ACHTZEHN

Meine Welt stand nach dieser Aussage still. Meine Atmung, selbst mein Herz, machte nach dieser Eröffnung eine Pause.

„Finn?", hauchte ich überwältigt und verdrängte den leichten Ekel, den sein Geruch bei mir auslöste.

„Ja, Finn", antwortete er und ich hörte an seiner Stimme, dass er lächelte. „Und ich fürchte, ich muss mich entschuldigen. Irgendein besoffenes Arschloch hat seinen Drink über meine Hose geschüttet." Auch ich grinste verhalten, ärgerte mich jedoch gleichzeitig, dass ich ihn schon wieder nicht sehen konnte. Wie damals. Als er mich heimlich gefilmt hatte. Da hatte ich auch keine Brille gehabt.

Oh Mist. Da war was!

Hektisch tastete ich erneut herum.

„Finn, hilf mir! Bitte!", jammerte ich. „Meine Brille..."

„Ich fürchte, da ist nichts mehr zu machen. Die ist hinüber." Finns Stimme klang bedauernd.

„Ich nehme jetzt deinen Ellbogen. Also flipp nicht gleich wieder aus!"

Peinlich berührt von seiner Aufforderung und dem Umstand, dass er mich für überspannt hielt, presste ich die Lippen zusammen.

„Oben im ersten Stock sind ein paar Schlafzimmer, da wartest du am besten. Ich sammle die Scherben ein und kehre hier. Danach bring ich dich nach Hause, okay?"

Überwältigt und überfordert ließ ich mich die Treppe hinaufführen. Finn öffnete eine Tür.

„Bah, nicht euer Ernst? könnt ihr nicht absperren? Eure nackten Ärsche will niemand sehen!", fluchte er und knallte die Tür wieder zu.

„Komm, wir nehmen Nates Zimmer, das benutzt außer ihm sicher niemand." Behutsam führte Finn mich den Gang.

Der Name Nate löste etwas bei mir aus, aber genau einordnen konnte ich ihn gerade nicht. Mir war von dem Sturz und all der Aufregung ein bisschen schwindelig. Und meine Schläfe pochte im Takt meines Herzschlags. Also gab ich es auf, zu ergründen, wo ich den Namen schon einmal gehört hatte.

„Setz dich aufs Bett, okay?", forderte er mich sanft auf. „Ich komm gleich wieder. Brauchst du irgendwas? Soll ich dir was zu trinken bringen? Oder Aspirin?"

Benommen schüttelte ich den Kopf, was das Klopfen in meinem Kopf verstärkte.

„Ich komme klar, danke", murmelte ich.

„Bleib wirklich sitzen, Anna. Nicht, dass dir ohne Brille noch etwas passiert."

„Ich rühre mich sicher nicht weg", versprach ich. Im Gegensatz zu Ians Vermutung hatte ich keineswegs Todessehnsüchte.

„Gut, dann bis gleich, Anna."

Finn öffnete die Tür, die Musik von draußen wurde kurz lauter, dann wieder leiser.

Er war weg und ich allein. Allein und hilflos in einem fremden Zimmer, in dem ich nicht wesentlich mehr erkannte als eine waagerechte Fläche, auf der eine Lichtquelle einen gelblichen Schimmer verbreitete. Ob es hier wohl einen Spiegel gab, an den ich nahe genug herantreten konnte, um meine Verletzung grob einzuschätzen? Ich spürte nur diesen dumpfen Schmerz und konnte nicht beurteilen, was genau passiert war. Jedenfalls war meine Verletzung nicht so schlimm, dass ich sofort ohnmächtig geworden war, beruhigte ich mich selbst. Einen Spiegel wollte ich trotzdem.

Vorsichtig stand ich auf, machte drei wacklige Schritte und verfluchte meine hohen Absätze, als mich starker Schwindel erfasste. Ich kapitulierte und setzte mich wieder. Vorsichtig tastete ich nach der Bettkante und setzte mich wieder. Nervös trommelte ich gegen das Bettgestell. Vermutlich war Finn erst ein paar Minuten weg, mir kam es aber schon vor wie eine halbe Ewigkeit. Um mir die Zeit zu vertreiben, stellte ich mir vor, wie er Stufe um Stufe die Treppe hinunterstieg. Dann musste er sich zur Küche durcharbeiten. Schrank für Schrank nach Schaufel und Besen suchen, kehren, zurück zur Küche... Weil er noch nicht zurück war, durchdachte ich den Vorgang ein zweites Mal.

Mann, das konnte alles nicht so lange dauern! Verzweifelt stöhnte ich und vergrub meinen schmerzenden Kopf in meinen Händen. Ich wollte nach Hause.

Richtig nach Hause.

Mein Heimweh traf mich völlig unvorbereitet und Tränen schossen erneut in meine Augen. Ich wollte zu Granny zurück. Und zu Grandpa. Ich wollte meine kleine Galerie über dem Esstisch wiederhaben. Ich wollte salzige Meeresluft schmecken und nicht meine Tränen. Ich wollte statt der lauten Musik die Wellen hören und Möwen statt Gegröle. Ich wollte Grandpas Pfeife riechen, wenn er sie am Abend stopfte und in aller Ruhe rauchte. Am meisten möchte ich Granny wieder irische Lieder singen hören, während sie meine Haare mit Essig spülte, damit ich keine Läuse bekam.

Daran, dass die Musik wenig später wieder lauter wurde, erkannte ich, dass sich die Tür erneut öffnete und ich wischte mir hastig meine Tränen weg, bevor ich aufsah.

„Was machst du in Nates Zimmer?" Ians rauchige Stimme klang belegt und der Satz kam schleppend über seine Lippen, aber unverhohlen aggressiv.

