein medizinischer Notfall. Solange ich noch was sehe, kommen sie mit ihren Inklusionsangeboten um die Ecke und das war es dann auch schon. Aber ich brauch niemanden, der mich über das Gelände begleitet. Ich will wieder normal leben. Bevor Carter mir die Möglichkeit eröffnet hat, hab ich es hingenommen. Jetzt hab ich aber endlich Ärzte, die mir vertrauenswürdig vorkommen und soll die Chance sausen lassen, weil ich nur noch sieben Tage fehlen darf!"

„Dann scheiß auf das Semester. Ich meine, Anna, bitte! Was ist schon ein halbes Jahr?"

Ihre Annahme musste ich korrigieren.

„Ein Jahr würde ich verlieren. Die Kurse bauen zum Teil aufeinander auf und ich darf manche dann nicht belegen, andererseits werden etliche Vorlesungen aber auch im Sommersemester nicht als Erstsemester angeboten."

„Und jetzt? Willst du es abblasen?"

„Nein, eigentlich nicht. Aber der Zeitpunkt ist ungünstig. Ich müsste das zweite Auge auch noch irgendwann machen lassen. Da hab ich dann dasselbe Problem wieder."

Verzagt rührte ich durch meine Kürbissuppe und schob die Kerne, die als Deko darin schwimmen im Kreis herum.

„Du liebe Güte! Fang jetzt bloß nicht an zu zweifeln! Zieh das durch, Anna. Lass dir das von niemandem vermiesen. Den perfekten Moment für so eine Sache gibt es nie. Wer wusste, was dich nach dem College hindert! Vielleicht willst du dann heiraten oder bist schon schwanger. Scheiß auf das Semester, das Jahr und die Dekanin! Mach es einfach!"

Hektische rote Flecken hatten sich auf Stellas Wangen gebildet. Mit der Gabel fuchtelte sie in meine Richtung.

„Ich sag dir: mach es und basta!"

Bei Stella klang es, als wenn wir über ein Fußbad sprachen. Wahrscheinlich war es das auch. Trotzdem bedeutete es für mich einen herben Rückschlag, meine Ausbildung auf Eis zu legen.

„Für mich fühlt es sich an, als hätte ich versagt. Als würde ich meine Zukunft gegen die Wand fahren, nur weil ich egoistisch bin."

Stella schmunzelte.

„Ich finde, du kannst ruhig ein wenig egoistischer sein. Wenn du dich nicht um dich kümmerst, wenn du dir das nicht wert bist, dir zu nehmen, was dir zusteht, wie sollen andere dich dann für voll nehmen? Denkst du, die Carters stehen Schlange und warten darauf, dir helfen zu können? Ich halte ihn nicht für einen Gutmenschen per se und aus welchen Motiven heraus er dir diese Chance verschafft hat, bin ich sicher, er wird es nicht wieder tun."

Ihr letzter Satz war es, der bei mir verfing. Er hätte es nicht wieder getan.

„Du hast recht. Ich mache es. Trotzdem."

Ich mache es. Trotzdem.

Mein neues Mantra für die nächsten Stunden. Und es immer wieder im Kopf aufzusagen, half mir tatsächlich, den Mut nicht zu verlieren, das Risiko als kalkulierbar zu betrachten. Es erwies sich sogar in anderer Hinsicht als nützlich. Auch im Workshop leistet es gute Dienste.

„Ihr wart mies. Grottenschlechte Performance. Zwei Amateurgruppen von der Straße haben euch aus dem Contest gefegt und du sagst, das sei meine Schuld? Ich hätte euch schlecht trainiert?"

Die Stimme von Grayson hallte schwer und tief durch das komplette Untergeschoss. Er blies sich auf wie ein Heißluftballon und nur ein Seufzen und er explodierte.

„Du bist raus, Nora! Nimm dein Zeug und komm wieder, bis du die Reife hast, deine eigenen Fehler als solche zu erkennen."

Wann sollte das sein? Wenn die Hölle zufror? Mit Mühe hielt ich meine Gesichtszüge neutral und sah Nora nur mit den Augen nach. In der folgenden unangenehmen Stille war nichts zu vernehmen, außer Noras leisen Schritten. Sie huschte zur Tür, nahm auf dem Weg ihre Tasche und verschwand.

Grayson räusperte sich.

„Okay, wo das mal geklärt ist, können wir vielleicht jetzt ohne Zickenterror arbeiten!", fluchte er. „Wir haben viel zu tun bis Weihnachten. Anna, sei so gut. Mach du das mit dem Aufwärmen. Bei dir bin ich sicher, das läuft. Und dir Nate werden wir eine neue Partnerin suchen. Im Grunde kommen nur Debbie und Sarah in Frage."

Und ich. Nur stand das mit der Brille nicht zur Debatte.

„Und Anna."

Dass Grayson mich in die engere Auswahl zog kam freilich überraschend. Für mich klingt es auch nicht nach einer brillanten Idee, mich bei der ganzen Vorgeschichte mit Nate zu verpaaren. Weder im tänzerischen Sinne und im echten Leben mal schon gar nicht. Nur war das eine unglaubliche Chance am Ende doch noch eine gute Sport-Note zu bekommen

Mein Blick entgleiste wie Debbie und Sarah. Wobei Debbie in etwa so unbegeistert dreinblickt, als müsste sie vollgekotzte Toiletten putzen und damit schlug sie meinen Blick nochmal um Längen.

„Was guckt ihr denn so? Hab ich die Krätze, oder was?", beschwerte sich Nate.

„Nö. Aber kein Benehmen", kommentierte Debbie. „Und das allein war für mich ein Grund nicht mit dir zu tanzen."

„Da waren's nur noch zwei", seufzte Grayson und nickte Debbie zu, sie solle sich wieder zu den anderen trollen.

„Mit der Blindschleiche tanz ich sicher nicht", maulte Nate und Sarah zog die Augenbrauen zusammen. „Dann hast du ein Problem. Ich hab auch keine Lust, mehr Zeit als nötig mit dir zu verbringen.

„Tut mir leid, Gray. Aber echt nicht. Da hack ich mir lieber die Hand ab!"

„Ist das hier jetzt eine Demokratie, oder was? Kann hier jeder machen, was er will?", ätzte Nate und sah mich provozierend an.

Grayson rieb sich um Geduld bemüht über das Kinn.

„Nate, wenn du keine Partnerin hast, dann muss ich dich ebenfalls austauschen. Das ist dir klar? Anna war deine einzige Chance, wie mir scheint. Verkack's nicht!"

Witzig, wie sich das Blatt wendete.

„Grayson, ich müsste nur, also... Okay, ich mach es." Trotzdem. Wenn auch nur heute.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top