ACHTUNDVIERZIG

Freitag meine Lieben und Zeit für ein Update.
Heute bekommt ihr mal wieder extralangen Spaß mit Anna und Ian. Knapp 3000 Wörter sind es diesmal geworden, weil draußen Nebel wie dicke  Suppe hängt und ich einen totalen Schreibflash hatte.
Wünsch Euch viel Spaß beim Lesen und ein schönes Wochenende!


Die Bücherei lag in einem modernen Koloss aus Stahlblech und Glaselementen. Ein klassisches Beispiel, wie man bei dem Versuch, die immer gleichförmigen Häuserblocks mit einem L-förmigen Grundriss aufzulockern, versagen konnte. Das Raumschiff von Außerirdischen hätte nicht weniger fehl am Platze gewirkt und eine ausgeklappte Rampe zum ein- und aussteigen freundlicher, als der mit pflegeleichten grauen Betonplatten belegte Vorplatz des Gebäudes. Um ein zentrales handtuchgroßes Grün herum gruppierten sich im Abstand von etwa drei Metern sechs Parkbänke mit Holzsitzen. Zwischen jeweils zwei davon stand ein überquellender Mülleimer, um den Vögel herumhopsten und wie fliegende Ratten zwischen heruntergefallenem Unrat wühlten. Um diesen zentralen Treffpunkt lungerten ein paar Typen herum, denen ich im Dunkeln eher nicht begegnen wollte, es sei denn sie waren meine Kumpels.

Wenn ich eins wusste, dann, wie sich abschätzende Blicke anfühlen. Die Unbekannten taxierten mich ebenso wie ich sie, während ich ein Paar hellblauer Augen besonders im Blick behielt. Sie gehören zu einem kleinen, bulligen Hund mit braun-weiß meliertem Fell. Unberechenbare Menschen erzogen unberechenbare Hunde. Von diesem Prachtexemplar einer haarigen Handgranate wollte ich mich auf keinen Fall überraschen lassen. Das Vieh war sicher in der Lage mir den Arm abzubeißen und damit wegzurennen, bevor ich auch nur „Stopp" brüllen konnte.

„Hey!", rief mir einer der Jüngeren aus der Gruppe zu, die dem Hund am nächsten stand. Überrascht blickte ich über meine Schulter. Außer mir überquerten nur wenige Menschen die Straße und huschten über den Vorplatz.

„Ich?", vergewisserte ich mich.

„Ja, du! Du mit den roten Haaren! Komm mal her!"

Seine Kumpels waren mindestens so irritiert wie ich, als ich mich dem Sprecher zögernd näherte. Der Fremde musterte mich mit gerunzelter Stirn.

„Du bist das wirklich!", stellte er dann fest. Mit dem Zeigefinger fuhr er über seine Wange. „Kein Zweifel!"

Tja, was sollte ich sagen? Ich bemühte mich um ein Lächeln.

„Kein Zweifel ist die netteste Umschreibung hierfür, die ich seit langem gehört habe." Ich ahmte seine Bewegung nach.

„Ach, komm scheiß drauf. Wir ham alle unsere Narben", sagte er, dabei ließ er mich keinen Moment aus den Augen. Augen, Augen die so dunkelblau waren, wie der Himmel bei Nacht. Seine weizenblonden Haare waren von der Sonne in gleichem Maße gebleicht wie seine stämmigen Arme gebräunt.

„Das ist die Kleine, von der ich euch erzählt hab. Die aus dem Video!"

Sein Kumpel, der neben ihm stand und bisher desinteressiert an seinem Bier nippte, verschluckte sich beinahe, weil er von dem Sprecher einen Ellbogen in die Seite gerammt bekam.

„Du weißt doch. Von dem Video, das dann plötzlich gelöscht wurde." Der Sprecher hielt mir eine Hand hin und zögerlich erwiderte ich die Geste und begrüßte ihn. Sein Händedruck war fest und freundlich.

„Die gibt's echt?", murmelte der Typ neben ihm und hielt mir seinerseits die Hand hin, die an einem extrem dunkel behaarten Unterarm hing.

„Diego", stellte er sich vor. „Und die blonde Laberbacke ist Will."

„Anna", gab ich meinen Namen preis und wartete ab, was die beiden wollten.

Inzwischen hatten wir das Interesse der Umstehenden geweckt, was ich sehr unangenehm fand. Ich hatte nach wie vor nicht den Hauch einer Ahnung, warum dieser Will mich angesprochen hatte.

„Ja, also, dann. War nett, euch kennenzulernen. Ich muss weiter. Vorstellungsgespräch, wisst ihr."

