DREIUNDSECHZIG

Mit schwerem Kopf setzte ich mich am nächsten Morgen im Bett auf. Trotz des aufwühlenden Gesprächs mit Davis hatte ich geschlafen wie eine Tote. Bei dem Gedanken an meine heutige Vorlesung begannen meine Hände zu flattern. Nicht, weil der Stoff so unglaublich aufregend war. Viel mehr machte mich die Aussicht, auf Ian zugehen zu müssen, nervös. Bloß kam ich nicht darum herum, auch wenn ich nach seiner gestrigen Uneinsichtigkeit kein echtes Bedürfnis verspürte, mich mit ihm auseinander zu setzen. Mit den Fingern strich ich mir die vom Schlaf zerzausten Locken aus dem Gesicht und band sie zu einem hohen Pferdeschwanz. Dann beschnüffelte ich meine Achselhöhlen und werfe einen flüchtigen Blick auf den Wecker. Ohne eine zumindest eine Mikro-Dusche konnte ich Ian unmöglich unter die Augen treten. Man stellte sich vor, ich würde vor lauter Nervenflattern anfangen zu schwitzen. Da musste ich zu hundert Prozent sicher sein, dass ich nicht anfange zu müffeln. Mit dieser Horrorvorstellung im Hinterkopf konnte ich Ian unmöglich ansprechen.

Hastig schwang ich die Beine aus dem Bett und als ich aufstand, packte mich leichter Schwindel. Was zur Hölle war hier los? Dieser verfluchte, scheißkalte Regen gestern. Bestimmt hatte ich mir eine Erkältung eingefangen.

Super! Tolles Timing!", knurrte ich mich lautlos an, betrachtete dabei meine Reflexion im Spiegel des begehbaren Schrankes. Ich sah in etwa so beschissen aus, wie ich mich fühlte. Dunkle Schatten lagen unter meinen Augen, meine Nase war gerötet, meine Gedanken waren zäh wie Honig und alle Geräusche klangen leicht wattig. Erkältung im Anmarsch.

Statt dem unvernünftigen Impuls nachzugeben, wieder ins Bett zu krabbeln, sammelte ich mein Zeug zusammen und eine dreiviertel Stunde später stand ich für mein Dafürhalten adrett gekleidet und ordentlich frisiert an meinem Schreibtisch und suchte nach einem Briefumschlag, in dem ich die Summe transportieren konnte, die ich Ian schuldete. Erinnerungen an die Briefe von Finn schwappten wie ein Tsunami über mich hinweg, als ich die oberste Schublade aufzog.

Finn war Ian.

Ian war Finn.

Statt meinem ursprünglichen Plan zu folgen und das Geld abzuzählen, das Davis überwiesen hatte, ließ ich mich auf den Stuhl sinken. Vorsichtig zog ich den Stapel Briefe zu mir heran. Tränen tropften auf den obersten Umschlag.

Reiß dich mal zusammen!

Langsam entfaltete ich den ersten Brief, blickte auf die saubere Schrift, die Zeile um Zeile das Blatt füllte, ohne die Worte zu lesen. Meine anfängliche Wut darüber, dass Ian sich für jemand anderen ausgegeben hatte, war einer lähmenden Ratlosigkeit gewichen. Mit dem Finger fuhr ich die Handschrift nach. Finn hatte, das musste man ihm lassen, eine schöne Handschrift. Ian hatte eine schöne Schrift, wie auch immer. Sauber.

Regelmäßig.

Energisch.

Schnörkellos.

Er hatte sich bei den Briefen viel Mühe gegeben, mehr als bei der kleinen gelben Haftnotiz, die an meinem Schrank hing und die ursprünglich meine Sachen aus der Reinigung begleitet hatte. Trotzdem war es unverkennbar die gleiche Schrift, wenn man nur genau genug hinsah. Dieselben regelmäßigen Bögen, die gleichen dynamischen Aufschwünge. Nur hatte ich nicht darauf geachtet -Warum auch?- sonst hätte es mir auffallen können.

Du hast ihm mehr vertraut als mir.

Gut möglich, dass dem so war und Ians Vorwurf nicht aus der Luft gegriffen war. Ians Beliebtheit und Finns augenscheinliche Verletzlichkeit hatten mich in die Irre geführt. Mir fiel es wirklich leichter, mich Finn zu öffnen, der sich selbst viel zugänglicher präsentiert hatte als Ian. Ich kriegte die beiden Versionen der gleichen Person auch nach ein paar Tagen noch nicht zusammen.

Nach zeitverschwenderischer und ergebnisloser Grübelei schob ich den Brief wieder in den Umschlag und nahm endlich einen frischen und meinen Geldbeutel zur Hand. In einem Anflug von Irrsinn beschriftete ich ihn mit Finn und schob dann die abgezählte Summe hinein, die Ian für meine Brille ausgegeben hat.

Dass ich sehr spät dran war, erinnerte mich wieder vage an die erste Vorlesungswoche. Wieder einmal waren die meisten Plätze belegt, aber es versetzte mich nicht mehr in grenzenlose Panik, den Saal mit den hohen Decken zu betreten, aus dem Stimmengewirr nach außen auf den Gang drang. Langsam überblickte ich den Raum, entdeckte erst Felicity und dann Nate, der zwei Reihen weiter vor ihr stand und sich mit einem mir unbekannten Studenten unterhielt. Ian und Nora konnte ich nirgendwo entdecken und in meinem Magen bildete sich ein fester, harter Knoten, der mir leichte Übelkeit verursachte.

