DREIUNDFÜNFZIG

„Du warst meine Rettung, Ian", seufzte ich und legte die Gabel auf den Teller.

„Aber wenn ich nur noch einen einzigen Bissen esse, dann platze ich."

Ian schnappte sich meinen Teller und begann, meine Reste in sich hineinzuschaufeln.

„Das kann ich nicht zulassen", kommentierte er kauend sein Tun.

„Ich würde dich viel zu sehr vermissen, Rotschopf."

Er zwinkerte mir zu.

„Noch ein bisschen Wein?"

Nickend schob ich ihm mein Glas zu.

„Gerne. Aber nicht zu viel. Morgen wird ein harter Tag für mich."

„So? Was haben wir denn vor? Ich dachte, wir liegen faul vorm Fernseher und bringen unsere Beziehung auf eine neue Stufe."

Argwöhnisch sah ich ihn an. Vergessen war die Tanznummer dieser fünf Neuen.

„Was für eine Stufe?"

„Naja, sieh mal, wir sind jetzt schon eine Weile zusammen. Und ich würde gerne mehr mit dir machen, als dich nur küssen."

Shit. Leichte Panik sammelte sich in meinem Bauch. Dass ich es nicht ewig vor mir herschieben konnte, war mir klar. Aber ich hatte große Angst vor dem nächsten Schritt. Weil Ian Ian war. Er sah toll aus. Hatte den Gerüchten nach schon mehr Mädchen im Bett, als ... keine Ahnung als was. Eben viele. Und ich hatte so gar keinen Plan, wie es lief, wenn es nicht auf der Rückbank eines Autos passierte. Oder verstohlen im Autokino.

Und überhaupt? Das war jetzt ein Witz, oder? Es war noch kein Monat vergangen, seit wir zusammen waren!

Betroffen sah Ian mich an.

„Du bist noch nicht so weit, oder? Noch zu früh für Ben & Jerry's und zwei oder drei Episoden Star Wars?"

Ian schaffte es ungefähr drei Sekunden lang, mich zerknirscht anzuschauen, bevor sein Lachen explodierte.

„Echt lustig!", motzte ich. Das Sofakissen traf ihn völlig unvorbereitet.

„Und ich dachte..."

Mit einem Satz war Ian über mir und packte mit einer Hand meine Handgelenke, bevor ich ein weiteres Kissen zu fassen bekam.

„Was dachtest du?"

Seine Stimme war cremig weich wie Honig. Aber mit der anderen hinterhältigen Hand zwickte er mich geradewegs in die Rippen.

„Nichts", kicherte ich haltlos. „Hör auf. Ich bin kitzlig."

„Ich hör auf, wenn du mir sagst, was du dachtest." Wieder bohrte sich ein Finger zwischen meine Rippen. Gackernd wand ich mich und versuchte ihn abzuschütteln. Aber ich hatte keine Chance.

„Ich dachte, du meinst..."

„Ja?" Aufmerksam sah er mich an und wartete bis ich nach Luft geschnappt hatte.

„Du meinst..." Wieder kicherte ich, weil sein Zeigefinger langsam über meine Flanke wanderte.

„Sag es, Anna. Sag das böse Wort mit den drei Buchstaben."

Seine Lippen streiften über meine. Sanft knabberte er an meiner Unterlippe. Fast glaubte ich, dass er mich in Ruhe ließ, wenn ich ihn küsste, aber nein. Im Gegenteil, er kitzelte meinen Bauch, bis ich unter Lachtränen „Sex" hervorstieß.

Sofort hörte er auf. Seine Augen blieben an meinen Lippen hängen, langsam näherte er sich. Ich konnte ihn nur anstarren. Dieses eine Wort hatte die Stimmung zum Kippen gebracht. Die Luft zwischen uns knisterte und ich fühlte mich atemlos. Nicht mehr vom Kitzeln, sondern vor lauter Aufregung.

Anspannung.

Vorfreude.

Auf einen Kuss und mehr.

„Ich weiß, dass du nicht so bist", wisperte Ian an meinen Lippen. „Mach dir keinen Stress. Wir haben Zeit, Anna."

Wäre ich nicht schon bis über beide Ohren in Ian verliebt gewesen, dann wäre es in diesem Augenblick geschehen, als er mich vorsichtig küsste. Mein Herz lief über vor lauter Dankbarkeit, dass er keine direkten Forderungen in der Richtung stellte. Es nahm mir den unterschwelligen Druck, den ich nicht einmal bemerkt hatte, bis er es erwähnte.

Vorsichtig strich ich mit der Hand über seine Wange, fühlte die feinen Stoppeln unter meinen Fingerspitzen und er legte seine Stirn gegen meine.

„Danke", sagte ich schüchtern und bekam ein beruhigendes Lächeln dafür geschenkt.

„Nicht dafür, Rotschopf. Und jetzt sag mir, was wir tun, wenn du für Star Wars noch nicht bereit bist."

Wie immer musste er mich noch ein bisschen mehr aufziehen. Es war aber okay. Ich kam mir dieses Mal nicht so blöd vor wie sonst.

„Wir essen Ben & Jerry's und denken uns eine Choreo aus."

Ian schüttelt energisch den Kopf.

„Nein."

Nur ein Wort und ich war wie vor den Kopf geschlagen.

„Nein?"

„Nein, Anna. Tut mir leid", sagte er etwas sanfter. „Das geht nicht. Da bin ich raus."

Er wirkte betroffen und zog mich in eine sitzende Position.

„Ich nehme zusammen mit Nate, Feli und Nora an demselben Contest teil. Ich kann da nicht plötzlich die Konkurrenz unterstützen. Tut mir leid."

„Oh."

Mehr fiel mir gerade nicht dazu ein. In meiner naiven Phantasie hatte ich gehofft, Ian nach seiner Meinung fragen zu können oder ein, zwei Sachen mit ihm ausprobieren zu dürfen. Offenbar... ging das aber nicht.

„Ist schon okay. Ich bin nur überrascht. Mir war nicht klar, dass ihr etwas in der Richtung plant."

Ganz konnte ich die Traurigkeit nicht aus meiner Stimme heraushalten.

„Hey, tut mir echt leid. Wir haben das mit Grayson erst letzten Dienstag besprochen. Danach hatten wir beide kaum Zeit miteinander", erklärte mir Ian, was ich längst selbst wusste.

„Nein, ist schon okay. Ich dachte nur, wir beide könnten zusammen... ach, egal, vergiss es. Ich kann das auch alleine. Mach dir keine Gedanken."

„Mach ich nicht, Anna. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass du alles schaffen kannst, was du dir in deinen hübschen Kopf setzt."

Ian stand auf und trug die Teller in die Küche. Ich konnte nicht leugnen, dass ich von der jüngsten Entwicklung enttäuscht war. Ian zu kennen, hatte wirklich etwas von einer Achterbahnfahrt. In einem Moment erstürmte ich den Gipfel des Glücks. Im nächsten Augenblick brachte er alles zum Stillstand und schon ging es bergab. Genau wie Ian hatte ich keine Zweifel daran, dass ich die Fünf auf Wettbewerbsniveau brachte. Aber ich hatte ernste Bedenken, was das für mich und Ian bedeutete, wenn wir gleichzeitig intensiv einen Wettbewerb vorbereiteten. Wenn er trainierte und ich die fünf Leute aus dem FSDP coachte, wann sollte da neben Arbeit und Uni noch Zeit für eine Beziehung bleiben?

Ich hörte, wie Ian die Teller spülte.

Tief durchatmen!

Jetzt. Wir hatten jetzt. Und die Nacht. Carpe noctem!

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