Diego nickte. Will auch, als ich mich zum Gehen wendete, folgte er mir. Gruselig? Definitiv!

„Wenn du mal Zeit hast, so nach der Arbeit oder so, dann kannste mal vorbeischauen." Er drückte mir ein Kärtchen in die Hand. „Wir üben freitags im Jugendzentrum. Vielleicht haste paar Tipps für uns. Das ist die Adresse."

„Okay", äußerte ich vage und starrte auf die Adresse, die mir nichts sagte. „Ich kenn mich nicht so gut aus in der Gegend. Aber vielleicht kommt ihr nächsten Samstag mal ins Studio?", drehte ich den Spieß um und reichte ihm meinerseits ein Kärtchen vom FSDP. „Von halb drei bis halb vier gebe ich Unterricht. Danach hätt ich ein bisschen Zeit."

„Cool. Klar. Bis dann Anna."

An der Tür zur Bibliothek blieb er stehen.

„Hausverbot", erklärte er grinsend und nicht ganz ohne Stolz.

„Bis dann, Will", verabschiedete ich mich und betrat durch die Automatiktür das Foyer. Eine breite Steintreppe führte hinauf in die oberen Stockwerke, wo sich, den Wegweisern zu Folge, Lesesäle und Arbeitsplätze aufreihten. Außerdem hatte dort die Erwachsenenbildung ihre Räume, die Kurse zu allem möglichen Themen von Malerei über Spracherwerb bis Softwareprogrammierung anbot. Rechter Hand betrat ich durch eine weitere Tür die eigentliche Bücherei. Wie angewurzelt blieb ich stehen.

„Carter?", begrüßte ich den Security und ehemaligen US-Marine.

„Das ist wohl der Tag der Überraschungen heute! Arbeitest du hier?"

„Hm. Securities braucht man heutzutage überall, Anna."

Der Bär von einem Mann umarmte mich.

„Hab schon gewusst, dass du heute kommst." Er hielt mich ein Stück von sich weg. „Gut siehst du aus. Glücklichsein steht dir. Wer ist der Glückspilz, der dich strahlen lässt? Hoffentlich keiner von den Jungs vor der Tür?" Mit dem Daumen zeigte er auf das Fenster, durch das man Will beobachten konnte, wie er seine Freunde mit ein paar High-Fives abklatschte.

Mit roten Wangen schüttelte ich den Kopf. „Nee, keiner von ihnen."

Carters Augenbraue hob sich.

„Besser ist es, Kleine", brummte er. „Na komm, ich bring dich rauf zur Chefin. Hab bei ihr schon Werbung für dich gemacht. Denk du hast den Job schon so gut wie sicher."

Erleichtert nickte ich und betrat hinter Carter ein kleines Büro. „Viel Glück", wisperte er, als er mich allein ließ.

„Mit Glück hat das hier nichts zu tun, sondern mit Können", brummte die rundliche Frau hinter dem Tisch. Ihre Bluse war so weiß wie meine. Ihr Kragen umschloss steif einen massigen Hals in dem dunklen Ton von Ebenholz. Eine dicke Brille ruhte auf ihrem breiten Nasenrücken und ließ ihre Augen im Gegensatz zu meinen riesig erscheinen. Zu leugnen, dass wir uns auf Anhieb sympathisch waren, war zwecklos. Obwohl wir ausnahmslos in allem das Gegenteil zu sein scheinen. Selbst ihre Stimme war dunkel und volltönend und wäre einer Gospelsängerin würdig.

„Mathilda Reeds", stellte sie sich vor. „Wir haben miteinander telefoniert, Ms Sullivan", leitete sie unser Gespräch ein und ich reichte ihr die Hand, um mich vorzustellen. Im Gegensatz zu der Vorstellungsrunde vor der Bibliothek war meine Hand plötzlich schwitzig. Und mir wurde schrecklich heiß. Hoffentlich ließ mich mein Deo nicht im Stich! Ich hatte das Gefühl, selbst in den Kniekehlen zu schwitzen, während ich mich gegenüber der Bibliothekarin auf einen Stuhl setzte.

Im Nachhinein fragte ich mich, warum ich aufgeregt war. Meine neue Chefin schien unglaublich nett. Und ja, ich bekam den Job. Nach nur zwanzig Minuten plaudern. Voller Euphorie verließ ich das Büro.

Und stellte fest, dass es weit mehr als zwanzig Minuten waren. Eher zwei Stunden. Es dämmerte bereits und der unvermeidliche Nieselregen färbte die Pflasterung in tiefem elefantengrau und den Asphalt der Straße dahinter beinahe schwarz.

