ACHTUNDSECHZIG

Der Samstag kam schneller, als mir lieb war und damit nicht nur der Abschied von Davis, sondern auch ein anstrengender Nachmittag im Projekt, dem ein langer Vormittag in der Bücherei voranging. Und meine Schonfrist, was Ian anging, war damit auch vorbei. Schon als ich die Tür aufdrückte, kam ich nicht umhin, seine Anwesenheit zu bemerken. Lautstark stritt er sich mit Zoe. Offenbar hatte er schon wieder Stunden geschwänzt und wenn ich Zoes Tirade richtig deutete, hatte sie es bereits gemeldet.

„Jetzt sitzt der Gute echt in der Scheiße", kommentierte Biscuit neben mir. „Gegen Bewährungsauflagen zu verstoßen, ist nie eine gute Idee."

Auf seinen Besen gestützt, mit dem er bis eben noch den großen Saal ausgekehrt hatte, blickte er in die gleiche Richtung wie ich. In dieser lag das Büro. Unter die zornige Stimme der Tänzerin und die aufgebrachte von Ian, mischte sich dort der Bariton von Nicolai in dem Bemühen die Wogen ein wenig zu glätten und mit Vernunft zu Ian durchzudringen, wo Zoes emotionale Art scheiterte.

Viel Erfolg schien der Russe mit seiner abgeklärten Art nicht zu haben, denn Sekunden später stürzte Ian mit einem „Ach leck mich!", aus dem Raum und rauschte an uns vorbei, ohne auch nur „hallo" zu sagen.

„Hat sich da jemand verzockt?", kommentierte Carter staubtrocken Ians rasanten Abgang. Biscuit nickte weise zu der Äußerung und fuhr dann mit dem Kehren fort. Mein Blick blieb jedoch an der Tür hängen, durch die Ian soeben verschwunden war.

„Alles okay?", erkundigte sich Carter leise, nachdem sich Elaine verabschiedet hatte und mit einem der anderen Mädchen in der Umkleide verschwunden war.

Ich zuckte ratlos mit den Schultern.

„Keine Ahnung. Ist grad alles ein bisschen viel. Am Dienstag hat er mir noch Hühnersuppe gebracht. Und jetzt kann er nicht mal hallo sagen?"

Carter hob belustigt einen Mundwinkel.

„Hühnersuppe?", echote er. „Na, das muss wahre Liebe sein", neckte er mich und legte tröstend einen Arm um meine Schulter. „Jetzt weiß ich endlich, warum ich noch immer Single bin. Ich dachte bisher, es reicht, gut gebaut zu sein."

„Katzenbabys, Carter. Das ist der Schlüssel zum Erfolg", wies ich ihn auf den Schwachpunkt seiner Argumentationskette hin.

„Wie jetzt?" Irritiert sah er mich an.

„Naja, heiße Typen gibt es im Internet zu Hauf, aber kaum haben sie ein Katzenbaby auf dem Arm, flippen die Frauen aus und liken wie verrückt. Welpen gehen aber notfalls auch."

„Nur damit ich dich richtig verstehe, Anna... Du siehst dir im Netz heiße Typen an?" Er zog tadelnd eine Augenbraue hoch. „Mit Katzen? Oder bist du eher der Hundetyp?", erkundigte er sich mit viel zu viel Interesse.

„Ich bin allergisch gegen Katzen", gab ich schnippisch zurück. Meine Hoffnung, ihn damit abzuwimmeln musste ich sehr schnell begraben. Seine nächste Aussage wirkte schon fast bedrohlich auf mich.

„Das beantwortet noch nicht alle meine Fragen, aber wir können später auf das Thema zurückkommen, wenn ich Elaine abhole. Mach's gut, Anna!"

Kopfschüttelnd sah ich Carter nach, wie er davonschlenderte. Gott möge mich davor bewahren, dass er dieses Thema weiter vertiefen wollte!

Gott hatte kein Mitleid mit mir. Pünktlich zum Ende der Stunde lehnte Carter an der gegenüberliegenden Wand des Tanzsaales und scrollte durch sein Handy. Als er mich rauskommen sah, schenkte er mir ein breites Lächeln.

„Du hast absolut recht. Hunde bringen es voll. Schau dir mal den Typen an. Der Vollpfosten hat Tausende Likes, nur weil er oben ohne mit seinem Köter auf der Couch kuschelt."