„Finn hat mich gebeten, hier zu warten, während er die Treppe kehrt."

Stille senkte sich über Ian und mich. Nur leise drang ein Party-Song herauf, den eine Menge Gäste mehr mitgrölten als sangen.

„Finn kehrt die Treppe", wiederholte er lachend. Dann brach sein Lachen ab, schlagartig wurde er ernst.

„Du glaubst, der Typ, der zwischen all den Beinen auf der Treppe krabbelt, ist Finn? Du denkst, du hast ihn wirklich gefunden."

Ich nickte etwas zu begeistert, denn mir wurde ein bisschen flau im Magen durch die heftige Bewegung.

„Scheint so."

Ein Knallen ertönt, als wenn Ian ein Glas oder eine Flasche ein wenig zu heftig auf einer Unterlage abgestellt hätte.

„Ich bin gleich zurück", knurrte er und bei seinem Tonfall fröstelt mich. „Mit dem hab ich ein Hühnchen zu rupfen!"

Was immer er vorhatte, klang nicht gut. Betrunkene waren für rationale Entscheidungen nicht unbedingt berühmt und Iren für ihr aufbrausendes Temperament. Keine gute Kombination, würde ich meinen. Schwankend kam ich auf die Füße.

„Ian, was soll das werden? Finn will nur helfen! Er hat angeboten, mich nach Hause zu begleiten."

Wieder diese beunruhigende Stille. Ians Hirn arbeitete offenbar gerade nicht übermäßig schnell.

„Er bringt dich also nach Hause? Gute Idee Anna. Dann beschreib mir deinen Finn mal. Also nur für den Fall, dass du nie zu Hause ankommst, was soll ich der Polizei dann erzählen? Immerhin bin ich wahrscheinlich der letzte, der dich gesehen hat."

Hart schluckte ich.

„Er... also ich weiß nicht genau. Aber er war groß. Etwas größer als du, schätze ich jedenfalls. Und er hat dunkle Haare und trägt vermutlich Jeans und ein Shirt. In grau?"

Ich hörte wie Ians schwere Schritte sich dem Bett näherten. Dann sank neben mir die Matratze ein gutes Stück ein.

„Wie gut siehst du ohne Brille, Anna?", erkundigte er sich neugierig.

Freudlos lachte ich.

„Du meinst eher wie schlecht?"

„Lenk nicht ab. Was erkennst du in diesem Raum?"

Ich ließ meine Augen schweifen. Obwohl ich wusste, dass ich jetzt nicht mehr erkennen würde als zuvor, egal wie sehr ich mich bemühte. Aber der Versuch gab mir Zeit nachzudenken, ob ich ausgerechnet Ian anvertrauen wollte, wie blind und hilflos ich ohne Brille war. Spätestens Montag, wenn ich orientierungslos über den Campus stolperte, würde er die Wahrheit ohnehin erahnen können.

„Beinahe nichts bei diesen Verhältnissen", gab ich zu. „Bei Licht kann ich Farben unterscheiden. Dadurch gelingt es mir, einen Gehsteig von einem Grünstreifen oder Bäume anhand der Form und Farbe von Häusern zu unterscheiden. Oft kann ich einen Hund und eine Katze auseinanderhalten, wenn der Größenunterschied deutlich genug ist. Je dunkler es ist, desto mehr verschwinden die Kontraste und Farben..." An dieser Stelle brach ich ab, sah mich um.

„Hier erkenne ich beinahe nichts. Ich könnte nicht sagen, ob das dort drüben ein Bücherregal ist oder ein Schrank an den Nate ein Poster geklebt hat. Das, wo die Lampe steht, könnte ein Tisch sein, aber ebenso gut ein Sideboard."

Resigniert zuckte ich mit den Schultern.

„Verstehe", behauptete Ian. Und wie jedem anderen gestand ich ihm zu, das zu glauben, auch wenn sich kaum jemand vorstellen konnte, wie aufgeschmissen ich ohne Brille war, der es nicht am eigenen Leib erfahren hatte.

„Trotzdem weißt du genau, wer ich bin?", hakte er nach.

„Selbstverständlich!", antwortete ich wie aus der Pistole.

„Das verstehe ich nicht. Wie kannst du dir sicher sein?" Beinahe konnte ich Ians überfordertes Stirnrunzeln hören.

„Deine Stimme kenne ich und auch dein Aftershave. Außerdem riechst du immer ein bisschen nach Rauch." Und plötzlich wusste ich, was sich unter seinen Geruch mischt.

„Nicht nur nach Zigaretten, sondern immer ein wenig nach Lagerfeuer."

Er ging nicht auf meine Erklärung ein.

„Und warum trägst du keine Brille, wenn du halb blind bist?", fragte Ian mich harsch.

„Ich habe sie verloren, als ich auf der Treppe hingefallen bin", erklärte ich ihm und schämte mich gleichzeitig für meine Ungeschicklichkeit. Tief hörte ich ihn einatmen.

„Und das ist auch passiert, als du gestürzt bist? Oder hat dir jemand ... heute Abend wehgetan?"

Ich zuckte zusammen, als Ian vorsichtig mein Haar zur Seite strich und meine Haut streifte. Einen Moment wurde es still im Raum. Nur meinen flachen angespannten Atem hörte ich überlaut in meinen Ohren. Was Ian machte, konnte ich nicht sehen. Auch seinen Gesichtsausdruck nicht. Ich spürte nur, wie er langsam vom Bett aufsteht und schweigend zur Tür ging.

„Habe ich etwas Falsches gesagt?", erkundigte ich mich verunsichert.

„Nein, gar nicht. Ich schau nur mal, was dieser mysteriöse Finn treibt. Und ob es in der Küche eines von diesen Kühlpacks gibt."

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