„Soll ich dich nach Hause fahren? Hab in zehn Minuten Schluss."

Carters Blick schweifte zu den Jugendlichen und Halbwüchsigen, die sich unter dem Vordach des angrenzenden Supermarktes untergestellt hatten.

„Quatsch, ich komm klar."

Vielsagend zog ich mein Pfefferspray aus der Tasche.

„Kinderkram", murrte Carter. „Aber von mir aus. Wirst schon wissen, was du machst."

Überzeugt von mir selbst nickte ich. Im Foyer roch es nach Pizza, die zwei Mädchen, die auf der Treppe lümmelten, miteinander teilten. Vernehmlich knurrte mein Magen, obwohl ich den Geruch nach Unmengen Knoblauch und den Anblick fetttriefender Salami nicht einmal unbedingt appetitlich fand.

Vorm Haus stoppte ich meine Schritte und sah mich kurz um. Alles ruhig aber ich fing die nervösen Blicke einiger Kids auf, die cooler als die Arktis in der Nähe des Kampfhundes rumlungerten und eine Zigarette kreisen ließen. Eine Flasche in einer braunen Tüte verstecken sie viel zu auffällig.

Um die vier Jungs und zwei Mädchen nicht noch nervöser zu machen, ging ich ein paar Schritte die Straße runter und grinste in mich hinein. Wir waren nicht besser. Und bei uns im Park war deswegen oft genug die Polizei zu Gast. Nicht um mich abzuholen, sondern mich nach Hause zu begleiten.

Gedankenversunken ging ich weiter, die Kids hatte ich längst vergessen. Ein dummer Fehler, denn harmlos schienen die Kerlchen nicht zu sein. Offenbar wollte sich einer sein Taschengeld aufbessern, denn eine schwere Hand auf meiner Schulter zwang mich schlagartig zum Bremsen. Automatisch schlossen sich meine Finger um das Reizgas. Schon während ich mich unter der Hand rausduckte, wie Carter es uns Mädchen hundert Mal gezeigt hatte, riss ich die Dose aus der Tasche. Den Knopf drückte ich runter, bevor ich fragte, was derjenige wollte. Zum Fragen stellen, war später noch genug Zeit.

Mein Opfer jaulte auf, als ich die Hand hob und ihn das Gas einnebelte. Von wegen Kinderkram!

„Mann, Anna! Spinnst du!", winselte Ian und krümmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht.

„Scheiße, das brennt wie Hölle!", jammerte er und rieb sich die Augen. Hinter Ian ertönte Gelächter.

„Mann Alter, wie blöd muss man sein, sich von hinten an eine Frau ranzuschleichen! Was ein Glück, dass ich Anna gefolgt bin. Im Leben hätte ich die Aktion nicht verpassen wollen", keuchte Carter atemlos. Er sah aus, als wollte er sich gleich auf dem Boden wälzen vor Lachen. Ich fand es nicht lustig. Betroffen beobachtete ich Ian beim Rubbeln seines Gesichtes.

„Nicht, Ian. Nicht reiben. Das macht es nur schlimmer!" Aus meiner Tasche wühlte ich meine Wasserflasche hervor. „Wasch dir das Gesicht. Los, streck die Hände aus!"

Mit zusammengekniffenen Augen folgte Ian meiner Anweisung, während Carter sich noch immer nicht einkriegte.

„Mann, hör mal wieder auf!" Ians Stimme klang unverhohlen aggressiv.

Carter wischte sich die Tränen aus dem Augenwinkel und riss die Augen auf, als hätte er Angst.

„Sonst was?", fragte er Ian provozierend. „Wirst du mir dann Anna mit ihrem Pfefferspray auf den Hals hetzen?" Wieder begann Carter laut zu lachen.

„Tut mir leid, Ian. Echt. Ich wusste nicht, dass du das bist. Was machst du denn hier? Ich dachte du beim Training!", stammelte ich und beobachtete, wie Ian sich mein Mineralwasser ins Gesicht klatschte.

„Ich wollte dich abholen, damit du nicht allein nach Hause musst. Außerdem müssen wir reden", gab er zwischen seinen Händen hervor von sich.

Langsam richtete er sich auf und sah mich mit seinen feuerroten Augen an. Selbst die Haut seines Gesichtes war zwischenzeitlich stark gerötet.

„Es tut mir so leid, Ian, wirklich. Ich dachte du willst mich überfallen", erklärte ich meine Attacke auf ihn.

„Okay, Leute, ihr habt das hier offensichtlich unter Kontrolle. Ich bin dann weg." Immer wieder auflachend verschwand Carter im Foyer und Ian und ich standen uns allein gegenüber.