Etwas beschämt blickte ich auf das Foto und stellte fest, dass unter dem Bild „gefällt AnnaBanana und 15.431 anderen" stand.

„Der ist aber auch wirklich süß!", verteidigte ich mich, mein Like und all die anderen die das Profil von Chris so regelmäßig besuchten, dass es schon ans Stalken grenzte.

Konzentriert runzelte Carter die Stirn. Eine Weile ließ er das Foto und das Gesagte wirken.

„Also wer jetzt? Der Hund oder der Typ?", vergewisserte er sich schließlich.

„Beide?", schlug ich zaghaft vor.

„Das ist also dein Typ? Du stehst auf Blonde mit blauen Augen?"

„Nein, du hast es nicht verstanden, Carter. Ich steh auf Typen mit Hunden. Sie wirken männlich, aber trotzdem... verschmust. Ein Mann, der ein Haustier hat, wirkt zuverlässig. Er kümmert sich um ein ansonsten hilfloses Wesen. Das ist anziehend."

„Ich hab eine Schwester. Geht die auch als hilfloses Wesen durch?"

Genervt verdrehte ich die Augen. Carter war bestimmt kein Astrophysiker, aber so begriffsstutzig konnte er fast nicht sein.

„Du verarschst mich gerade, oder?", seufzte ich.

„An welchem Punkt hast du es gemerkt?" Er knuffte mich in die Seite. „Hat Ian eigentlich ein Haustier?"

„Nein, nicht dass ich eines bemerkt hätte, wieso?"

„Weil es einiges erklären würde."

Okay. Vielleicht war Carter doch Astrophysiker und ich hatte es lediglich nicht geahnt. Ich konnte ihm geistig grad in etwa soweit folgen wie ich ohne Brille gucken konnte.

„Was zum Beispiel?"

„Dass er unzuverlässig ist. Dass er unmännlich ist. Soll ich noch mehr aufzählen?"

„Nein, lass gut sein. Will kommt grade. Ich muss dann mal..."

„Hey Will! Sag mal hast du ein Haustier?", fragte ihn Carter sehr offensiv und ich ahnte Böses. Konnte sich bitte ein Loch auftun? Ein schwarzes, ein Wurmloch, ein Mauseloch. Ich nahm alles klaglos hin, wenn ich mich nur darin verkriechen durfte.

„Was für eine blöde Frage! Scotty. Du kennst ihn doch. Wieso?" Der arme Will war völlig arglos und Carter grinste verschlagen.

„Den Pitbull?", vergewisserte sich Carter, obwohl er genau wusste, dass der Köter, der regelmäßig vor der Bücherei rumlief, Will gehörte. Worauf zur Hölle wollte Carter raus?

„Er ist ein reinrassiger Stafford", verkündete Will voller Stolz. „Und ein braver noch dazu!"

Alles klar. Voll das liebe Hundchen. Solange, bis Scotty mit meinem Arm in der Schnauze zum Spielen in den Park lief. Ohne mich mitzunehmen. Carter warf mir einen langen Blick zu.

Oh. Mein. Gott. Bitte sag jetzt nichts blödes, Carter!

„Will ist dein Mann, Anna!", raunte mir Carter zu und ich war erleichtert, dass er es nur leise sagte. „Lass bloß nichts anbrennen!"

Anbrennen? Völlig entgeistert sah ich den Ex-Marine an.

„Bis du irre?", schmettere ich seine Idee flüsternd ab. „Scotty ist kein Welpe, das ist eine geladene Waffe auf vier Beinen! Flauschiges, langes Fell, Carter, aber keine Zähne die länger als meine Finger sind!"

„Gut, dass wir das geklärt haben, bevor ich einen riesengroßen Fehler mache. Ich dachte Welpe ist Welpe", flüsterte Carter ebenso leise. „Ich ruf dich später mal an, ja?"

Warum er das tun wollte, ließ er offen. Aber sicher ging es dabei nicht um Hundebabys. Vermutlich wollte er ein kurzes Update, wie ich zu der OP stand. Was das anging, blühte ihm eine Überraschung!

Hinter Will und Diego betrat ich den Tanzsaal. Kurz darauf folgten die beiden anderen Jungs.

„Gratuliere! Was ich so gehört habe, war euer Auftritt tadellos. Bin gespannt, was ihr mir heute für das Finale mitgebracht habt."