Wahrscheinlich hatte es gar nichts zu bedeuten, wenn die beiden fehlen. Klar. Nur Zufall, was sonst.

Such dir einen Platz und warte.

Offenbar war ich gegen diese Empfehlung meines Unterbewusstseins immun, denn im gleichen Augenblick setzten sich meine Füße in Bewegung. Verdammt noch mal, ich würde mich nicht verstecken. Ich hatte die letzten zwei Jahre durchgestanden, dann bekam ich es sicher auf die Reihe, Felicity oder Nate zu fragen, wo Ian war.

Nate musterte mich, als wäre ich eine lästige Stubenfliege, weil ich ihn ansprach. Leichte Gänsehaut überzog meine Haut bei dem Gedanken, dass ich sein Gesicht berührt hatte und seine Lippen auf meinen Fingerspitzen gelegen hatten. Ob sie sich hinterher gut über mich amüsiert hatten? Ian und er? Oder alle vier? Mir wurde überl bei dem Gedanken und ich schluckte die Säure, die in meinen Hals kroch hinunter. Nate zuckte dafür mit den Schultern. Seine Antwort klang gelangweilt.

„Keine Ahnung. Hab Ian seit dem Tanz-Training gestern Abend nicht gesehen." Nur mit Mühe konnte ich den Drang bezwingen, mich bei ihm auch nach Noras Verbleib zu erkundigen. Stattdessen drehte ich mich mit einem Mindestmaß an Würde um und suchte einen Platz am Rand der Bänke. Von hier aus konnte ich die Tür perfekt im Auge behalten. Und siehe da! Sekunden bevor der Professor den Hörsaal betrat, huschte auch Ian rein. Kurz sah er sich um, und seine wunderschönen grauen Augen hielten einen Wimpernschlag lang meinen Blick, bevor er sich abwendete und sich zu Nate und Felicity setzte.

Die komplette Vorlesung über war ich total abgelenkt, schielte immer wieder zu Ian, betrachtete sein Profil, den ernsten Zug um seinen Mund und fragte mich, wie ich es überleben sollte, ihn anzusprechen. Schon jetzt schwitzte ich wie verrückt, selbst auf meiner Nase sammelte sich Feuchtigkeit, in meinen Kniekehlen ebenfalls und mein Herz holperte wie ein Bollerwagen auf einem Waldweg. Dabei war das Abbezahlen meiner Schulden ein triftiger Grund, ein letztes Mal auf den Iren zuzugehen. Er hatte keinen Grund, mir deswegen blöd zu kommen. Trotzdem fürchtete ich mich vor dem Augenblick, in dem ich meinen Mund aufmachen musste.

Was, wenn meine Stimme zitterte oder ich mich verhaspelte? Was, wenn er schneller zusammenpackte als ich und ich ihm nachlaufen musste? Da war eine Menge Potential, sich zu blamieren. Schon von dem Gedanken daran wurde mir schwindelig. Die wohltuende Verbundenheit, die ich noch vor wenigen Tagen zu Ian verspürt hatte, war gänzlich verschwunden.

Schon deutlich vor Ende der Veranstaltung sammelte ich mein Zeug ein und machte mich startklar und tatsächlich gelang es mir, Ian kurz vor der Tür abzufangen und die Worte herauszupressen, die ich mir die komplette Stunde über zurechtgelegt hatte.

Ian, hast du einen Moment für mich?

Kein Hexenwerk, aber trotzdem stolperte ich unter Ians frostigem Blick aus den wunderschönen hellgrauen Augen über meine Worte.

„Okay", lautete seine einsilbige Antwort. „Komm."

Er ging ein paar Schritte den Gang hinunter, wo sich nicht ununterbrochen andere Studenten an uns vorbeidrängelten.

„Sag was du zu sagen hast", forderte er mich unwirsch auf und kreuzte die Arme vor der Brust. Kaum zu glauben, dass ich denselben Typen vor mir hatte, der sich um mich gekümmert hatte, als ich betrunken war und mit Brot mit Nutella geschmiert hatte. Der mich vor einem sintflutartigen Platzregen gerettet hatte und mit mir am nächsten Morgen ans Meer gefahren war, damit wir mehr Zeit miteinander verbringen konnten. Der mit mir gescherzt hatte und mir das Gefühl gegeben hatte, mehr zu sein, als lediglich die Summe aller Verletzungen, die ich über die vergangenen Jahre hingenommen hatte. Wer wusste, ob das Gespräch mit Davis gestern nicht anders gelaufen wäre, wenn ich nicht diesen Funken Selbstvertrauen in mir lebendig gehalten hätte, den Ian mir eingehaucht hatte, den Finn mir eingehaucht hatte.

Nervös zog ich den vorbereiteten Umschlag aus der Tasche und halte ihm diesen hin.

„Ich wollte meine Schulden begleichen und mich für die Hilfe bedanken", wisperte ich verunsichert durch sein ablehnendes Verhalten. Sein Blick wurde eine Spur wärmer, als er den Umschlag entgegennahm. Grob blätterte er durch die Dollarnoten und nickte.

„Passt", bestätigte er mir. „Das hätte aber noch Zeit gehabt. Geld ist...kein Problem."

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