„Eigentlich muss ich mich entschuldigen. Ich hätte dich nicht so erschrecken sollen. Ich dachte, ich könnte dich überraschen, weißt du."

„Mich überraschen?" Leise schnaubte ich. „Mission erfolgreich abgeschlossen, würde ich behaupten."

Wieder drückte er mit dem Handballen seine Augen.

„Nicht, damit machst du es nur schlimmer." Bevor ich mir Gedanken machte, zog ich bereits an seinem Ärmel, damit er den Arm sinken ließ.

„Aber meine Augen tränen wie verrückt. Ich seh nichts. Alles ist total verschwommen!"

Das kannte ich nur zu gut. Nichts zu sehen, gehörte zu den beunruhigensten Dingen überhauptt.

„In einer halben Stunde ist das wieder vorbei. Bestimmt", tröstete ich Ian ohne mir sicher zu sein, ob das nicht eine fette Lüge war.

„Und wie kommen wir nach Hause? Ich seh nichts!", wiederholte er mürrisch. „Und du kannst nicht fahren."

„Hab ich nie gesagt. Ich sagte nur, dass ich keinen Führerschein habe", korrigierte ich in einem Anfall geistiger Umnachtung und beobachtete mit zwiespältigen Gefühlen, was für ein schelmisches Grinsen diese Aussage Ian entlockte.

„Na dann, Anna-die-keinen-Führerschein-hat, bring uns mal nach Hause. Das bist du mir nach der Scheiße grade schuldig. Weit ist es ja nicht."

„Dein Ernst?" Zweifelnd sah ich auf die Mercedes-Limousine am Straßenrand. Zur Uni brauchten wir bestimmt eine viertel Stunde. Ich war mir echt nicht sicher, ob das eine gute Idee fand.

„Klar, du machst das bestimmt besser, als wenn ich im Blindflug fahre."

Das hätte ich jetzt nicht unbedingt unterschreiben wollen.

„Mein letztes Mal ist schon etwas länger her", druckste ich herum und griff nach dem Schlüssel, der an Ians Finger hin und her schwang

„Hm. Meins auch." Sofort lief ich rot an. Wie konnte er in so einer Situation noch anzügliche Witze machen?

„Einen Penny für deine Gedanken, Anna", schmunzelte er. „Mich hat schon lange niemand mehr spazieren gefahren, der keinen Führerschein hatte, meinte ich", erklärte er mir geduldig.

Klar meinte er das! Was war nur los mit mir? Um den peinlichen Moment zu überspielen, entriegelte ich den Wagen und stieg ein. Der Beifahrersitz war mit schon sehr vertraut, auf der anderen Seite der Handbremse zu sitzen, war eine ungewohnte Perspektive.

„Nach Hause", teilte Ian dem Navi mit und schnallte sich an.

„Aber ich..."

„Anna, du hast mir Reizgas ins Gesicht gesprüht. Ich will nach Hause. Jetzt!" Sein Ton duldete keinen Widerspruch. In diesem Falle musste ich zugeben, dass seine Forderung eine gewisse Berechtigung hatte

„Der Sitz ist zu weit hinten." Kleinlaut sah ich zu Ian, der mürrisch nach vorne starrte. „Ich weiß nicht, was ich tun muss. Bei meinem Grandpa war da vorne ein Hebel." Ich deutete nach unten in Richtung meiner Füße.

Er lehnte sich zu mir rüber und einen Moment blieb mein Herz stehen, als sein Duft mich einhüllte. Wir waren uns so verdammt nahe, dass ich seiner Erklärung kaum folgen konnte. Warum musste man denn so viel Technik in ein Fortbewegungsmittel packen!

„Okay, dann... Angeschnallt?", fragte ich Ian, als ich mit den Füßen endlich das Gaspedal erreichte.

„Ja. Und du bist sicher, dass du das hinkriegst?"

Anscheinend bekam er langsam aber sicher kalte Füße. Meine Antwort bestand darin, den Motor zu starten und den Rückwärtsgang einzulegen. Ian beäugte mein Tun sehr kritisch und ich schwitze Blut und Wasser schon beim Ausparken. Fahren konnte ich. Wirklich! Von Ausparken hatten wir dabei nicht geredet. Im freien Verkehr fühlte ich mich etwas sicherer, schwamm langsam dem Strom hinterher, wobei Ian mich mehrmals ermahnte, ich solle nicht so weit nach rechts ziehen.

Mit zusammengepressten Lippen, versuchte ich mittiger zu bleiben. Nur ist das verdammt viel schwerer als man glauben mochte. An der nächsten roten Ampel legte Ian eine Hand über meine. Irritiert von seiner sanften Berührung sah ich zu ihm hinüber und erntete ein beruhigendes Lächeln, das die roten Flecken in seinem Gesicht nach oben verschob.