„Wir haben nichts", brummte Diego. „Außer der Mitteilung von Bella, dass sie raus ist aus der Sache."

„Wie kann sie raus sein? Ihr tretet Freitag auf!"

Diego schüttelte den Kopf.

„Macht wenig Sinn ohne Bella und so schnell finden wir auf keinen Fall einen Ersatz."

Mit einem Schlag war die Leichtigkeit, die ich eben noch mit Carter verspürt hatte Vergangenheit.

„Aber sie kann nicht so kurz vorm Ziel hinwerfen!" Empört warf ich die Arme hoch. „Warum tut sie das?"

„Es war ihr alles zu viel. Schule. Training. Nebenjob. Dazu noch ihr Freund der ständig jammert, dass sie sich nie sehen."

In einer Geste der Hilflosigkeit zuckte Will mit den Achseln.

„Wir wollten uns nur bei dir bedanken. Dass du uns unterstützt hast und so. War echt cool von dir."

Wie betäubt stand ich da. Bella war ausgestiegen. Ohne Vorwarnung. Oder vielleicht hatte es sich angedeutet, aber ich hatte es nicht bemerkt, weil ich mich krank im Bett verkrochen hatte, statt hier zu sein und sie zu unterstützen.

„Aber ihr seid schon so weit gekommen. Ihr hättet gewinnen können!"

Die Jungs hatten ihre Hände in den Hosentaschen vergraben und starrten auf den Boden. Ihnen war bestimmt klar, welche Chance Bella ihnen mit ihrem Abgang vermasselt.

„Kann man sie vielleicht noch umstimmen? Soll ich versuchen mit ihr zu reden und sie zu überzeugen, dass sie einen Fehler macht? Als Gewinner könntet ihr sicher einen Vertrag für eine Video oder in einer Filmproduktion bekommen. Das kann man nicht wegwerfen."

„Wie es aussieht kann sie es." Will klang bei seiner Feststellung völlig niedergeschlagen. „Wir haben heute Morgen echt alles versucht, sie umzustimmen. Ihr ist scheißegal, was aus uns wird."

„Und Ersatz? Habt ihr keinen Ersatz für sie? Kennt ihr nicht andere, die so gut tanzen wie sie?" Wobei sich die Frage erübrigte. Bella hatte ihren eigenen Stil. Mit ihren weiblichen Rundungen entsprach sie nicht dem landläufigen Tänzerinnen-Ideal. Genau das hatte sie aber so einzigartig gemacht. Zusammen mit ihrer superknappen Kleidung war sie im wahrsten Sinne einmalig. Insofern hatte ich meine Antwort bereits, ohne dass die Jungs antworten mussten.

„Naja", druckste Will zu meiner Überraschung herum. „Wir dachten, du könntest vielleicht..."

„Ich?" Meine Frage geriet zu einem erschrockenen Quieken.

„Ne, echt nicht, Leute! Ich hab gar nicht die Ausstrahlung und ich bin optisch auch nicht ihre Klasse."

„Anna, bitte, du musst!", mischte sich Diego ein. „Du bist unsere einzige Chance!"

Der flehende Ton und die hoffnungsvollen Blicke gingen mir durch und durch. Und dennoch konnte ich nicht zusagen, weil... ich schon lange wusste, was ich tun musste. Ich hatte nie wirklich eine Wahl gehabt. Dass ich vielleicht nur diese eine Möglichkeit hatte, für das Geld, das mir zur Verfügung stand eine außergewöhnliche medizinische Versorgung zu bekommen, hatte ich seit Tagen im Hinterkopf.

„Es tut mir leid, Jungs aber ich kann nicht. Ich werde am Donnerstag operiert."

Tiefes Schweigen senkte sich über den Saal.

„Wann wolltest du uns sagen, dass du uns nicht zum Finale begleiten wirst?" Wills Stimme triefte nur vor Abscheu. In seiner eigenen Enttäuschung gefangen konnte Will sich kein bisschen für mich freuen. Zum zweiten Mal an diesem Tag wurde er im Stich gelassen. Er konnte auch nicht ermessen, welche Gelegenheit sich mir bot. Im Angesicht seiner Niedergeschlagenheit fühle ich mich jedoch wie die letzte Egoistin.

„Es tut mir leid. Wirklich", wiederholte ich. „Aber jeder von uns bekommt irgendwann in seinem Leben eine Chance, die er nicht ausschlagen kann. Und am Donnerstag habe ich meine."

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