„Entspann dich, Anna. Soweit ich es sehen konnte, machst du das super."

Bewusst entkrampfte ich meine Hand unter seiner und murmelte ein leises „okay", wich dabei seinem Blick aus, weil ich Sorge hatte, dass Ian auffiel, wie sehr es mich jedes Mal aus der Bahn warf, wenn er mich berührte und wie sehr ich es mochte, wenn er es tat.

Wie zufällig ließ ich meinen Blick zum Rückspiegel huschen, dann in den Seitenspiegel, wo mein Blick auf die Spur links von uns fiel und ich erstarrte.

„Scheiße, Ian, Polizei. Nur eine Wagenlänge hinter uns", informierte ich meinen Beifahrer mit gepresster Stimme.

„Wenn grün ist, fahr weiter. Die wissen doch nicht, ob du einen Führerschein hast. Wenn du keinen Blödsinn machst, haben die gar keinen Grund dich rauszuziehen", versuchte Ian mich zu beruhigen.

„Das kann ich nicht!", quiekte ich am Rande einer Panikattacke.

„Du konntest mir Pfefferspray ins Gesicht blasen, verdammt. Dann kannst du dich jetzt auch zusammenreißen. Fahr. Und schleich nicht so rum. Das ist super auffällig. Gib etwas mehr Gas", herrschte Ian mich an. Als die Ampel umschaltete, war ich dennoch wie gelähmt. Von der Polizei. Und von seinem Ton.

„Du schaffst das Anna. Aber du musst jetzt fahren. Sonst fliegen wir wirklich auf." Beschwörend sah er mich aus seinen kaninchenroten Augen an.

„Bitte, Annie, ich bin auf Bewährung. Das ist nicht mein Auto und du hast keinen Führerschein. Mach jetzt keinen Mist. Ich bin echt am Arsch, wenn die uns rausziehen!"

Oh Gott, warum hatte ich denn über all das nicht früher nachgedacht? Jedenfalls löste sein letzter Satz etwas bei mir aus. Ob es dabei sein inzwischen flehender Tonfall war, oder dass er mich Annie nannte oder die ihm drohende Gefahr, ich wusste nicht genau, was mich letztendlich dazu brachte, das Gaspedal zu betätigen. Jedenfalls folgte ich dem Auto vor mir und langsam näherte sich der Polizeiwagen in der Spur neben uns bis er mit uns gleichauf fuhr.

Stur starrte ich geradeaus auf das Heck meines Vordermannes und versuchte den Wagen neben mir auszublenden. Geradeso, als wäre es völlig nebensächlich, dass neben mir eine Streife durch den frühabendlichen Verkehr rollte.

„Mein Vater würde ausflippen, wenn er davon wüsste." Schelmisch lächelte Ian mich an. Mir war gar nicht nach Lachen zu Mute. Zoe hatte mich ja gewarnt.

„Wessen Auto ist das? Hast du den Wagen gestohlen?"

„Nö." So schmal die Antwort, so breit sein Grinsen. „Den hab ich von meinem Onkel abgegriffen. Da vorne geht es gleich mal rechts auf einen Parkplatz von so einem Supermarkt. Da kannst du ohne Stress parken."

Selbst das, was Ian für entspannt hielt, brachte mich ins Schwitzen. Ich brauchte ewig, bis der Mercedes nicht mehr völlig schief auf zwei Parkplätzen stand. Als ich ausstieg, zitterten meine Knie, meine Hände. Mein ganzer Körper bebte. Wie konnte ich nur etwas so Dummes tun?

Beinahe konnte ich Ian den Schlüssel nicht zurückgeben, weil meine Finger mir nicht mehr gehorchten. Ich war so vollgepumpt mit Adrenalin, dass ich in den Fluchtmodus schalten und wegrennen wollte. Statt nur nach dem Schlüssel, griff Ian nach meiner Hand und zog mich zu sich. Eng umschlang er meine Taille und drückte meinen Kopf an seine breite Brust.

„Alles ist gut, Rotschopf. Kein Grund zur Aufregung mehr. Wir waren zu Hause und uns ist nichts passiert. Wir wurden nicht erwischt. Du hast auch kein Kind überfahren oder so. Nicht mal eine Maus. Jetzt gehen wir nach Hause, bestellen uns was zu essen, machen uns ein Bier auf und ab morgen ist das hier nur noch eine Anekdote unter vielen, die man bei einem Bier seinen Freunden erzählt."

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